Dienstag, 30. September 2025

Jerusalem



Gibt es eine packendere, eine widersprüchlichere, eine verrücktere Stadt als Jerusalem?
Unser Tag beginnt an einem Freitag zwischen den Feiertagen im lebendigen Chaos des Shuk Machane Yehuda. Wer das Gedränge nicht mag, sollte jedoch freitags besser einen Bogen um den Markt machen. Die engen Gassen sind von Menschen überfüllt. Berge aus frischem Obst und Gemüse locken, sowie ein vielfältiges Angebot an Gewürzen, Gebäck, Tee, frisch gemahlenem Kaffee, Halva und lecker riechenden exotischen Speisen. Ausserdem schiessen in den letzten Jahren hippe Bars wie Pilze aus dem Boden. Sie laden ein, bei einem Getränk und feinen Häppchen das Wochenende einzuläuten und das Treiben zu beobachten. Hier trifft die ganze Bandweite Jerusalems aufeinander: säkulare Geniesser, religiöse Juden beim Schabbat-Einkauf, arabische Verkäufer, junge Trendsetter. 
Nachdem wir einige Runden durch das Getümmel gedreht haben, verstauen wir unsere Einkäufe im Auto und spazieren in Richtung Altstadt.



Kurz vor dem Mamilla-Center machen wir Halt im Café Sira. Mehrere verwinkelte Räume sind über und über bedeckt mit Graffiti und Stickern, die keinen Zentimeter Wand blank lassen. Hier treffen sich vor allem linksliberale Studenten. Sie tragen Secondhand-Mode, sind kreativ tätowiert. Der Geruch von Marihuana hängt in der Luft. Am Tresen werde ich gefragt, ob ich meinen Cappuccino mit Soja oder Mandelmilch möchte. Wie auch immer – er ist stark und schmeckt perfekt.

Gestärkt laufen wir weiter bis zum Damaskustor, kommen aber zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt dort an. Ein Strom von muslimischen Gläubigen kehrt vom Freitagsgebet auf dem Tempelberg zurück. Tausende Männer und wenige Frauen und Kinder strömen in einem nicht abreissenden Strom aus dem Tor, das wir gerade betreten wollten. Viele der Männer tragen lange helle Gewänder und traditionelle Bärte, zu abrasierten oder sehr kurz geschnittenen Schnurrbärten. Die Frauen sind züchtig verschleiert, die Kopftücher liegen eng am Haupt und verdecken meisst auch die Stirne. Einige tragen Vollverschleierung inklusive dem Niqab, dem Gesichtsschleier. Der Gedanke, uns in entgegengesetzter Richtung in diese Menschenmenge zu stürzen, ist nicht gerade einladend und so setzen wir uns auf die Treppe vor dem Tor und bestaunen die überwältigende, so fremdartig wirkende Menschenflut. Der Strom nimmt kein Ende! Das war zu erwarten, denn das Freitagsgebet wird jeweils von mehreren Zehntausend Menschen besucht. Wir sitzen eine Weile da, dann ändern wir spontan unsere Pläne und besteigen den Bus in die ehemalige Deutsche Kolonie.



Dort, wo früher Güterzüge zum Hafen in Jaffa fuhren, verläuft heute auf den Gleisen ein belebter Fuss- und Radweg, flankiert von Food-Kiosken aller Art. Die restaurierten Templerhäuser tragen teilweise deutsche Inschriften. Nach dem orientalischen Gewusel am Damaskustor mutet die Stimmung hier entspannt und europäisch an. Junge, liberal-religiöse Familien schlendern vorbei. Sie verweilen in den Kiosken, trinken etwas, Kinder essen Eis. Die Männer tragen kurze Bärte und Kippa, die Frauen Hosen oder Röcke in allen Längen und Kopfbedeckungen aus modisch ins Haar geflochtenen Tüchern.
Nach einem kleinen Imbiss und einer Zickzack-Tour durch das Quartier wagen wir uns noch einmal in Richtung Altstadt. 

Durch das Zionstor gelangen wir ins armenische Viertel und vorbei an griechischen Klöstern und Gebetshäusern zur Grabeskirche. Unterwegs kaufen wir bei einem arabischen Strassenhändler frische Datteln. Der junge Mann vermutet in Eyal einen Araber und benennt den Preis für ein Kilo Datteln auf Arabisch mit „thamaniya“ – acht. Dann bemerkt er seinen Irrtum und korrigiert auf das Hebräische „esser“ – zehn.



Obwohl ich schon unzählige Male in der Grabeskirche war, überwältigt mich die Atmosphäre jedes Mal aufs Neue. Der besondere Lichteinfall, der Duft von Weihrauch, die Gesänge verschiedener christlicher Konfessionen, die alle an diesem Ort zusammenfinden – sie erzeugen eine zutiefst eindrückliche Stimmung von Exotik und Spiritualität. 
Gleichzeitig mit uns besucht ein kirchliches Oberhaupt die Kirche. Begleitet von mehreren schwarz gekleideten Würdenträgern mit langen Bärten, Talaren und kunstvollen Stolen wandelt die Delegation durch die heiligen Räume. Als sie durch das grosse Tor und über den Platz vor der Kirche prozessieren, trommeln ihre verzierten Pastoralstäbe in einem machtvollen Ritual rhythmisch auf den Jerusalemer Steinboden. Passanten bleiben stehen. Man kann das ungewöhnliche Schauspiel weder übersehen noch überhören. 

Um uns eine Meinung darüber zu verschaffen, wer in diesem Wettbewerb der skurrilen religiösen Traditionen am besten abschneidet, gehen wir zum Einbruch des Schabbats weiter zur Klagemauer. Der Platz füllt sich minütlich mit Männern, Frauen und Kindern in festlicher Kleidung.
Ein bekannter Rabbi trifft zum Gebet ein. Hier ist es nicht das rhythmische Aufschlagen wertvoller Bischofsstäbe, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht, sondern eine schwarze Limousine, die über den ansonsten verkehrsfreien Platz gefahren und sofort von einer Menschentraube umringt wird. Ein kleines, gebücktes Männchen entsteigt dem Auto und verschwindet, in einen Gebetsschal gehüllt und begleitet von zahlreichen Männern in schwarzen Anzügen und weissen Hemden, in der Synagoge.
Sämtliche Frauen auf dem Platz tragen lange Kleider oder Röcke, die sephardischen Männer schwarze Anzüge und Hüte oder einfache Kippot. Die aschkenasischen Orthodoxen hingegen tragen schwarze Kaftane, Kniestrümpfe und die charakteristischen Shtreimel-Hüte aus Pelz.



Am Ende des Tages fahren wir mit dem Taxi zurück, denn der öffentliche Verkehr ist nun wegen des Schabbat eingestellt.
Der redselige Taxifahrer winkt pragmatisch ab, als wir uns über die extreme ethnische und religiöse Vielfalt äussern. „Wir Jerusalemer sind das gewohnt“, meint er. „Jeder kennt seinen Platz, und so funktioniert das Zusammenleben.“ 
Ganz überzeugt bin ich nicht. Eher wirkt es, als lebten die Menschen hier auf einem Pulverfass, das jederzeit explodieren könnte.

Und doch – im historischen Vergleich ist die heutige Koexistenz bemerkenswert friedlich, trotz aller Spannungen.
Das war nicht immer so. In einer konfliktreichen Geschichte wechselte die Vorherrschaft über Jerusalem immer wieder zwischen den Religionen ab, wobei die anderen Religionen ebenso abwechselnd manchmal geduldet, manchmal unterdrückt und manchmal vertrieben wurden. Nachdem die UNO 1947 die Teilung des britischen Mandatsgebietes in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat beschlossen hatte, verhinderte das Königreich Transjordanien den palästinensischen Staat, in dem es sich 1948 das Westjordanland und Ost-Jerusalem gewaltsam einverleibte und bis 1967 besetzt hielt. Die Jordanier vertrieben die jüdische Bevölkerung, zerstörten alle Synagogen und verboten den Juden den Zugang zu ihren heiligen Stätten. Neunzehn Jahre lang gab es keinerlei jüdische Präsenz in der Altstadt. Auch Christen litten unter wirtschaftlichen und politischen Einschränkungen. Erst nach dem Sechstagekrieg erhielten 1967, unter der Verwaltung Israels, alle Religionen wieder Zugang zu ihren heiligen Orten.
Seither verwaltet Israel die Altstadt politisch, während die religiöse Verwaltung der wichtigsten muslimischen Stätten bei jordanischen Behörden liegt.

Jerusalem polarisiert. Es ist chaotisch, widersprüchlich, unruhig, voller Spannungen. Mystik und Spiritualität sprechen hier aus jedem Stein und sind zugleich gelebter Alltag. Jerusalem ist zweifellos ein ewiges Pulverfass. Mich persönlich fasziniert diese Stadt der Extreme immer wieder aufs Neue.


Keine Kommentare: