Mittwoch, 22. Juni 2022

Nazareth

Liebe Leser, falls Nazareth und die heiligen Stätten des Christentums dieser Stadt auf ihrer Wunschliste stehen, vielleicht im Rahmen einer Pilgerreise – seien sie gewarnt.

Es mag in Nazareth einige interessante Ecken geben, aber sonst ist der Besuch in Jesu Geburtsstadt ernüchternd. Die Altstadt ist heruntergekommen, in den Strassen rinnt schmutzig-braunes Wasser unklarer Herkunft. Die Fassaden und Gehsteige sind verrottet und nicht nur in den Hinterhöfen sammelt sich der Abfall. Gebäude sind schlecht unterhalten, die Stadt scheint chaotisch geplant. Alles in allem – eine stinkende, alles andere als einladende Stadt. Obwohl jedes Kellerloch zum Heiligtum deklariert wird, bleiben die Touristen aus. Der einst pulsierende Markt in der Altstadt ist verwaist. In den Kirchen knien einige verklärte Pilgerer vor den heiligen Altären und Ikonen, aber auch für sie empfinde ich keinerlei Art der Begeisterung, sondern eher Befremden.

Während dem Israelischen Unabhängigkeitskrieg (am Tag nach der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel 1948 rückten reguläre Armeeeinheiten der umliegenden arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak in das ehemalige britische Mandatsgebiet ein und griffen Israel an) erhielt Nazareth die Möglichkeit, sich zu ergeben, mit der Konsequenz, dass die etwa 17'000 Einwohner (davon etwa 60 Prozent Christen) in ihren Häusern bleiben konnten. Daraufhin kamen rund 20'000 arabische, meist muslimische Binnenflüchtlinge nach Nazareth.

In der offiziell ethnisch gemischten Stadt Nazareth leben heute über hunderttausend Einwohner, wovon etwa ein Drittel Juden und zwei Drittel muslimische und christliche Araber sind. Das macht Nazareth zur Stadt mit der heute größten Gemeinschaft arabischer Israelis in Israel. 

Die kulturellen Unterschiede zwischen den Ethnien sind haarsträubend: Der Übergang vom arabischen in den jüdischen Teil der Stadt, heute Nof Hagalil genannt, kommt einer Reise in ein anderes Land gleich. Hier sind die Strassen breit und sauber und die Häuser einigermassen modern und gut unterhalten, auch wenn Nof Hagalil nicht gerade eine der High-Society Städte Israels ist.

Im arabischen Teil der Stadt scheinen sich Auto-Rowdies uneingeschränkt austoben zu dürfen. Auffallend viele Autos der einschlägigen Marken rasen durch die engen steilen Strassen der Altstadt, sodass man als Fussgänger um sein Leben bangen muss, zumal man oft wegen der nicht vorhandenen oder nicht begehbaren Gehsteige gezwungen ist, mit den Rowdies die Fahrbahn zu teilen. Auch dass die Macho-Luxus-Karrossen überall da abgestellt werden, wo kein ausdrückliches Fahrverbot markiert ist, scheint hier keinen zu stören.
Damit einhergehend ist wohl das Ergebnis einer Studie im Auftrag des israelischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit, dass die Einwohner Nazareths von allen Bürgern Israels das größte Risiko haben, Opfer einer Straftat zu werden.


Schuld an der Misère der Stadt ist wohl hauptsächlich die arabische Stadtregierung. Der Disput „Warum sollen wir Steuern zahlen, wenn wir keine Dienste dafür bekommen?“ gegenüber „Wie sollen wir Dienste leisten, wenn keine Steuern bezahlt werden?“ ist so unlösbar wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Und das ist wohl nur eines der geringeren Probleme. In der Stadtregierung beschuldigt man sich gegenseitig über christliche Privilegien, welche die eine Front verteidige und islamischen Chauvinismus, den sich die andere Front zunutze mache.

Ich weiss nicht, was sich die ersten jüdischen Einwanderer oder die Staatsgründer Israels gedacht hatten. Hatten sie irgendwelche Vorstellungen, wie die unterschiedlichen kulturellen Werte der Völker, die hier zusammenleben sollten, in Zukunft zu überbrücken oder auch nur zu ertragen sein könnten? Bestimmt hatten sie keine Ahnung, welche Ausmasse die Probleme hundert Jahre später annehmen würden. Vielleicht dachten sie, die anderen Ethnien und die mit ihnen verbundenen Probleme würden sich mit den Jahren in Luft auflösen. Dabei ist genau das Gegenteil passiert.

Das Freiluftkonzert, welches wir am Donnerstagabend besuchten, war hingegen ein einschlägiger Erfolg, wie es von dem bekanntesten und beliebtesten israelischen Sänger Schlomo Artzi zu erwarten ist.

Während die Altstadt von Nazareth in einer Geländemulde liegt, ist das neue Amphitheater in Nof Hagalil (wo das Konzert stattfand) auf das umliegende Hügelland gebettet. An den meisten Sommertagen ist die Fernsicht aufgrund des Hitzedunstes schlecht, aber nachts ist es hier angenehm kühl und luftig und man kann in der Ferne den Berg Tabor, den See Genezareth und die Lichter Tiberias erkennen. Die markanten Umrisse des Berges Tabor in der Nacht erinnern mich daran, dass ich schon einmal in dieser Gegend „vorbeigekommen“ bin, anlässlich meiner Wanderungen auf dem Shvil Israel. Das entsprechende Foto ist schnell gefunden. 


Eine schöne Gegend! Schade, dass sowohl die Bewohner der Stadt als auch die zuständigen Behörden keinerlei Motivation, Initiative und vielleicht auch Möglichkeit haben, die Stadt auf Vordermann zu bringen.


Donnerstag, 16. Juni 2022

Von Basel nach Nazareth





Wie immer ist mein Besuch in der Schweiz von gemischten Gefühlen geprägt. Während der fünftägigen Reise durchlebe ich von himmelhochjauchzender Begeisterung bis zum dringenden Wunsch, möglichst schnell wieder zu verschwinden, das ganze Repertoire an Gefühlen, begleitet vom grossen Staunen eines Kindes über die Verschiedenheit der Orte, der Leben und der Kulturen.

Basel – was für eine wunderschöne Stadt! Ich flaniere durch die Altstadt, das Münster, die Einkaufsmeilen und bewundere den eindrücklichen Rhein, der breit und dominant die Stadt durchzieht und die zahlreichen Passanten und Touristen. Ich geniesse ein Schoggiweggli und Kaffee bei Sutterbeck. Einen feinen Flammenkuchen und ein Glas Wein am Spalenberg. Wie immer darf eine Rheinüberquerung mit der Fähre nicht fehlen. Ich bin begeistert von den langen Abenden, die die Bewohner Basels für ein gemütliches Chill-Out auf den Rheintreppen nutzen. Ich entdecke die perfekte Eiscreme von Gasparini. Meine Jahre am Basler „Gymi“ habe ich als eher bedrückend, geprägt von seelischem Durcheinander und Notenstress in Erinnerung. Für die Schöhnheit der Stadt hatte ich damals keine Augen. Jetzt dafür umso mehr.

Am Wochenende das Familientreffen im wunderschönen grossen Garten meiner Eltern. Es ist wie in einem klischeehaften französischen Film: ein langer gedeckter Tisch im Schatten eines riesigen Nussbaums, kühler Wein und feine Apero-Häppchen, im Hintergrund eine riesige Paëlla am Köcheln, fröhlich plaudernde Menschen, von den einige, um die filmartig kitschige Stimmung perfekt zu machen, auch noch französisch parlieren!

Am Sonntag reisen die Gäste ab, die Läden sind geschlossen und das Wetter schlägt um. Sturmartige Regenfälle stürzen auf uns hernieder. Ich fühle mich krank, eine Grippe oder Erkältung bahnen sich an. Ich treffe Leute, zu denen ich – obwohl sie Leben zu führen scheinen, die meinem ähneln – keinen Draht finde. 
Ich beginne wieder einmal zu ahnen, dass mir hier, in diesem Dorf in dem ich aufgewachsen bin, sehr schnell die Decke auf den Kopf fallen könnte.

 

Ein weiteres Familientreffen in kleinerem Rahmen, zum Abschluss sozusagen, dann fliege ich zurück in die Hexenküche Israel. Spätestens in Tel-Aviv, wo die Abfahrtstafel im Bahnhof um 18:54 einen Zug anzeigt, der um 18:51 abfahren „wird“ weiss ich, dass mich das Land des „Balagan“ wieder hat.

Leider habe ich aus der Schweiz ein völlig unnötiges Souvenir mitgebracht: Corona! Die Krankheit ist tatsächlich recht unangenehm, mit wechselnden Grippesymptomen, grosser Müdigkeit und leichter Atemnot, verläuft aber einigermassen erträglich, wahrscheinlich dank der Impfungen.

Etwa zehn Tage nach Ausbruch der Krankheit fühle ich mich fast wieder „wie gehabt“ und freue mich jetzt auf einen Wochenendausflug nach Nazareth, einschliesslich eines Konzertes am Abend und Übernachtung in einem vielversprechenden B&B.

Liebe Leser, ich werde die Gelegenheit nutzen und in den Kirchen Nazareths für uns alle beten! Dass wir von Corona und anderen Krankheiten verschont bleiben mögen, dass wir viel Eiscreme essen werden und überhaupt noch viele bereichernde Erlebnisse werden erfahren dürfen. Und dass vielleicht eines Tages auch in Israel Züge nach einem nachvollziehbaren Zeitplan fahren werden!

Donnerstag, 28. April 2022

Eine halbe Stunde Leben

Der heutige Tag steht in Israel für das Gedenken an die Opfer und Helden der Shoah.

Am Vorabend des Holocaust-Gedenktags sind Restaurants und andere Orte des Vergnügens geschlossen. In Schulen und öffentlichen Institutionen werden Gedenkanlässe abgehalten. Im Radio wird nur ruhige Musik gesendet. Die bedrückte Stimmung überschattet die ganze Woche.

Ich nehme diesen Tag sehr ernst. Ich arbeite heute zu Hause, aber für die Gedenkminute, die um zehn Uhr von Sirenen im ganzen Land begleitet wird, gehe ich nach draussen und stehe auf dem Gehsteig. Aber auch wenn ich mein ganzes Leben auf dem Gehsteig stehend verbringen würde, wäre es nicht genug, um der unmessbaren Gräueltaten am jüdischen Volk zu gedenken.

Im Fernsehen schaue ich mir die Berichte und Zeugenaussagen der Shoah-Überlebenden an. Wie jedes Jahr bin ich von neuem erschüttert über die unfassbaren und absurden Ausmasse der Vergehen.

Ich höre die Geschichte von David Leitner, dem Überlebenden, auf dessen Unterarm nicht nur eine sondern zwei tätowierte Häftlings-Nummern prangen, die eine davon durchgestrichen. Ein Schreibfehler? Nein, der Junge David wurde im letzten Moment aus dem Vorraum der Gaskammern geholt, weil ein Lastwagen abgeladen werden musste. Auf der Häftlingsliste war der Todgeweihte schon durchgestrichen, deshalb bekam der von den Toten Auferstandene später „einfach“ eine neue Nummer auftätowiert. Er überlebte mehrere Konzentrationslager und den Todesmarsch als Vierzehnjähriger. Von seiner Familie blieben nur er und sein Bruder am Leben.

Ich verfolge auch den offiziellen Gedenkanlass des Staates Israel. Jedes Jahr werden sechs Holocaust-Überlebende ausgewählt, um Fackeln zum Gedenken an die sechs Millionen während des Holocaust ermordeten Juden zu entzünden. Die jetzt noch Überlebenden waren Kinder zur Zeit der Shoah und ihre Geschichten sind himmelschreiend unfassbar. Hier sind die Geschichten der Fackelanzünder von 2022.


Der Premierminister Naftalie Bennett stellt in seiner Ansprache ein Gedenkblatt vor, das ich nicht werde vergessen können (Gedenkblätter werden von Angehörigen oder Bekannten zum Gedenken an Juden, die während der Schoa ums Leben kamen ausgefüllt. So sollen die Namen und Andenken jedes einzelnen Menschen verewigt werden, der sein Leben wegen Angehörigkeit zum jüdischen Volk hingab oder gegen den Nazifeind kämpfte):


Gedenkblatt für:


Familienname: Reich

Vorname: (Leer)

Geburtsort: KZ Auschwitz

Todesort: KZ Auschwitz

Todesursache: Von der Mutter erstickt

Alter: eine halbe Stunde

Besonders bedrückend empfinde ich es an diesem düsteren Tag, bei einem Blick in die deutschsprachigen Medien festzustellen, dass in Europa der Alltag einfach weitergeht, während uns hier vor Bedrücktheit das Atmen schwer fällt. Auf Facebook und Instagram werden (bestenfalls) Katzenvideos und Kochrezepte geteilt, als wäre dies ein Tag wie jeder andere.

Bezeichnenderweise findet der Holocaust-Gedenktag wenige Tage vor dem Unabhängigkeitstag statt. Die Unabhängigkeit des Staates Israel ist mit der Shoah, der tiefsten Trauer, dem Tiefpunkt der Geschichte, eng verbunden.

An diesem einen Tag sind meine allfälligen Zweifel am dreijährigen Militärdienst unserer Kinder wie weggewischt. Israel muss bestehenbleiben, es darf nie mehr Vergangenheit sein. Die Juden haben keinen anderen Zufluchtsort. Was Menschen auf der ganzen Welt darüber denken mögen, ist mir egal. Auf die Hilfe Anderer ist kein Verlass.

Dienstag, 19. April 2022

Unterdessen blüht der Rasen




Einen Instagram Account zu unterhalten mögen viele Leute, vor allem in meinem Alter, überflüssig oder nutzlos finden. Andere, zum Beispiel meine Tochter Lianne, sind im festen Glauben, dass sich in diesem Social-Media-Tool das reale Leben abspielt, während mein Leben nur eine Scheinwelt ist. Deshalb ist es mir wichtig, wenigstens einen kleinen Einblick in dieses Parallel-Universum zu erhaschen. Und es macht mir Spass, von meinen Töchtern über den Umgang mit der App zu lernen.

Vor allem aber fotografiere ich gerne und auf Instagram finde ich das passende Publikum für meine Landschafts- und Naturfotos. Im Gegenzug verfolge ich Fotos anderer Landschaftsfotografen, Interior- und Strick-Designerinnen. Zugegeben, man kann beim endlosen Scrollen verlorengehen, aber es macht ja auch nichts, wenn der Rasen einmal ein paar Tage blühen darf, anstatt gemäht zu werden. So habe ich zum Beispiel heute morgen erfreut festgestellt, dass ich eine gelbe Blumenwiese im Garten habe.

Auch beim Instagram-Durchscrollen gibt es erleuchtende Momente: Ein Foto, das sich von anderen abhebt und das mich innehalten und einige Sekunden einfach betrachten und verweilen lässt. Ein Blickwinkel, der vielleicht sogar ein Lächeln auf mein Gesicht zaubert.



Beim Blogs lesen oder Blogbeiträge schreiben verhält es sich ähnlich. Blogschreiben ist für mich Sprachgymnastik, Freude an Worten und Texten und manchmal auch Gedankenordnen. Blogs Lesen ist reines Vergnügen. Im Laufe der Jahre habe ich eine Leseliste bevorzugter Blogs zusammengestellt, die ich ab und zu durchschaue. Beiträge einiger Blog-Autoren lese ich immer, andere überfliege ich meist, je nachdem ob etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und manchmal stosse ich auf Beiträge, die mich einige Momente innehalten, nachdenken, schmunzeln und einfach geniessen lassen.

Zum Beispiel diese zwei:


Sonntag, 10. April 2022

Terror in Tel-Aviv



„Ich wünsche uns allen, dass wir von Trauer und Leid verschont bleiben. Ich denke an die vielen Betroffenen, in diesen Tagen des Terrors und des Krieges.“

Während ich am Donnerstagabend, zwar zeitgemäss aber nichtsahnend, diese Zeilen schreibe und veröffentliche, ist ein junger Mann aus Dschenin, der dazu erzogen worden ist, Terror und Tod mehr zu achten als das Leben, im Bus nach Tel-Aviv unterwegs.

Meine beiden Töchter probieren zur selben Zeit im Dizengoff-Shoppingzentrum Bikinis für den bevorstehenden Sommer an. Sie schicken lustige Fotos aus der Umkleidekabine. Etwas später gehen sie zum Dizengoffplatz, um Freunde zu treffen. Sivan wohnt nur wenige hundert Meter entfernt von dem Platz mit dem Springbrunnen. Wie jeden Donnerstagabend finden sich hunderte unbekümmerte junge Leute hier ein, um das bevorstehende Wochenende zu feiern.

Dann schlägt die Stimmung in Sekundenschnelle um. Schreiende Menschen kommen den Mädchen entgegengerannt. Sie rufen „Terroristen!“ und „Attentat!“ und reissen jedermann mit. In den umliegenden Bars und Restaurants werfen erschreckte Leute Tische und Stühle um und laufen um ihr Leben. Auch meine Töchter und ihre Freunde laufen davon. Sie suchen Schutz in einem Hauseingang. Dort verbringen sie einige Zeit, bis sie in einem Moment der vermeintlichen Sicherheit die weiteren paar Hundert Meter bis zu Sivans Wohnung wagen. Aus den Medien wird bekannt, dass der Terrorist in einer Bar das Feuer eröffnet und dass es bei dem grausamen Attentat Tote und viele Verletzte gegeben hat. Der Terrorist konnte entkommen und war auf der Flucht.

Die Bewohner Tel-Avivs werden gebeten, ihre Wohnungen nicht zu verlassen und sich von den Fenstern fernzuhalten. Im Netz kursieren Videos von Grossaufgeboten an Polizisten, Soldaten und Eliteeinheiten, die Strassen, Hinterhöfe und Wohnungen durchsuchen. Lianne wird klar, dass sie nicht zu dem im Dizengoff-Zentrum geparkten Auto zurückkehren kann und dass sie die Nacht bei ihrer Schwester verbringen wird. In der Wohnung befinden sich noch weitere Freunde, die Schutz suchen. Die jungen Leute machen die ganze Nacht kein Auge zu. Helikopterlärm und Gedanken an wahnsinnige Terroristen, die sich im Gebüsch des Hinterhofs versteckt halten und an schwerbewaffnete Soldaten, die jederzeit an der Türe poltern könnten, lassen sie nicht schlafen. 

Auch ich bleibe lange wach. Dann lege ich mich mit der unangenehmen Erkenntnis schlafen, dass es ein ungeheures Privileg ist, überhaupt in einem sicheren Bett zu liegen.

In den frühen Morgenstunden wird der Terrorist in Jaffa, wo er in einer Moschee Schutz gesucht hatte, gefunden und nach kurzem Schusswechsel erschossen.

Danach wähnt sich Lianne sicher genug, um nach Hause aufzubrechen. Sie geht in Richtung Dizengoff-Parking, am Ort des Attentats, an Scherben, umgeworfenen Stühlen und Tischen vorbei. Dabei wundert sie sich, dass Menschen unterwegs sind, als wäre dies ein Morgen wie jeder andere.

Das Durcheinander unserer Gefühle nimmt kein Ende. Bei Tagesanbruch offenbart sich, dass der Sohn von Eyals Cousin bei dem Attentat erschossen worden ist. Die unsägliche Nachricht lässt sich auf keine Art und Weise mit den Namen unserer Verwandten verbinden, die ich nie anders als lachend und gut gelaunt angetroffen habe. Es ist unfassbar. Wir sind erschüttert. 

Lianne trifft ein und am Nachmittag auch Sivan. Ich bin froh, dass sie mit heiler Haut davongekommen sind, aber mein Herz ist unendlich schwer. Wir sind mit dem Schrecken davongekommen und dieser steckt uns das ganze Wochenende tief in den Knochen. Während der Beerdigung am Sonntag wird das bisschen Schrecken zum hinfälligen Nichts angesichts des unermesslich tiefen Abgrunds, der sich vor Tomers Eltern, seinen Geschwistern und seiner Freundin aufgerissen hat. Für sie wird jetzt nichts mehr sein, wie es war.

Donnerstag, 7. April 2022

Unfall in Tansania (Tag 3)




Neve Shalom / Wahat al-Salam heisst auf hebräisch und arabisch "Oase des Friedens". Der Name steht für ein Dorf zwischen Tel Aviv und Jerusalem, in dem sich Juden und Palästinenser Land, Macht, Alltag und Administration teilen. An einem unserer Wandertage halten wir auf dem kleinen Friedhof des Dorfes inne, der über die Ebene zwischen den Jerusalemer Bergen bis an die Mittelmeerküste blickt.

Auf einem markanten Grabstein entdecken wir eine Aufschrift, die ich hier, frei übersetzt, wiedergeben möchte.


Haltet alle Uhren an
Stellt die Telefone ab
Lasst die Klaviere schweigen
Und die leisen Trommeln
Lasst die Trauergäste kommen
Flugzeuge sollen aufsteigen und in den Himmel schreiben
Sie sind tot

Legt den Tauben Trauerkrawatten an
Und den Polizisten schwarze Handschuhe
Sie waren mein Norden
Sie waren mein Süden
Sie waren mein Westen und mein Osten
Sie waren meine Arbeitstage
Und mein Ruhetag
Sie waren mein Mittag und mein Mitternacht
Sie waren meine Rede und mein Lied
Ich glaubte, die Liebe sei ewig
Ich habe mich getäuscht

Die Sterne sind nicht mehr gewünscht
Lasst sie erlöschen
Packt den Mond ein
Nehmt die Sonne auseinander
Leert die Ozeane aus
Fegt die Wälder leer
Nichts wird mehr sein wie es war


Wir lesen die hebräische Inschrift auf dem verwitterten Stein mehrere Male, bis wir sie allmählich begreifen. Zeile um Zeile entziffernd erahnen wir, dass mehr als ein „herkömmlicher“ Todesfall Grund für die immense Trauer sein muss, die mit diesem Grab verbunden ist. Als wir das Ausmass des Leids erfassen, stehen wir erschüttert an diesem Ort mit seiner spektakulären Aussicht.

Ein kurze Suche auf Google ergibt, dass das Grab und die Inschrift dem ehemaligen Leiter der Friedensschule Ahmad Hijazi und seinem Sohn Adam gewidmet sind, die vor zehn Jahren bei einem tragischen Verkehrsunfall im Urlaub auf Sansibar ums Leben gekommen sind. Mögen sie in Frieden ruhen.

Es ist nicht vermerkt, wer die Trauerzeilen geschrieben hat. War es die Mutter und Ehefrau Maram selbst oder hat jemand ihre tiefste Trauer für sie in Worte umgesetzt? Die Zeilen drücken tiefste Erschütterung aus, ein endgültiges, brutales und abruptes Ende. Unfassbar traurig und bar aller Hoffnung.

Ich wünsche uns allen, dass wir von Trauer und Leid verschont bleiben. Leider gibt es so viele Betroffene, in diesen Tagen des Terrors und des Krieges.

Bedrückt gehen wir weiter.






Freitag, 1. April 2022

Nina geht Baden (Tag 2)

In Israel werden die meisten natürlichen Quellen in menschengefertigten Becken aufgefangen. Das diente vermutlich einst zum Tränken der Tiere, aber auch um die Nutzung des Wassers für verschiedene andere Zwecke zu vereinfachen. Heute werden die Quellen in der Umgebung Jerusalems oft von religiösen Menschen für natürliche rituelle Bäder genutzt. So auch Ein Itamar, eine Quelle mit einladend klarem Wasser. 

Einige junge Männer sind gerade am Baden als wir eintreffen. Jana hat eine ausgeprägte Abneigung gegen alles Religiöse und während wir anderen Wandererinnen noch über das verführerisch blaue Wasser staunen, ist Jana mit zwei der offensichtlich religiösen Männern schon in ein lautes Streitgespräch verwickelt. Wir versuchen, die Streithälse auseinander zu bringen, denn wir möchten lieber in Ruhe das frische Quellwasser geniessen, als politische Fragen auszudiskutieren. Dann bitten wir die Männer, uns Frauen die Quelle für einige Minuten zu überlassen. Warm ist das Wasser bestimmt nicht, aber Nina scheint vom kühlen Nass völlig in den Bann gezogen. Das hellblaue Becken hat eine solche Anziehungskraft auf sie, dass sie – kaum sind die Männer hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden – splitternackt in das Becken springt. Sie scheint sogar vergessen zu haben, dass wir nur vor einer Viertelstunde einige Schulklassen überholt haben, die auf derselben Route unterwegs sind wie wir.

Nach dem Bad schwebt Nina in höheren Sphären. Sie ist überzeugt, dass das Quellwasser spirituelle Kräfte hat. Jana hingegen meint herablassend „Ach was, es ist einfach nur kaltes Wasser“.