Donnerstag, 19. Juni 2025

Im Keim erstickter Optimismus

Der Wecker weckt mich nach fast sieben Stunden ununterbrochenem, süssem Schlaf. So viel und gut schlafen oft nicht einmal Menschen in friedlicheren Regionen. Der Tipp, nachts das Handy auf Flugmodus zu stellen, ist Gold wert. So schweigt mein Telefon auch während den Vorwarnungen nach Mitternacht, auf welche in unserem Dorf prompt kein Sirenenalarm folgt. Die Alarme in den Nachbardörfern höre ich dank des geschlossenen Fensters auch nicht.

Gestern war es tagsüber relativ ruhig und schon stellt sich bei mir heute Morgen ein vorsichtiger Optimismus ein. Die Anweisungen des israelischen Zivilschutz-Kommandos sind leicht gelockert worden, Zusammenkünfte von bis 30 Personen sind wieder erlaubt, die Schulen bleiben jedoch weiterhin geschlossen.

Nach einigen Tagen Pause vom Sport fahre ich kurz nach 6 Uhr dreissig zum CrossFit-Training im Nachbardorf. Die Sonne ist schon vor einer Stunde aufgegangen, aber der Horizont präsentiert sich noch in leuchtendem Rosa und Hellblau. Das Radio spielt ein mitreissendes israelisches Lied, ich drehe die Lautstärke auf und singe mit. Es ist das erste Mal seit Tagen, dass ich unser Dorf verlasse. Ich bin in bester Stimmung und fast bereit, die Aussage betreffend meiner Liebe zu Israel aus meinem letzten Blogbeitrag zurückzunehmen. Wenn das alles war, denke ich schon fast übermütig und vielleicht ein bisschen naiv, war es auszuhalten.

Um Punkt 7 Uhr beginnt der CrossFit-Trainer das heutige Training zu erklären. Um 7:02 schrillen in wunderbarer Koordination alle zur Seite gelegten Handys: Vorwarnung! Wir müssen uns in die Nähe eines Schutzraumes begeben. Der nächste Bunker liegt zwei Strassen entfernt. Wir sind zwar sportlich, aber jetzt gerade hat keiner der Trainierenden Lust auf einen 700-Meter-Sprint. So fahren wir mit den Autos zum öffentlichen Schutzraum des Quartiers. Die Hartnäckigen unter uns führen auf dem Rasen vor dem Bunkereingang unbeirrt das Aufwärmprogramm fort: Hampelmänner, Kniebeugen, Rumpfbeugen. Die Alarmsirenen erlösen uns, jetzt ist es Zeit, in den unterirdischen Bunkerraum hinunterzusteigen.

Etwa dreissig Menschen drängen sich zu dieser frühen Stunde in den 30 Quadratmeter grossen fensterlosen Raum. Jemand hat vorgesorgt, Matten liegen auf dem Boden, es gibt wenige Sitzmöglichkeiten, Wasserflaschen, einen Ventilator. Das Quartier am Dorfrand ist bei Joggern beliebt und so stossen weitere schwitzende Menschen in Sportkleidung zu uns. Den Bewohnern des Quartiers scheint die Abwechslung willkommen zu sein, sie mustern uns aufmerksam. Nur eine religiöse Frau hebt ihre Augen keinen Augenblick von ihrem Gebetbuch. Ein älteres Paar sitzt in einer Ecke auf ihren mitgebrachten Campingstühlen. Sie schwelgen mit geschlossenen Augen in Erinnerungen an bessere Zeiten. Man sieht den Schutzsuchenden an, dass sie aus dem Schlaf gerissen worden sind. Ein sehr umsorgter Junge liegt in einem Liegestuhl und wird von den Eltern sorgfältig zugedeckt, um den ungerechten Schlafunterbruch so angenehm wie möglich zu gestalten. Zwei arabische Gartenarbeiter fühlen sich vielleicht etwas deplatziert, aber keiner beachtet sie. Einige Hunde drücken sich beunruhigt an ihre Besitzer. Ein gutgelauntes Baby freut sich über den unerwarteten Ausflug mit seinem Vater, es lacht uns alle an. Ich setzte mich auf den Boden. Von draussen sind starke Booms vernehmbar.

Eine Viertelstunde später steigen wir nach oben und fahren zurück zum Trainingsraum. Wir schütteln die verwirrenden apokalyptischen Gefühle von uns ab und einigen uns auf ein verkürztes Training für die verbleibende halbe Stunde. Die Nachrichtenjunkies unter uns gucken jedoch zuerst in ihre Handys. 

Einige der Raketen trafen zivile Ziele, andere verfehlten oder konnten abgeschossen werden. Die eingeschlagenen Raketen haben große Zerstörungen zufolge. Es gab Einschläge in Wohn- und Geschäftsvierteln in Holon und Ramat Gan und vor allem wurde das Soroka-Krankenhaus in Berscheba direkt getroffen. Mindestens 60 Menschen wurden verletzt, das Krankenhaus muss evakuiert werden. 




Erst später, im Laufe des Tages, merke ich, wie sehr mir der Schrecken dieses Morgens in den Gliedern sitzt. Ich versuche zu arbeiten, bin aber vollkommen unkoordiniert und vergesslich. Nur Schmerztabletten verschaffen mir etwas Linderung gegen die verspannten Glieder.

In dem ganzen Chaos gibt es auch einige erfreuliche Nachrichten: Eine Freundin konnte mit ihren zwei Kindern Plätze auf einem Passagierschiff nach Israel ergattern. Wegen der Flugsperre ist die Familie vor einer Woche in Rumänien stecken geblieben und dann nach Zypern geflogen. Sie befinden sich in diesen Stunden auf der Heimreise.

Ach Israel! Wo sonst noch lassen sich Tausende auf Wartelisten setzen, um mit Rettungsflügen und -Schiffen in ein Land gebracht zu werden, in welchem mehrmals täglich lebensbedrohliche Raketen einschlagen? 



Dienstag, 17. Juni 2025

Hundert Sorgen weniger



Auf Instagram stosse ich auf ein Video von Menschen beim Rheinschwimmen im sommerlichen Basel. Dutzende, die sich treiben lassen. Ihre Köpfe sind nur kleine farbige Punkte, doch ich weiss, dass die Schwimmenden in diesem Moment glücklich sind. Eine weiss eingeblendete Zahl zählt von 100 bis 0 rückwärts und impliziert, wie sich in dem zauberhaften Nass hundert Sorgen im Nichts auflösen, bis die Badenden sorgenfrei bei der nächsten Rheinbrücke aus dem Wasser steigen.

Nachts um halb eins nähert sich Israel eine weitere Raketensalve aus dem Iran. Die Vorwarnungen auf dem Handy wecken mich erneut aus dem Tiefschlaf, doch die Sirenen in unserem Dorf bleiben ruhig. Ich habe das jetzt kapiert: Keine Sirene bedeutet – kein Rennen in den Schutzraum. Man muss die Handywarnungen einfach ignorieren. Doch ich bin, etwa eine Stunde nachdem ich mich schlafen gelegt habe, hellwach. 
Drehe mich schlaflos im Bett.

Denke an die Badenden in Basel. Die Bilder haben mich in meinem verwundbarsten Inneren getroffen. Ich sehne mich so sehr danach, mich in einem kühlen Schweizer Fluss treiben und dabei alle Sorgen und Ängste wegspülen zu lassen. Erfrischt und grenzenlos erleichtert aus dem Wasser zu steigen.

Tut mir leid, einst geliebtes Land Israel: Es ist aus zwischen uns. Ich habe mich entliebt. Ich bezweifle, dass wir uns einst eine Partnerschaft bis zum Tod versprochen haben. Mag sein, dass es feige ist, sich in schlechten Zeiten abzuwenden. Doch ich bin erschöpft, ich kann nicht mehr.

Zum Glück ist der Flugverkehr gesperrt, so bleibt mir wenigstens das Dilemma Gehen oder Dableiben erspart. 
Es gibt keinen Ausweg, ich muss da durch. 

So bleibe ich da, mit einer immensen, schmerzlichen Sehnsucht nach einer anderen, einer sorgenfreien Welt.





Montag, 16. Juni 2025

Kleinkram

Schon wieder sitzen wir nachts um halb drei Uhr im Schutzraum, obwohl es gar nicht nötig wäre. Wenn man schläft, sind die Warnnachrichten auf dem Handy wirklich verwirrend. Vorwarnungen, Warnungen der Regionen der persönlichen Wahl, Echtzeit-Warnungen vor Ort. Das Handy zirpt alle paar Minuten wie wild, ich schrecke auf und steuere noch schlafend in Richtung Schutzraum. Vor lauter Gezirpe merke ich gar nicht, dass ich keine Sirenen gehört habe. Wer besteht schon morgens um halb drei im Tiefschlaf einen Intelligenztest? Aber nicht nur ich bin verwirrt. Mitglieder der Gruppe unseres Wohnortes diskutieren am Morgen danach auf Facebook lebhaft, ob die Sirenen bei uns wirklich geheult haben oder nicht, denn wir hören auch die Sirenen der Nachbardörfer.

Alle paar Stunden heulen die Sirenen aber auch bei uns tatsächlich, vor allem nachts. Nur etwa neunzig Prozent der Raketen aus dem Iran werden abgefangen. Die eintreffenden Geschosse richten oft grossen Schaden an. Fast jeden Morgen wachen wir jetzt zu Nachrichten über Tote und Verletzte auf.

Viele Geschäfte sind geschlossen.
Im Supermarkt gibt es keine Eier mehr.

Die Hochzeit des Sohnes unserer guten Freunde wird auf unbekannte Zeit verschoben. Die Anzüge und festlichen Kleider hängen wartend im Schrank.

Zehntausende Israelis stecken wegen der Flugunterbrechung im Ausland fest und umgekehrt können ausländische Reisende nicht wegfliegen. Viele sammeln sich in Zypern oder Griechenland, in der Hoffnung, dass es dort Rettungsflüge oder andere Möglichkeiten geben wird, nach Israel zurückzukehren. Doch die Hotels sind ausgebucht, die Übernachtungsmöglichkeiten müssen Nacht für Nacht neu erkämpft werden. Unterdessen warten Kinder oder andere Familienmitglieder in Israel. Auf Facebook bilden sich Gruppen Verzweifelter, die sich in Reisegruppen organisieren: In Zypern werden Plätze nach Israel auf zwielichtigen Yachten offeriert, andere suchen Skipper für gemeinsam gemietete Segelboote, wieder andere wollen Israel auf dem Landweg über Jordanien oder den Sinai verlassen.

Man wird angehalten, nicht zur Arbeit zu fahren und in der Nähe von Schutzräumen zu bleiben. Wir sind fünf erwachsene Personen im Haus, die versuchen, irgendeine Routine aufrechtzuerhalten. Jeder sucht sich für die Arbeit im Heimbüro ein ruhiges Eckchen. Nur Lianne ist frustriert und verängstigt, als temporär angestellte Schulassistentin ist sie wieder einmal fristlos arbeitslos. Dazu kommen die Ängste vor den Raketen, dem Vernichtungswut des Mullah-Regimes und die ungewissen Zukunftsaussichten.

Alle wollen essen. Ich bin ständig am Putzen, organisieren, aufräumen. Dabei fühle ich mich völlig gelähmt. Die Situation ist apokalyptisch.

Am Nachmittag wagt das junge Paar eine Reise in ihre Wohnung in Tel-Aviv, um Kleider und einen weiteren Computer-Bildschirm zu holen. Sie staunen über die leergefegten Strassen und die freien Parkplätze im Überfluss. Aber kaum kommen sie an, schrillen die Sirenen. Sie lassen das Auto stehen und laufen in den nächstliegenden öffentlichen Schutzraum, zusammen mit Dutzenden Nachbarn, Kleinkindern und deren zahlreichen Haustieren im Schlepptau. Die unangenehme Erfahrung bewegt sie, früher zu uns zurückzufahren als geplant. Sie treten gerade ein, als es auch bei uns losgeht. Wir suchen erneut gemeinsam den Schutzraum auf. Trotz geschlossener Eisentüre hören wir die lauten Booms der verschiedenen Abwehrsysteme, Fenster und Wände rütteln.

Aber das ist alles Kleinkram. Wir sind froh, unversehrt zu sein. Die Situation ist ernst. Mit diesen Raketen ist nicht zu spassen. Jede Nacht gibt es Einschläge mit zahlreichen Verletzten. Wohnhäuser werden getroffen und brechen zusammen. Viele Menschen können nur noch tot geborgen werden.



Ein LKW-Fahrer macht Gebrauch von einem transportablen Schtutzraum






Samstag, 14. Juni 2025

Lagebericht

Gerade als ich denke, dass es nichts mehr zu schreiben gibt, weil uns der monotone Alltag wieder hat, geht der Wahnsinn von Neuem und erst richtig los. Das Spektakel hat seinen Auftakt in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag mit einer Reihe verwirrender Alarme: Zuerst zerreissen die Alarmsirenen in der Nachbarschaft die Ruhe der Nacht, dann gehen verschiedene, markdurchdringende Alarmtöne auf dem Handy los. Es sind nicht die bekannten Alarme der Heimatfront-App, die vor Raketen aus dem Jemen, dem Libanon oder aus Gaza warnen, sondern besonders beunruhigende Push-Alarme. Sie erreichen alle Handys, auch bei Leuten, die die App der Heimatfront gar nicht heruntergeladen haben (das ist an sich schon beunruhigend). Wir können die seltsamen, grellen Handy-Notwarnungen nicht einordnen und so finden wir uns Mitten in der Nacht im Schutzraum wieder, nur um kurz danach herauszufinden, dass das gar nicht nötig wäre. Eyals Bruder ruft an, um uns mitzuteilen, dass Israel einen lange geplanten Präventivschlag gegen iranische Atom- und Militäranlagen begonnen hat. Die Lage scheint ernst zu sein, der Bruder telefoniert Mitten in der Nacht aus dem Auto. Auf dem Beifahrersitz befindet sich meine Schwiegermutter. Sie ist aus dem Bett gerissen worden, um die kommenden Tage bei der Familie zu verbringen. In ihrer Wohnung in Netanya müsste die verwitwete 85-jährige sechs Stockwerke hinuntersteigen, um bei Alarm den einzigen Schutzraum des Mehrfamilienhauses aufzusuchen. 

Zu uns kommen im Verlaufe des Freitags die Frischvermählten aus Tel-Aviv. Wer kann, verlässt die Stadt im Zentrum, die das bevorzugte Ziel für die Raketenangriffe der barbarischen Despoten aus dem Iran ist. Ausserdem verfügen viele Wohnungen in den älteren Gebäuden in Tel-Aviv über keine eigenen Schutzräume und die Bewohner müssen bei Alarm in die öffentlichen Bunker rennen.


Unser eigener Schutzraum wurde in friedlicheren Zeiten zu einem Arbeitszimmer umfunktioniert, er ist klein und eng. Aber notfalls finden einige Personen der Wand entlang Platz. Wir haben Stühle hineingestellt, Wasserflaschen, Handybatterien und Notlampen.

In der Nacht auf Samstag feuert der Iran mehrere Salven ballistischer Raketen auf die israelische Zivilbevölkerung ab. Immer wieder reissen uns die Sirenen aus dem Schlaf.
Am Morgen erfahren wir, dass einige der Raketen nicht abgewehrt werden konnten. E
s gibt Tote, viele Verletzte und beträchtlichen Sachschaden.


Der Samstag verläuft ruhig, vielleicht aufgrund des schiitischen Feiertags im Iran. Wir betreiben die perfekte Realitätsflucht: Den ganzen Tag gehen Freunde der Kinder ein und aus. Sie sitzen im Garten zusammen, unterhalten sich, essen und trinken und spielen mit ihren Kindern. Die unerwartete familiäre Quality-time ist erfreulich, doch die Anspannung bleibt. Ist es die Ruhe vor dem Sturm? 

Am Shabbatende richten wir für die offizielle Durchsage des Armeesprechers den TV-Projektor in der Stube ein. Diese Woche findet kein Unterricht statt und nur als unentbehrlich eingestufte Organisationen dürfen arbeiten. Der Luftraum bleibt bis auf Weiteres geschlossen, der Flugbetrieb ist eingestellt. Genaue Anweisungen für das Verhalten bei Alarm werden durchgegeben. Was erwartet uns diese Nacht?

Ich bete, dass wir alle geschützt bleiben und dass niemand zu Schaden kommt. Doch vor allem hoffe ich von ganzem Herzen auf den Erfolg der militärischen Massnahmen und dass sie nicht nur der Sicherheit Israels dienen, sondern auch dem Wunsch des iranischen Volkes nach Freiheit entgegenkommen werden.


Wir haben Angst schlafen zu gehen. Gerade ist wieder eine Vorwarnung eingetroffen, dass weitere Raketensalven unterwegs sind. Vor dem nächsten Alarm drücke ich noch schnell auf "Beitrag veröffentlichen".













Donnerstag, 5. Juni 2025

Ein fragwürdiges Jubiläum

Als unsere Zeitrechnung ins Jahr 2000 überging, befürchteten die Industrienationen ein globales Fiasko aufgrund weitreichender Softwareabstürze. Entgegen aller Erwartungen verlief der Übergang reibungslos, doch für mich persönlich brachte er in den ersten Tagen des neuen Jahres einen Lebens-prägenden Neubeginn.

Nach der Geburt des zweiten Kindes und zweieinhalb Jahren Babypause fand ich endlich eine neue Arbeit. Alle vorherigen Möglichkeiten hatte ich ausgeschlagen, denn nichts schien mir damit vereinbar, dass ich jetzt für zwei kleine Kinder und den Haushalt einer Familie verantwortlich war. Doch dann legte mir das Schicksal ein Angebot in einer angesehenen internationalen Firma vor die Füsse, das ich nicht ablehnen konnte.

Einige Monate nach Arbeitsanfang und Anstellung über eine Vermittlerfirma folgte die Festanstellung. Danach vergingen einige Tage, Wochen, Monate und – schwups! landete vor einigen Tagen eine E-Mail in meiner Mailbox, in der mir mein Arbeitgeber zum 25-jährigen Dienstjubiläum gratuliert.

Ich bin alles andere als stolz darauf, fast ewig beim selben Arbeitgeber hocken geblieben zu sein. Das zeugt nicht gerade von Flexibilität und Mut zum Abenteuer.


Wer will schon so einen Grabstein?

Immerhin darf ich mir anrechnen, dass ich in ferner Vergangenheit den Umzug in ein fremdes Land gewagt habe. Dieser Perspektivenwechsel hat meinen Lebenshorizont ins Unermessliche bereichert. Doch ich befürchte, dass auch diese Änderung bei mir nicht unbedingt mit Pioniergeist zu tun hatte, sondern eher mit reichlich Naivität und der Unfähigkeit, vorauszudenken.

Seien wir ehrlich – eine sehr wagemutige Draufgängerin bin ich nicht. Es gab da und dort einige Versuche, berufliche Änderungen vorzunehmen, doch schlussendlich schaffte ich den Absprung nie. Obwohl es ärgerliche Phasen, Mitarbeiter oder Vorgesetzte gab, waren diese Firma und mein Job einfach immer zu bequem und zu passend für mich. Bei persönlichen Belangen und Bedürfnissen, in Zeiten von Krankheit, der Geburt des dritten Kindes und überhaupt als Mutter von kleinen Kindern, kam mir die Firma immer sehr grosszügig entgegen. Dazu kommen das internationale Umfeld, der kurze Arbeitsweg, die vorteilhaften Bedingungen, der sichere Lohn, die ganz akzeptable Kantine – kurzum ein mehr als zufriedenstellendes Gesamtpaket.

Natürlich waren die 25 Jahre auch stets von beruflichen und persönlichen Änderungen geprägt. Ich bin fast zehnmal in ein anderes Büro in verschiedenen Gebäuden umgezogen. Als die Firma vor einigen Jahren gesundgeschrumpft und meine gesamte Abteilung aufgelöst wurde, bekam ich als einzige meines Teams eine weitere Chance und startete in einer anderen Abteilung in eine neue Karriere.

Ich konnte beruflich mehrere Male in die USA und verschiedene Länder Europas reisen. Ich bin auf Kosten der Firma Business-Class geflogen, habe in ausgezeichneten Restaurants gespeist und in den besten Hotels geschlafen. Was aber noch viel prägender war: Ich hatte die Möglichkeit, Menschen in den USA, in Deutschland, Frankreich, England und Kroatien als Arbeitskollegin und nicht als Touristin zu erleben. Ich habe mich in den Städten Europas in Menschenmassen eingereiht, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln frühmorgens zur Arbeit und abends wieder zurück zu pendeln. Ich habe in Firmengebäuden in Industrie-Vororten mit den Mitarbeitern in der Kaffeeküche geplaudert. In den Vororten von Philadelphia bin ich mit dem Mietwagen zur Arbeit gefahren und habe in amerikanischen Grossraumbüros braune Brühe in XXL Tassen geschlürft. Ich durfte sogar mehrere Male in die Schweiz reisen, wo die Firma in der Stadt meiner Gymi-Zeit einige Jahre über einen Firmensitz verfügte. Diese Erfahrungen brachten Abwechslung und sie begeisterten und erfüllten mich.

Seit meiner ersten Arbeitsjahre in der Firma haben globale Umwälzungen die Arbeit grundlegend verändert und ich habe die Digitalisierung einst manueller firmenspezifischer Prozesse erkundet und mitentwickelt. Später habe ich gelernt, mein Wissen weiterzugeben und bin daran gewachsen, ein Team zu leiten. Ich habe mindestens 15 direkte Vorgesetzte überdauert.



Nun habe ich hier schon fast meine eigene Abschiedsrede verfasst – aber leider muss ich noch drei weitere Jahre absitzen, bis ich rechtmässig in Rente gehen kann. Es wäre keine Katastrophe, früher aufzuhören. Zurzeit macht es Spass, nicht mehr unter Druck zu arbeiten. Ich muss keine Familie mehr miternähren und keine erfolgreiche Karriere mehr aufbauen. Ich arbeite mit dem Wissen, dass ich einfach gehen kann, falls mir jemand zu sehr auf den Wecker fällt.

Gerade in diesen Tagen bekomme ich wieder eine neue Vorgesetzte. Sie hat ihren Sitz in den USA und aufgrund der Zeitverschiebung werden wir nicht allzu viele gemeinsame Arbeitsstunden haben. Doch ich werde mir Mühe geben müssen, einen guten Eindruck zu machen. Mit 25 Jahren Dienstalter ist der Grat zwischen erfahrener und veralteter Erscheinung sehr schmal.

An schlechteren Tagen ist die grösste Herausforderung das Gefühl, dass sich alles ins Unendliche zu wiederholen scheint und dass mir manchmal einfach die Geduld ausgeht für neue Projekte. Dann bin ich versucht, draufgängerischen Arbeitskollegen, die glauben, die perfekte Lösung für irgendein Problem gefunden zu haben, den Wind aus den Segeln zu nehmen und auszurufen: Nehmt's mal locker, das war doch alles schon da!

Doch dann besinne ich mich. Natürlich werde ich auch bei diesem Projekt noch mitmachen. Einfach, weil ich es kann. Und ich werde auch weiterhin lernen, ausprobieren, Dinge hinterfragen und Prozesse erneuern.

25 Jahre mögen wie eine Ewigkeit erscheinen, doch sie waren gefüllt mit Wandel, Wachstum und wertvollen Begegnungen. Nichts Grandioses oder Umwerfendes, aber doch stetig, in kleinen, unauffälligen Schritten.


Montag, 2. Juni 2025

Zwischen Leere und Luftschutzalarm

Endlich ist wieder etwas Ruhe in mein Leben eingekehrt. Nach der Hochzeit und all den damit einhergehenden Umtrieben habe ich ein bisschen das Gefühl, dem Wahnsinn ins Gesicht gesehen zu haben. Umso mehr geniesse ich nun etwas, das man fast als Leere beschreiben könnte. Der Sohn zurück in der Schweiz, die jung Vermählten in Griechenland, Lianne in der frei stehenden Wohnung des Paares in Tel-Aviv. Niemand kommt. Keine Projekte. Ich faulenze.

Am Wochenende verschlinge ich das Buch "Meine Sprache wohnt woanders" von Chaim Noll und Lea Fleischmann. Gedanken von zwei nach Israel ausgewanderten Juden, über Deutschland und Israel. Lea Fleischmann schreibt über die Armut, in welcher sie aufwuchs "Sie lehrte mich, dass das geschliffene Wort es mit funkelndem Schmuck aufnehmen kann, und sie lehrte mich, dass der Geist die Armut überwinden kann." Die beiden Autoren sind wahrlich Wort- und Sprachkünstler, sie erschaffen zusammen in vollkommener Ergänzung ein sehr poetisches Werk.
Lea Fleischmann findet in Israel den Glauben und die Spiritualität. Die Freude, mir der sie ihr religiöses Leben beschreibt, ist authentisch, nachvollziehbar und fast ansteckend. 
Es tut mir gut, über die Liebe und die spirituelle Beziehung der Autoren zu Israel zu lesen, vor allem jetzt, in einer Zeit, da es nicht mehr einfach ist, das überrumpelte, geschundene, fast zerbrechende Land zu lieben. Mit meinen Schweizer Wurzeln empfinde ich es als immer bedrückender, in einem Land zu leben, das die halbe Welt vernichten will, während die andere halbe Welt der Meinung ist, Israel hätte den Krieg selbst zu verschulden oder wäre sogar der Aggressor. 
Das Buch wurde 2006 geschrieben und der Rückblick ist eine aufschlussreiche Zeitreise. Obwohl der Nahe Osten schon damals eine schwierige Region war, ist seit dem Pogrom und dem gegenwärtigen Krieg alles noch radikal komplizierter. Schon 2006 schreibt Chaim Noll "in dem eskalierenden Konflikt mit der arabischen Welt, der weitgehend unser Leben bestimmt, geht es für Israel um das Überleben als Staat und als Volk." In tiefgründigen Analysen beschreibt er eingängig das komplexe Israel in Einbezug der jahrtausendealten Geschichte. 
Unterdessen ist der "Konflikt" vollkommen eskaliert. Wir stehen nicht mehr am Abgrund – spätestens am 7. Oktober 2023 sind wir darüber hinaus gestürzt, seither befinden wir uns im freien Fall. Die gesamte Weltengemeinschaft rast dem Aufprall entgegen. Wie werden wir landen?
Ich weiss nicht, was Chaim Noll und Lea Fleischmann heute schreiben würden, wenn sie denn überhaupt noch Worte fänden. Doch ich blende diese Gedanken aus, versetzte mich zwei Jahrzehnte zurück und finde es mitreissend und sehr überzeugend, wie Lea Fleischmann auf Deutschland blickt und wie sie in Israel ihre Berufung gefunden hat.



So ruhig wie mein Leben ist die Situation in Israel dann aber doch wieder nicht. Immer wieder durchbrechen Düsenjäger die Stille. Vor allem abends rütteln ferne Detonationen am Fundament unseres Hauses und lassen die Wände und Fenster erbeben. Ich schrecke jedesmal hoch und wundere mich, dass alles noch steht. Und immer wieder heulen Sirenen. 
Einen Abend verbringen wir bei Freunden bei der Eröffnung eines zauberhaften Kaffeekiosks, den sie mit eigenen Händen aus einem verrosteten alten Anhänger erschaffen haben. Irgendwann rattern die Handys aller Anwesenden gleichzeitig. Gespräche werden unterbrochen. Eltern rufen ihre Kinder an. Der Ort, an dem wir uns befinden, bleibt vom Alarm verschont, aber die Sirenen der umliegenden Ortschaften heulen durch die Nacht.
Lianne arbeitet an diesem Abend als Babysitter in Herzliya. Sie erzählt am nächsten Morgen, dass die zwei älteren Kinder unaufgefordert in den Schutzraum gegangen sind, als wäre es das Alltäglichste auf der Welt. Das dritte Kind, das schon schlafend im Bett liegt, trägt Lianne in den Schutzraum. Zehn Minuten später legt sie es wieder in sein Bett. Ich bewundere meine Tochter für ihre unbeirrbare Ruhe und bin gleichzeitig schockiert, wie selbstverständlich israelische Babysitter so nebenbei als lebensrettende Schutzengel fungieren.








Montag, 26. Mai 2025

Ein Fest des Lebens – trotz allem


Unsere Tochter ist verheiratet, die Hochzeit liegt hinter uns! Wir blicken auf einen sehr turbulenten Party-Marathon und ein wunderbares Fest zurück.

In den letzten Tagen folgten die Ereignisse Schlag auf Schlag: am Dienstagabend besuchte Sivan die Mikve, die spirituelle Reinigung für Frauen vor der traditionell-religiösen Hochzeit. Mit meinem säkularen Lebensstil ist mir das rituelle Bad fremd. Doch dann empfinde ich das Eintauchen und die Segenssprüche als Verbindung mit den jahrtausendealten Traditionen des Judentums, das ich so sehr schätze und liebe, als zutiefst ergreifend. Im Anschluss insistieren Sivans Freundinnen auf das traditionelle Challah-Teigopfer, eine Zeremonie in der Frauen um den Segen für die neu gegründete Familie beten. Den lustigen und lockeren Abend mit viel Vorfreude auf den neuen Lebensabschnitt lassen die Freundinnen bei einigen Gläsern Wein bei uns im Garten ausklingen, während ich Schlafen gehe.
Am nächsten Tag putzen wir das Mehl weg und sind mit letzten Vorbereitungen beschäftigt. Am Abend treffen sich die Freundinnen wieder bis in späte Stunden bei uns im Garten – diesmal ohne traditionellen Hintergrund.

Sivan verbringt die Nacht bei uns und am Tag der Hochzeit überstürzen sich die Ereignisse. Die Visagistin und der Hairdesigner beginnen in den Morgenstunden ihr Wunderwerk, um aus Sivan die Schönste aller Bräute zu zaubern. Dass die Freundinnen die ganze Zeit zugegen sind, muss wohl gar nicht mehr erwähnt werden. Auch ein Fotografenteam ist dabei und kurz nach 14 Uhr treffen der Bräutigam mit Gefolge ein. Jetzt drängen sich schon weit über zwanzig Personen in unserem Garten und in der Stube, in welcher ich in den Tagen vorher wohlweislich alles umgestellt habe, um Platz für die Fachleute, die Begleitpersonen und für grosse Spiegel, Schminkkoffer, Frisierutensilien und -möbel zu schaffen. Am Nachmittag brechen Braut und Bräutigam für eine mehrstündige Fotosession in Richtung Veranstaltungspark auf. Jetzt ist der Moment für Lianne und mich gekommen, uns zu schminken und die festlichen Kleider anzuziehen. Als auch Eyal in Anzug und Krawatte parat ist, fahren wir los und lassen dabei ein ziemlich zerstörtes Haus zurück.

Die Hochzeit selbst ist ein wunderbares Fest mit mehreren Hundert Gästen und grandioser Stimmung. Unter jubelndem Beifall tanzen Braut und Bräutigam freudig unter den traditionellen Baldachin für die Hochzeitszeremonie. Die Freude und Erregung des jungen Paares sind ansteckend und lassen keinen Gast unberührt. Im Anschluss feiern wir mit den vielen Freunden des Paares ausgelassen bis in die Morgenstunden.

Es wird schon hell als ich mich mit schmerzenden Füssen und dröhnendem Kopf, aber überglücklich, für einige Stunden schlafen lege. Doch bald stehe ich wieder auf und beginne aufzuräumen. Für den kommenden Tag haben wir als kleine Afterparty die engere Familie eingeladen, die nun zusammen mit den neu eingeheiraten Angehörigen über dreissig Personen zählen wird. Der Garten muss auf Vordermann gebracht werden und am Mittag liefert eine Leihfirma Tische, Stühle, Sonnenschirme und Geschirr an. Am Samstag brechen wir früh in die Synagoge auf, wo das junge Ehepaar von der Gemeinde geehrt und gesegnet wird. Ab Mittag treffen die Gäste ein. Danach geht wieder alles so schnell, dass ich am Ende des Tages ganz durcheinander zurückbleibe, mit einem Haus, das erneut aussieht, als wäre ein Tornado durchgezogen. Doch wir räumen auf und dann wird es endlich ruhig. Die frisch Verheirateten packen ihre Kleider, Anzüge, Schuhe, Unmengen von übriggebliebenen Partyutensilien und Spirituosen ins Auto und verabschieden sich.

Ich denke, es ist verständlich, dass ich jetzt nur noch meine Komfortzone zurückhaben und für einige Zeit keine Personen mehr in unserem Haus sehen will, die nicht meiner Kernfamilie angehören.



Natürlich ist auch ein freudiger Anlass wie dieser von den Zeichen der Zeit geprägt. Während der Zeremonie unter dem Baldachin gedenken wir Nitzan. Ihre Mutter und Schwester weilen unter den Gästen. 
Auch ein Gebet für die kämpfenden Soldaten und für die Gefallenen wird gesprochen. 
Der Bruder des Bräutigams dient seit dem 7. Oktober-Pogrom fast ununterbrochen in Reserve. Seine Truppe ist in Gaza stationiert, für die Hochzeit kann er einige Tage Urlaub ergattern. 
Yotam und seine Freunde, die am Nova-Massaker durch ein Wunder dem Tod entwischt sind, feiern mit uns. Yotam, der mit einer Schusswunde davongekommen ist, wird im Juli heiraten. 
Die Eltern von Tomer, der im April 2022 bei einem Attentat in Tel-Aviv ermordet worden ist, beehren uns mit ihrer Anwesenheit. 
Jeder hier hat seine Geschichte, einige davon kenne ich, viele nicht. 
Alon tanzt die ganze Nacht unter grosser Anstrengung auf einem Bein und mit der neuen Prothese, immer umgeben und gestützt von seinen treuen Freunden. Als er sich erschöpft für einige Minuten eine Pause gönnt, tanzen seine Freunde mit seiner Beinprothese weiter. Das mag makaber scheinen, aber es versinnbildlicht durch und durch den Geist dieses Volkes: Es ist ein Volk, das sich nicht nieder kriegen lässt. Voller Optimismus werden sie Familien gründen, Kinder bekommen und Feste und das Leben feiern und wenn es sein muss, werden sie lachend und weinend zugleich mit Prothesen tanzen.



Irgendwann in den späten Nachtstunden betrachte ich das ausgelassen tanzende Grüppchen und bin zutiefst berührt von der Resilienz und der überbordenden, ungebrochenen Lebensfreude. Während der Judenhass in Form von verdrehten Narrativen, Verleumdung und jeglicher Realität entbehrenden Behauptungen auf der ganzen Welt eskaliert, weiss ich, dass wir – dieses Volk, und ich mit ihm – auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Mögen die jungen Leute hier viele Kinder gebären, sie in Liebe grossziehen, mögen sie Gutes tun und über alles Böse siegen! Mögen ihre Kinder in Frieden und Sicherheit leben und mögen sie der Menschheit ein Licht im Dunkeln sein!



Montag, 19. Mai 2025

Big Glilot

Am Samstagabend entführen mich meine Töchter nach "Big Glilot", den neuesten Mega-Shoppingtempel in Israel. Hier locken unzählige weitläufige Läden in zweistöckigen Gebäuden in Form einer architektonisch raffiniert geplanten kleinen Stadt. An diesem Samstagabend ist der sensationelle neue Einkaufspalast proppenvoll. Kauffreudig flanieren die Israelis auf europäisch chicen Promenaden, zwischen plätschernden Zierbrunnen und -becken, Ruhebänken und auf Galerien mit Balustraden in elegantem Design. Sie pilgern in Scharen herbei, vergnügen sich in den Läden und Restaurants und stehen willig vor den Ankleidekabinen und Kassen zu Dutzenden Schlange. 


Ich bin überwältigt von den Menschenmassen und der Grösse und Eleganz des Einkaufszentrums. Gleichzeitig wundere ich mich, warum gerade mehrere Fluggesellschaften ihren Flugstopp nach Israel verlängert und damit meinen Schweizer Hochzeitsgästen endgültig die Anreise an unser Fest am Donnerstag vereitelt haben. Sieht so etwa ein gefährliches Touristenziel aus? 

Schwarz gekleidete Angestellte schweben auf elektrischen Rollern über die Gehwege, beantworten Fragen, geben Auskunft und lesen den Besuchern jeden Wunsch von den Lippen ab. Wie überall in Israel sieht man auch hier viele Araber, erkenntlich vor allem an den züchtigen Kopfbedeckungen der Frauen. Doch hier scheint eine ganz andere Gruppierung von Menschen unterwegs zu sein, als ich sie aus meinem gewohnten Umfeld kenne: Die Kleider sind zwar sittsam lang, aber erkenntlich teuer und modern. Schuhe von Dior, Brillen und Taschen von Prada und Gucci werden zur Schau getragen. Ein Shoppingtrip nach Dubai war nie auf meiner Löffelliste, doch nun habe ich ihn offensichtlich trotzdem bekommen. 
Der Laden der Modekette Zara umfasst drei Stockwerke. Auf dem grossflächigen Vorhof stehen mehrere Luxuskarossen, die man gleich auch noch kaufen kann. Ich bräuchte eigentlich nur Nachschub für meine übliche (billige) Feuchtigkeitscrème, doch sogar mein gewohnter Drogeriemarkt ist hier zum Luxuspalast geworden. In der Eingangshalle werden nur teuerste Parfums angeboten. Das Parfum meiner Träume wird von einem breitschultrigen uniformierten Mann bewacht. Eingeschüchtert von soviel unerschwinglichem Luxus mache ich mich gleich wieder aus dem Staub. Die Crème kann ich ja anderswo kaufen. 
Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was für eine bizarre Parallelwelt! Das wirft Fragen auf. Wie viele Kleider und Schuhe kann man sich eigentlich noch kaufen? Hier kann niemand mehr übersehen, dass sich unser gesamtes Dasein nur um Geld und Materielles dreht. Der Messias ist schon da, wir warten vergebens! Diese Stätten sind die Kulttempel unserer Generation. 
Doch bei allem Kopfschütteln kaufe auch ich einige Dinge, die ich überhaupt nicht brauche. Wie könnte man entsagen? Alles riecht so verführerisch. Im Laden meiner Lieblingsmodemarke versuche ich viermal, zum Ausgang zu steuern – jedes Mal saugt mich die Versuchung in Form eines weiteren Kleidungsstückes wieder hinein. Irgendwann schaffe ich es doch, mit Hilfe meiner Töchter. Dann lassen wir diese surreale Kultstätte hinter uns und reisen in einer vierrädrigen Zeitmaschine wieder in unsere eigene kleine Welt zurück.

Nachts weckt mich die Alarm-App, wahrscheinlich um meine Frage zu beantworten, warum die Fluggesellschaften nicht nach Israel fliegen. In Tel-Aviv und Umgebung laufen Hunderttausende in die Schutzräume. Dank dem nächtlichen Weckruf erfahre ich, dass Yuval Raphael am ESC in Basel als Publikumsliebling den zweiten Platz gewonnen hat. 

Dann schlafe ich unruhig weiter. In wirren Träumen erscheinen mir Luxuskarossen in Dubai, ein Goldesel, Israelis, die nachts um zwei in Luftschutzkellern den ESC Sieg feiern, meine Töchter in Hochzeitskleidern, Palästinenser-Flaggen in Basel, jemenitische Raketen und Swiss-Flugzeuge, die vor der Küste Israels kehrt machen.
 
Am Morgen entpuppt sich alles als wahr. Wir leben in wahrlich verrückten Zeiten.





Samstag, 10. Mai 2025

Rami, Meister der Improvisation

Seit einigen Jahren lasse ich meine relativ kurzen Haare nur von der Coiffeuse meines Vertrauens in der Schweiz schneiden. Die zuvorkommende Bedienung und die absolut zufriedenstellende Leistung sind mir den höheren Preis wert. Die Coiffeuse ist begabt und technisch kompetent, sie hat ihr Zeitmanagement bestens im Griff und plant ihre Termine so umsichtig, dass ich nie eine andere Kundin antreffe. Die Atmosphäre im kleinen Salon ist ruhig und angenehm. Der Besuch beginnt mit einem Beratungsgespräch, in welchem die gewünschte Frisur basierend auf Erfahrungen und Resultate vom letzten Mal besprochen und im Detail geplant wird. Dann werde ich mit einer liebevollen Haarwäsche mit betörend riechenden Haarpflegemitteln verwöhnt. Beim Schneiden geht die Coiffeuse sorgfältig auf jede einzelne Strähne ein, sie arbeitet sich strategisch und gleichzeitig äußerst kreativ rund um meinen Kopf und setzt in präziser Arbeit ihre Vision um. Am Schluss ist meine Frisur immer perfekt, top modern, genau richtig in der Länge und ich fühle mich wunderschön.

Nun scheint einzutreffen, was ich befürchtet habe: Ausgerechnet für die Hochzeit meiner Tochter werde ich mich mit Coiffeur Rami in Netanya begnügen müssen, dem Meister der Improvisation.

In den vergangenen zwei Wochen hatte ich täglich die Flugangebote in die Schweiz unter dem Radar. Doch die Situation ist mit dem momentanen Aussetzen mehrerer Fluggesellschaften äußerst prekär. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass aus einem Sprung zur Coiffeuse in der Schweiz vor der Hochzeit nichts mehr wird. Und so betrat ich diese Woche mit mulmigem Gefühl Ramis Salon in Netanya, um mit ihm mein Haardesign für die Hochzeit in die Wege zu leiten.

Ein Besuch bei Rami in Netanya ist eine authentische israelische Erfahrung. In den bald 40 Jahren, in denen ich in Israel lebe, habe ich noch nicht in Erfahrung bringen können, ob es hier Usus ist, sich beim Coiffeur anzumelden oder nicht. Manchmal tue ich es, manchmal nicht - es macht überhaupt keinen Unterschied. Immer sitzen schon einige Frauen auf den wenigen Sitzgelegenheiten und warten, bis sie von einem der beiden Coiffeure, zwei Brüdern, bedient werden, und so auch ich. Rami wäscht mir die Haare so lieblos, dass mir seine Frau ernsthaft leid tut. Irgendwelche Wünsche betreffend der Frisur anzubringen, ist völlig sinnlos. Rami klopft höchstens einen flotten Spruch. Beim Frisieren vermitteln mir seine Körpersprache und sein Stil, dass er keinen Plan, keine Kontrolle und keine Übersicht hat. Er schneidet einfach drauflos, ganz nach dem Motto, irgendwie schaukeln wir das schon!

Ich habe enorme Mühe mit dieser demonstrativen Lässigkeit. Improvisation und Nonchalance mögen ja gut und schön sein, sind aber einfach nicht immer angemessen. Wenn ich mich zum Beispiel einer komplizierten Herzoperation unterziehen muss, finde ich Kompetenz und Präzision wichtiger. Ebenso bei meiner Frisur. Aber Rami fährt mir mit der Schere ins Haar, dass mir der Atem stockt. Er wirft die Schere locker von Seite zu Seite, schneidet hier ein bisschen und da ein bisschen. Unterdessen unterhält er sich mit den anderen Kundinnen, Bekannte kommen vorbei, um mit ihm zu plaudern, und zweimal beantwortet er das Telefon. Die Nachbarin des Salons bittet dringend um Hilfe, sie hat eine Eidechse in der Wohnung. Ich rechne es Rami hoch an, dass er mich nicht mit der halbfertigen Frisur zurücklässt, sondern seinen Bruder auf die Rettungsaktion schickt.

Ehrlicherweise muss ich anfügen, dass ich mit dem Resultat meistens überraschend zufrieden bin, sonst käme ich garantiert nicht mehr wieder. Als eingefleischte Schweizerin finde ich einfach das Gefühl, etwas nicht wenigstens einigermaßen unter Kontrolle zu haben, sehr beunruhigend. 

Während ich bezahle, bläue ich Rami ein, dass er sich ja meinen geplanten Besuch am Tag der Hochzeit im Terminkalender vormerken und rot einrahmen soll. Dabei suche ich die Theke verstohlen nach einem Kalender ab – aber dort liegt nichts, nicht einmal ein Kugelschreiber.

Ja, ja, sagt er, ruf mich doch einfach zwei oder drei Tage vorher an. Jetzt weiss ich, dass er gar keinen Terminkalender hat.




Montag, 5. Mai 2025

Alles ruhig

Israel ist zur Zeit nicht gerade das Land, in welchem man sich einen entspannten und beruhigenden Urlaub erträumt. Trotzdem haben sich einige treue und mutige Familienmitglieder aus der Schweiz für das Hochzeitsfest unserer Tochter Ende Mai angemeldet. Ich gestehe: Damit sie keine kalten Füsse bekommen, antworte ich jetzt jeweils eher zurückhaltend, wenn sie mich am Telefon fragen, wie es uns geht. Man muss ja nicht jedes Mal die ganze Katastrophe ausführlich beschreiben. Immerhin lebe ich jedenfalls einen einigermassen geregelten und meistens ruhigen Alltag. Auch diese Woche wieder bestätige ich einem etwas verunsicherten Schweizer Gast, dass die Situation in Israel einfach wunderbar ist! Raketenalarme? Ach was! Nicht bei uns!

Aber - alle Facebook-Nutzer kennen das: Wenn man über irgendetwas spricht, hat man umgehend den Feed voll mit Angeboten für das just besprochene Thema. Mit den Raketen aus dem Jemen und allen anderen Himmelsrichtungen scheint es sich ähnlich zu verhalten.

Dass unsere Heimfront jetzt eine neue Funktion anbietet, die auf dem Handy zwei Minuten VOR dem Alarm eine Ankündigung schickt, habe ich schon gehört, aber noch nicht selbst erfahren. Dann ist es so weit: Die Warnung erscheint wie aus dem Nichts auf meinem Telefon, während ich fleissig im Heimbüro mit etwas ganz anderem beschäftigt bin. Ich schrecke auf und schaue noch einmal genauer hin. Wird jetzt wirklich ein Alarm folgen? Bei uns? Das ist bestimmt eine Fehlfunktion! Ich rufe nach oben, dass es in zwei Minuten Alarm geben könnte. Eyal ruft irgendetwas zurück, das ich nicht hören kann. Sonst keine Reaktion. Und jetzt? Ich arbeite weiter. Dann geht der Alarm tatsächlich los. Soll ich in den Schutzraum? Ehrlich gesagt, glaube ich an den Schutz dieses Raumes etwa so sehr, wie an den Erfolg meiner Osteopathin. Also bleibe ich im Heimbüro sitzen. Das Zimmerchen war früher mal eine Garage, ist aber trotz des Umbaus vermutlich das am meisten exponierte und am wenigsten geschützte Zimmer unseres Hauses.

Ich habe ein Abo bei einer Lotterie (Mif'al Hapais), bezahle monatlich meine Beiträge und habe in dreissig Jahren noch nie etwas gewonnen. Ich bin vor Zufallstreffern geschützt. Die Rakete wird nicht ausgerechnet auf diese Garage niedergehen. Ich arbeite weiter, verdränge dabei die Gedanken an das "Und wenn doch?"

Wie vermutet, gibt es auch dieses Mal für mich keinen Lotteriegewinn. Anderswo aber doch: Eine der Raketen, die die Huthis aus dem Jemen heute auf Israel abgefeuert haben, konnte nicht abgefangen werden, schlug in der Nähe des Ben-Gurion Flughafens ein und verursachte beträchtlichen Schaden. Als Konsequenz annullierten verschiedene Fluggesellschaften umgehend ihre Flüge von und nach Israel.

Nun hoffe ich, dass das Ganze nicht eskaliert. Die Plätze an der Hochzeit bleiben für die Schweizer Gäste auf jeden Fall reserviert.

In Netanya übrigens, wo sich die Gäste einquartieren werden, gab es auch dieses Mal keinen Alarm. Netanya ist – in dieser Hinsicht - immer ruhig. Und auch sonst ist bei uns einfach alles wieder wunderbar! Es ist nur eine Frage der Einstellung.

Sonnenuntergang in Netanya. Einfach wunderbar!












Sonntag, 4. Mai 2025

Stimmung

Krieg hier. Kriege dort. 
Ein Krieg zwischen Zivilisation und entfesselter Barbarei.
Unsere Kinder Soldaten wider Willen, alle traumatisiert. 
Totalitäre Ideologien, die überhand nehmen.
Despoten, die die Welt im Höllentempo an die Wand zu fahren scheinen.  
Konfuse wirtschaftliche Lage. Heute so, morgen anders.
Börse, die Achterbahn fährt. 
Dazu noch Extremwetter.
Überschwemmungen, Brände.
Jede Woche irgendwo eine Katastrophe.
Kaum geschehen, schon vergessen.
In den Medien Lärm und Hass, überall, auf alles.  
Desinformation, Zerrbilder und wahnhafte Ideen. 
Krieg der Narrative.
Weltweiter Antisemitismus in schockierendem Ausmass.
Dämonisierung Israels. 
Die Welt, die auf uns zeigt. 
Nicht sehen, nicht hören, nicht verstehen will. 
Das Schweigen vieler. 
Auch ein Bekenntnis.
Der wachsende Graben in der israelischen Gesellschaft.
Freundschaften, die brüchig werden. 
Die Geiseln, die immer noch dort sind. 
19 Monate in feuchten dunklen Erdlöchern. Täglich gefoltert.
Ihre Familien am Verzweifeln.

Alles wird zu gross, zu laut, zu viel.

Und ich mittendrin. 
Gehe unter. 
Will nichts mehr hören.
Will von allem nichts wissen.
Halte mich fest an Momenten, in denen die Welt kurz stillsteht: 
Ein Morgenspaziergang nach einer regenreichen Nacht. 
Der Duft des ersten Kaffees an einem neuen Tag.
Eine Melodie oder ein Lied, das mich fortträgt.
Ein Glas kaltes Wasser an einem heissen Tag.
Ehrliche Gespräche und lustige Augenblicke.
Familienmitglieder, die treu immer da sind. 
Die vielversprechenden Blüten im Garten.
Mangos bald, Pitanga und vielleicht Passionsfrüchte.

Klammere mich an jedes bisschen Normalität.
An jedes bisschen Hoffnung. 









Montag, 28. April 2025

Flagge zeigen



Diese Woche wird in Israel der Unabhängigkeitstag gefeiert. Das Land, die Häuser, die Strassen und die Autos sind jetzt schon mit israelischen Flaggen geschmückt.

Im Ausland werden derweil die israelische Flagge sowie auch die Nationalhymne aufgrund der kommunizierten Realitätsverzerrung, von Desinformation und, tja, dummem Herdenverhalten, als Provokation empfunden. Das hat Chris Faschon am eigenen Leib erfahren müssen. Der Schweizer Journalist und Autor jüdischen Glaubens wurde immer wieder in verschiedenen Formen belästigt, weil er eine israelische Fahne und die gelbe Schleife, die die israelischen Geiseln symbolisiert, im Fenster seines Hauses in Kreuzlingen hängen hat. Als Judenhasser im Februar einen Stein auf das beflaggte Fenster warfen, schrieb sogar die Thurgauer Zeitung darüber.

Ronaldo Goldberger, ein freischaffender Journalist aus Basel, berichtet auf seinem unabhängigen YouTube-Kanal über Aktualitäten aus jüdischer Sicht. In dieser Sendung spricht Ronaldo mit Chris über die Reaktionen, die er auf die israelische Flagge in seinem Fenster erhalten hat und über sein Gefühl in der Schweiz als Jude. Das Gespräch finde ich übrigens alleine schon unterhaltsam, weil sowohl Ronaldo als auch Chris in breitesten Schweizer Dialekten sprechen, der eine in Basler, der andere in Thurgauer Dialekt, wovon einiges sogar für mich nur schwer verständlich ist.

Hier schreibe ich einige Minuten von Chris Faschons Aussagen mit. Leider schafft es nicht einmal ChatGPT, vom Thurgauischen ins Hochdeutsche zu transkribieren. Das Deutsch ist dementsprechend etwas kurios, auch wenn ich mir erlaubt habe, ziemlich frei zu übersetzen.

"...die sagen dann immer, du bist mutig. Und ich denke mir, dass ich nur deswegen mutig bin, weil ich der Einzige bin. Es wäre überhaupt keine besondere Leistung (eine Flagge aufzuhängen), wenn die westliche Welt so ein grauenhaftes Verbrechen (das 7. Oktober-Massaker) vereint verurteilen und darauf bestehen würde, die Geiseln dort herauszuholen. Und wenn es UNO-Sondertruppen bräuchte, und jedes Land Leute einsetzen müsste. Ganz egal, wie lange es dauert: Wir holen sie dort raus! Und wenn alle Regierungen dastehen würden, mit Israel-Anstecker, oder zumindest der gelben Schleife, und sagen würden, das lassen wir nicht zu! Hier geht es um unsere Werte, um Freiheit! Es geht ja nicht nur um Israel und Hamas. Diese Baustelle ist viel, viel grösser. Hier wird unsere Demokratie angegriffen, und das bedeutet, dass man Rückgrat zeigen muss – Hier sind wir, bis hierher, und nicht weiter!
Wenn Leute mich für meinen Mut loben, dann antworte ich: Hier ist der Link, über den ich die Fahne bestellt habe, es ist ganz einfach, das nachzumachen. Und jeder, der es nachmacht, macht mich persönlich ein bisschen sicherer."

"Ich glaube, den Schweizern fällt es besonders leicht, zu schweigen. Die Helvetier sind im Allgemeinen nicht gerade mutig...
...Man kann sich das so lange leisten, bis der Gegner – man entschuldige, dass ich diese Menschen so nenne – bis die andere Seite eine bestimmte kritische Masse erreicht. Wenn die mal so und so viele sind, dann kann man auch keine Fahne mehr heraushängen oder sich positionieren, das geht dann nur noch mit Polizeischutz, sonst wird man auf der Strasse kaltgemacht. Und das in westlichen, freiheitlichen, demokratischen Ländern!"

"...Ich habe schon ein Messer im Briefkasten gehabt, so als Nachricht. Ich habe schon E-Mails erhalten, mit Bemerkungen, dass man für mich die Öfen noch einmal anheizen sollte. Ich nehme das zu einem gewissen Grad schon ernst. Aber, wie gesagt, nur sind wir in diesem beschaulichen Thurgau in einer Situation, dass nicht 150 Leute vor meinem Fenster stehen. Das wäre der kritische Punkt, in dem eine bestimmte Masse überschritten wäre, und ich könnte nicht mehr ohne Polizeischutz aus dem Haus. Solange das noch so ist, ist es wichtig, genau jetzt Position zu beziehen. Jetzt kann man noch etwas bewirken. Danach den Laden wieder unter Kontrolle zu bekommen, wird sehr viel schwieriger sein."



In der zweiten Maihälfte wird Yuval Raphael Israel am Eurovision Song Contest in Basel mit dem Lied "New Day Will Raise" vertreten. Die junge israelische Sängerin hat den Horror des 7. Oktober-Massakers überlebt. Sie war am Nova Musikfestival, als die Terroristen kamen und sie überlebte unter Leichen.
Nun kriechen die Judenhasser aus ihren Löchern – nicht das erste Mal am ESC. In den Medien ist die Hölle los, entweder wird der Sängerin das Erlebte nicht geglaubt, oder ihr Trauma wird ins Lächerliche gezogen, und damit das Trauma aller Überlebenden in Israel. Verschiedene Aktivisten und propalästinensische Bewegungen fordern gar den Ausschluss Israels vom Wettbewerb.

Ich wünsche mir von meinen Basler und Schweizer Freunden und Bekannten, dass sie sich gegen den Antisemitismus, gegen die Anti-Israel Bewegung positionieren, gerade während dem ESC, an welchem viele Touristen die Stadt besuchen werden. Bitte hört euch an, was Chris Faschon zu sagen hat und tragt einen Israel-Anstecker oder hängt eine Israelflagge in eure Fenster. Damit sich Juden und Israelis, Besucher wie Yuval Raphael und ihre Fans, oder Schweizer Juden wie Chris Faschon, in der Schweiz ein bisschen sicherer fühlen.

Tip: Wer sich mit Israel gerne kulinarisch solidarisch zeigen möchte, sollte im Eurovision Village den Stand von Hungry Pita aufsuchen.


Das ikonische Bild einer frenetischen Masse, in derer Mitte ein einziger Mann in Verweigerung des Hitlergrusses die Arme verschränkt.




Donnerstag, 24. April 2025

Wo verläuft die Grenze



Über meinen Besuch bei der Kosmetikerin und das etwas fragwürdige Resultat habe ich vor Kurzem berichtet. Nun bekenne ich: Ich habe nicht nur einen Besuch, sondern eine ganze Serie von Verschönerungsterminen gebucht! Warum? Ich bin sechzig, arbeite seit vierzig Jahren und kann mir das leisten. Man lebt nur einmal und muss ja nicht all das angescheffelte Geld den lieben Kindern vererben. Zwei Termine habe ich schon hinter mir. Jetzt ertappe ich mich öfter dabei, dass ich etwas länger und genauer in den Spiegel gucke: Sind sie etwas sanfter geworden? Etwas unauffälliger? Oder – oh Schreck – vielleicht sogar markanter? Die Falten. Sehe ich etwas frischer, etwas jugendlicher aus? Oder werde ich das wenigstens, wenn ich alle Termine hinter mir habe? Denn, falls nicht – habe ich damit ziemlich viel Geld aus dem Fenster geworfen. Die Gesichtsmassagen im kerzenbeleuchteten Raum sind jedoch wunderbar tiefenentspannend und können vielleicht – falls die Falten partout nicht verschwinden – als Alternative zu einer Behandlung von Trauma- oder Stresssymptomen betrachtet werden.

Wie es so ist mit über sechzig, betrüben mich ausser den Falten noch viele andere Sorgen und Zipperlein. Die Schmerzen in meinem linken Knie haben sich erfreulicherweise nach mehr als einem Jahr und viel Dehnungsarbeit endlich in Luft aufgelöst. Umso grösser war die Enttäuschung, als bei einem meiner ersten Laufversuche schon nach wenigen Hundert Metern die rechte Hüfte streikte. Ein stechender Schmerz zwang mich, umgehend in langsames Schritttempo überzugehen und vollkommen niedergeschlagen nach Hause zu hinken. Die Schmerzen blieben hartnäckig mehrere Tage und ich fühlte mich einfach nur noch alt. Es kann doch nicht sein, dass ich meinen geliebten Laufsport jetzt schon aufgeben muss! Ich habe auch keine Geduld mehr, noch einmal mehrere Monate auf Besserung zu warten. Jetzt musste eine sofortige Lösung her!

Leider bin ich aber auch geistig nicht mehr so flink, und so verwechselte ich Chiropraktik mit Osteopathie. Erst nachdem ich wild entschlossen einen Termin bei einer Osteopathin ergattert hatte, dämmerte mir, dass es sich dabei gar nicht um die gewünschte sofortige Wunderheilung handelte, die mir ein Chiropraktiker mit wenigen Handgriffen hätte besorgen können.

Und so lag ich also an einem Morgen bei einer Handauflegenden Frau auf dem Behandlungsbett. Sie klärte mich auf, dass sie mithilfe von Ertasten und Mobilisieren meinen Körper zu stimulieren und Blockaden zu lösen versucht. Ich gebe mir wirklich grösste Mühe, offen zu sein für alternative Behandlungsmethoden – schliesslich sind diese nicht nur mein letzter Rettungsanker, sondern kosten auch eine beträchtliche Summe Geld. Mit den herkömmlichen Orthopäden und Physiotherapeuten habe ich nämlich schon lange abgeschlossen.

Was soll ich sagen? Fühlte ich wirklich etwas Besonderes an den Stellen, an denen sie mich berührte? Spürte sie wirklich etwas, wenn sie behauptete, sie ertaste verhärtetes Gewebe? Oder band sie mir einfach unverfroren einen Bären auf? Hat sie eine besondere Gabe in ihren Händen oder hätten meine Hände dieselbe Wirkung? Reicht es, wenn sie von der Behandlung überzeugt ist, oder ist es zwingend notwendig, dass ich auch daran glaube? Viele Fragen. Die Antworten werden sich vielleicht irgendwann einmal ergeben. Vielleicht auch nicht. 
Mir war leicht schwindlig und heiss, als ich das Behandlungszimmer verliess. Das könnte aber auch mit dem "Chamsin" zu tun haben, der uns an diesem Tag trockene Luft und Temperaturen um die 40 Grad bescherte. Natürlich erklärte mir auch die Osteopathin, dass ich mehrere Behandlungen werde über mich ergehen lassen müssen, bis ich eine Besserung erwarten könnte.

Zum Abschluss bleibt eine Frage, die sich wohl jeder selbst beantworten muss: Wo verläuft die Grenze zwischen Selbstheilung, den Möglichkeiten der Alternativmedizin und Scharlatanerie?







Dienstag, 22. April 2025

Kapitel 5.3

Die Brille von Lior Rodaif aus Nir Yitzhak.
Lior fiel am 7. Oktober im Kampf gegen Dutzende Terroristen.
Seine Leiche wurde nach Gaza entführt und noch nicht zurückgegeben.


Kibbutz Or HaNer
Kibbutz Nir Am
Kibbutz Gevim
Moshav Yakhini
Kibbutz Mefalsim
Kibbutz Kfar Aza
Kibbutz Sa’ad
Kibbutz Nahal Oz
Kibbutz Alumim
Kibbutz Be’eri
Kibbutz Re’im
Kibbutz Kissufim
Kibbutz Ein HaShlosha
Kibbutz Nirim
Kibbutz Nir Oz
Kibbutz Magen
Moshav Ein HaBesor
Moshav Yesha and Mivtahim
Kibbutz Nir Yitzhak
Kibbutz Sufa
Moshav Pri Gan and Moshav Shlomit
Kibbutz Holit
Moshav Yated
Kibbutz Kerem Shalom
Kibbutz Urim

In jedem dieser Orte (und vielen mehr, dies ist eines der ersten Kapitel) sind am schwarzen Schabbat Dutzende Menschen niedergemetzelt oder – lebend, verletzt oder tot – verschleppt worden. Dutzende Häuser sind abgefackelt, ganze Quartiere in Schutt und Asche gelegt worden. Die detailliert beschriebenen Attacken sind verschieden, ähneln sich, reihen sich aneinander, verketten sich, verschwimmen. Ich bin mit Lesen noch nicht einmal halb durch und es hört einfach nicht mehr auf. Mord, Totschlag, Folterung, Schändung, Vergewaltigung, Brandstiftung, Raub, Plünderung, Zerstörung. Jede einzelne "Geschichte" in dieser Chronik der Ereignisse ist schockierender als die vorherige. Vieles in Echtzeit aufgezeichnet und über soziale Medien verbreitet. Gibt es in irgendeiner Sprache überhaupt ein Wort, das dieser Schlächterei gerecht werden könnte? 

Die schockierendsten der Gräueltaten sind in meinem Gedächtnis eingraviert und ich werde sie hier nicht wiedergeben. Einige der Ereignisse stehen in dem ganzen Wahnsinn aufgrund verschiedener Besonderheiten jedoch speziell hervor.

Eines der ersten Opfer des Kibbutz Kfar Aza war Modi Amir 67, der am 7. Oktober kurz nach 7 Uhr ermordet wurde. Modi war ein schneller Denker, der immer die praktischste Lösung fand. Als die Terroristen in sein Haus einbrachen, wies Modi seine beiden Töchter und seine Enkelin an, sich in der Dusche des Schutzraumes zu verstecken. Er selbst beschloss, im Hauptteil des Raumes zu bleiben, und hoffte, dass die Terroristen glauben würden, er sei allein dort. Die Rechnung ging auf, die Terroristen erschossen Modi, wobei seine Leiche den Eingang zum Badezimmer versperrte. Modis Töchter und Enkelin blieben einen ganzen Tag dahinter unentdeckt und wurden dann evakuiert.

Ähnlich Shlomo Ron, ein Mitbegründer des Kibbutz Nahal Oz, der in seinem Wohnzimmer erschossen wurde. Er hatte seine Frau, seine zwei Töchter und seine Enkelkinder angewiesen, im Schutzraum zu bleiben und setzte sich dann ausserhalb des Schutzraumes in einen Sessel. Die Terroristen, die in das Haus einbrachen, erschossen den 85-Jährigen sofort. Wie er es beabsichtigt hatte, gingen die Angreifer davon aus, dass der Rest des Hauses leer war, und verließen es.

Als freiwilliges Mitglied des zivilen Sicherheitsteams des Kibbutz Kissufim musste Shai Asher seine Frau und Kinder den ganzen Tag im Schutzraum des Hauses zurücklassen. Im Laufe des Morgens war der Kontakt zu ihnen für einige Stunden abgebrochen. Shai befürchtete das Schlimmste, fand die Familie aber unversehrt im Schutzraum. Bevor er das Haus erneut verliess, zerstörte er das Wohnzimmer, zerbrach das grosse Fenster und beschmierte Wände und Böden grosszügig mit Ketchup, um es so aussehen zu lassen, als hätte bereits ein Massaker stattgefunden. Dann zog er wieder los, um die Angreifer zu bekämpfen. Seine Familie wurde gerettet.   

Die Brüder Menachem und Elhanan Kalmanson aus Otniel im Westjordanland beschlossen, am 7. Oktober um 16:00 Uhr, nach Be'eri zu fahren, nachdem sie von den Anschlägen gehört hatten. Als sie gegen Abend im Kibbutz ankamen, liehen sie sich ein kleines gepanzertes Fahrzeug von einer von mehreren vor dem Tor versammelten Soldateneinheiten und fuhren hinein. In den folgenden 16 Stunden gingen sie von Haus zu Haus und retteten die Bewohner, die sich in ihren Schutzräumen befanden und brachten sie aus dem umkämpften Kibbutz heraus. Um sich als Israelis erkenntlich zu geben, sangen sie hebräische Lieder und Gebete. Die Brüder retteten Menschen aus brennenden Häusern unter Beschuss und nahmen bis zu 15 Personen in einem Jeep auf, der für 4 Personen gedacht war. Elhanan Kalmanson, 41, wurde erst am 9. Oktober von einem Terroristen, der sich versteckt hatte, getötet; sein Bruder überlebte.

Am späteren Nachmittag des 7. Oktober rettete die Sicherheitstruppe des Kibbutz Nir Am eine Gruppe von zehn palästinensischen Arbeitern aus dem Gazastreifen, die sich in einer Avocado-Plantage versteckt hatten, nachdem ihr Fahrzeug, das sie zu den Pomelo-Hainen von Nir Am brachte, von Hamas-Terroristen in die Luft gesprengt wurde.

Im Kibbutz Nahal Oz wurden zwei thailändische Arbeiter, die ursprünglich als entführt oder vermisst gemeldet waren, nach 6 Tagen auf den Feldern gefunden. Sie waren vollkommen schockiert und hielten sich nach all diesen Tagen immer noch versteckt.



Donnerstag, 17. April 2025

Countdown

Der Countdown läuft. Die Spannung steigt. Noch fünf Wochen. Fünf Wochen bis zur Hochzeit unserer Tochter. 
In diesen Tagen gehen die offiziellen Einladungen raus, an über 400 Gäste. Wer die genau alle sind, weiss ich auch nicht, aber so ist das in Israel üblich. Die festlichen Kleider sind parat, die Sandalen warten glitzernd im Schrank. In unserer Vorratskammer steht ein neuer zusätzlicher Kühlschrank, der demnächst mit Wein und Bier gefüllt wird, um dem Gästeansturm in den Tagen vor und nach dem Fest gerecht zu werden. 
Gestern verwöhnte ich mich mit einem Besuch bei einer Kosmetikerin, etwas das ich noch nie im Leben auf eigene Kosten unternommen habe. Die Behandlung war sehr angenehm und beruhigend. Im Liegen sah meine Haut dann tatsächlich fantastisch verjüngt aus. Leider hielt das Wunderwerk aber der Erdanziehungskraft im Stehen nicht stand und die Falten waren umgehend wieder da. Na ja, macht nichts, Hauptsache das junge Paar ist schön und strahlt an seinem grossen Tag! 
Heute steht noch Anzüge-Anprobe für die Männer auf dem Programm. 
Möge es nur immer so weiter gehen, mit den erfreulichen Besorgungen!





Mittwoch, 16. April 2025

Billy

Eine weitere Geisel konnte in diesen Tag aus Gaza nach Israel zurückgebracht werden. Leider handelt es sich nicht um eine der 59 menschlichen Geiseln, die seit 558 Tagen unter grauenhaften Bedingungen dort festgehalten werden, sondern …

Billy ist der 3-jährige Kavalier-King-Charles Spaniel der Familie Danzig aus Nir Oz. Die Hündin Billy entschlüpfte aus dem Schutzraum der Familie, als die Terroristen im Haus wüteten, danach war sie verschwunden. Es stellt sich heraus, dass sie von den Terroristen nach Gaza verschleppt worden war, vielleicht als Souvenir aus Israel für die Kinder. 

Zwei Familienmitglieder der Familie Danzig, Alex Danzig und Itzik Elgarat wurden am Tag des Massakers nach Gaza entführt. Sie wurden in Gaza ermordet, ihre sterblichen Überreste konnten vor Kurzem nach Israel zurückgebracht und beerdigt werden.

Verschiedene Organisationen in Israel kümmern sich seit dem 7. Oktober-Massaker auch um die vielen verschwundenen Haustiere. Familie Danzig suchte Billy mit Inseraten, unter anderem auf facebook im August 2024. Jetzt wurde die Hündin von der IDF Golani-Truppe, die in den letzten Tagen im südlichen Gazastreifen stationiert ist, gefunden und zur Behandlung nach Israel gebracht. Anhand ihres Chips konnte sie identifiziert werden. In Kürze wird Billy nach mehr als eineinhalb Jahren wieder mit ihrer Familie vereint sein!



Donnerstag, 10. April 2025

Nichts ist wie es war

Auf Sabine Ta'asa's Geschichte bin ich im Britischen Bericht gestossen. Aus persönlichen Gründen konnte ich nicht einfach weiterlesen, ich musste mehr über die Frau und ihre Familie aus Netiv HaAsara erfahren. Hier ist ihre Geschichte vom 7. Oktober 2023:

Or Ta'asa (17) war in den frühen Morgenstunden mit Freunden am nahegelegenen Strand Zikim, unmittelbar nördlich der Grenze zwischen Gaza und Israel. In einer ersten Welle schafften es acht Terroristen, über das Wasser aus Gaza nach Israel einzudringen (einige wurden abgewehrt). Or, vier weitere Jugendliche und ein Erwachsener versteckten sich in den öffentlichen Toiletten am Strand. Die Terroristen fanden die Flüchtenden und ermordeten alle kaltblütig. Kurz nach 06:30 Uhr telefonierte seine Mutter Sabine noch mit Or, sie hörte dabei schon das Schiessen im Hintergrund. Wenige Minuten später wurde Or von den Terroristen mit sechs (!) Kopfschüssen in der Toilettenkabine hingerichtet, kurz bevor sie die weiteren Jugendlichen in den anderen Kabinen niederstreckten. Das Ganze streamten die Terroristen life auf Telegram.

Etwa zeitgleich drangen weitere Terroristen in das Haus der Familie Ta'asa in Netiv HaAsara ein, wie von den Überwachungskameras detailliert aufgezeichnet wurde. Sabine Ta'asa schloss sich mit dem 15-jährigen Sohn Zohar im Schutzraum des Hauses ein. Die Aufnahmen zeigen, wie Gil Ta'asa, der Ehemann von Sabine, mit den zwei jüngeren Söhnen, Shay und Koren, alle erst gerade aufgewacht und deshalb noch in Unterwäsche, in einen anderen Schutzraum auf der Rückseite des Hauses eilten. Während Gil die 12- und 9-Jahre alten Jungen in den Bunker schob, warf einer der Terroristen eine Granate in Richtung des Bunkers. Gil stürzte sich auf die Granate, er wurde zerfetzt und rettete damit seine Söhne. Die Angreifer schossen Gil in den Kopf, um sicherzustellen, dass er tot war und führten dann die beiden verletzten, blutüberströmten und panischen Kinder in die Küche. Einer der Terroristen öffnete den Kühlschrank der Familie, trank aus einer Colaflasche und fragte die Kinder, ob sie Wasser wollen. Ein weiterer Terrorist benutzte das Telefon des älteren Jungen, um auf Facebook die Ermordung des Vaters zu posten. Dann zogen sie weiter und liessen die vollkommen schockierten Jungen in der Küche zurück, dem Jüngeren war einer der Augäpfel aus der Höhle gesprungen. Kurz darauf flohen die Ta'asa-Jungen aus dem Nebenhaus und rannten zum Haus ihrer Mutter. Sabine, die nicht wissen konnte, ob die Terroristen noch im Haus waren, öffnete unter Lebensgefahr die Türe des Schutzraumes, um ihre zwei verletzten Söhne zu sich zu holen. Von ihnen erfuhr sie, dass ihr Mann tot ist. Sabine versuchte aus dem Schutzraum auf allen nur erdenklichen Wegen irgendwelche Hilfe zu erhalten, der verletzte Sohn schien im Sterben zu liegen. Doch erst viel später konnten sie gerettet und evakuiert werden. Dass der ältere Sohn Or ebenfalls ermordet worden war, wussten sie damals noch nicht.




Auf YouTube gibt es ein längeres Video, in welchem Sabine über die detaillierten Abläufe dieser Stunden berichtet. Ich höre mir das Video an, ich bin paralysiert dabei, mein Herz rast und ich habe noch lange danach starkes Herzklopfen.

Sabine und ihre drei überlebenden Söhne leben zur Zeit in Netanya, also ganz in meiner Nähe. Es geht ihnen schlecht. Wie alle Bewohner der Kibbutzim in der Umgebung des Gazastreifens haben sie ihre gewohnte Umgebung, ihre Bekannten und Freunde verloren oder verlassen müssen, der jüngere Sohn ist auf einem Auge blind und sie sind alle stark traumatisiert.

Sabine Ta'asa kämpft heute nicht nur für die Genesung ihrer Söhne, sondern auch um internationale Anerkennung und Unterstützung für die israelischen Opfer, vor allem die Kinder. Ein Jahr nach dem Massaker sprach sie vor dem UNO-Gremium für Kinderrechte und drängte darauf, sich auf die israelische Jugend zu konzentrieren, nicht nur auf die aus dem Gazastreifen.

Diese Geschichte – eine von Vielen – lässt mich aufgewühlt und betroffen zurück. Während Sabine erregt erzählt, fiebere ich mit. Und dann – bin ich einfach nur schockiert, dass wir uns schon wieder im Alltagsmodus befinden. Mir wird bewusst, wie leicht es ist, eineinhalb Jahre danach die Opfer des Massakers aus den Augen zu verlieren.

Tausende Israelis sind am 7. Oktober durch die Hölle gegangen, sie haben alles verloren und kämpfen seither mit den Verletzungen, den Verlusten und dem Trauma. Wir hingegen – wie schnell wir in unsere alten Leben zurückgefunden haben. Wie schnell wir unseren Alltag, unsere Leichtigkeit und Selbstzufriedenheit wieder aufgenommen haben. Das ist nicht zu fassen. Dabei ist doch rein gar überhaupt nichts, wie es einst war. 



Gegen das Vergessen kann man unter anderem Details über alle Ereignisse auf dem digitalen Gedenkprojekt von KAN 7.10.360 nachlesen. Der Angriff auf die Ta'asa Familie ist hier ausführlich beschrieben.





Freitag, 4. April 2025

Die verhexte Pastamaschine



Im Rhythmus der Musik, mal schnell, dann wieder langsamer, verknete ich das Mehl und die Eier mit Hingabe zu einem geschmeidigen Teig. Dann, nachdem er unter einer heiss ausgespülten Schüssel geruht hat, walle ich ihn aus und verarbeite ihn liebevoll in bissgerechten Portionen Stück für Stück zu Farfalle, Ravioli, Fettuccine oder Pappardelle. Manchmal genehmige ich mir dazu einen Drink, der zusätzlich den Appetit anregt und mir einen leichten Kopf beschert. So kann ich mich stundenlang beschäftigen, frische Pasta zuzubereiten hat für mich therapeutischen Effekt. Äusserst wichtig dabei: Die Musik darf auf keinen Fall weggelassen werden. Ohne Musik wird Kochen zu einer rein industriellen Tätigkeit und das Essen wird fad und langweilig.

Am 6. Oktober 2023, dem letzten Tag einer anderen Epoche, bekam ich eine Pastamaschine geschenkt, die alles etwas einfacher machen und die Produktion steigern sollte. Natürlich musste ich das glänzende Wunderding gleich ausprobieren, und so verbrachte ich den Morgen des 7. Oktobers mit der Herstellung von Nudeln. Doch es war wie verflixt an diesem Morgen. Der Teig klebte, an der Maschine, an meinen Händen, die Nudeln klebten aneinander, und als ich versuchte, sie ein zweites Mal zu verarbeiten, lief die Angelegenheit vollkommen aus dem Ruder. Auch das Radio mit meiner geliebten Musik war verhext: Kein einziges Lied wurde zu Ende gespielt, alle paar Sekunden unterbrachen Raketenalarme aus dem Süden des Landes die Melodien. Aus der beruhigenden Beschäftigungstherapie wurde ein höchst ärgerlicher, klebriger Kampf. Ich verfluchte die Nudeln, die neue Pastamaschine und das Radio und zu guter Letzt artete alles in einem Fiasko aus und der klebrige Teighaufen landete im Abfallkübel.

Erst gegen elf Uhr begann ich aufgrund der Nachrichten und Whatsapp-Meldungen zu ahnen, dass nicht nur in meiner Küche etwas nicht so lief wie es sollte. Gegen Mittag fuhr Eyal höchst besorgt nach Tel-Aviv, um die dort wohnenden Kinder zu uns zu holen.

Unterdessen sind dieser Morgen und die darauffolgenden Tage Geschichte.


Im "7 October Parliamentary Commission Report" wird in den ersten Kapiteln der Ablauf der Angriffe auf die Kibbutzim an der Grenze zum Gazastreifen minutiös beschrieben. Wenn ich heute an diesen Morgen denke, bin ich absolut schockiert darüber, wie ahnunglos (aber vielleicht doch mit irgendeiner unerklärlichen Tiefensensibilität) ich damals in meiner Küche werkelte, während fast im ganzen Land alle Alarmsirenen schrillten und viele Menschen, vor allem junge, verzweifelte letzte Meldungen an ihre Angehörigen schickten. Der Bericht führt aus, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene gejagt und kaltblütig niedergestreckt wurden, aber er erzählt auch von vielen haarsträubenden Heldentaten und dokumentiert ausführlich, wie Menschen ohne zu zögern, mutig und selbstlos um die Leben ihrer Familien, von Mitbewohnern und sogar von Unbekannten kämpften. Sagit Levi Gelfarb, die Verantwortliche für Notfälle im Kibbutz Erez, sagt heute darüber: "Es waren 30 Stunden Hölle auf Erden, die nun in Geschichten erzählt werden. Und jede kleinste Geschichte innerhalb der Geschichten ist eine Welt voller Angst, Fügung und Schmerz."


Meine Pastamaschine ist natürlich auf ewig verflucht. Ich habe sie ab und zu gebraucht seit jenem Morgen, jedoch nie ohne daran zu denken, was anderswo vielleicht gerade geschieht, während wir uns nichtsahnend mit etwas ganz anderem beschäftigen.



Mittwoch, 2. April 2025

Eine neue alte Welt




Einige Gedanken und Fakten über Musik in meinem Leben:

Als ich ein Kind war, wurden in meiner siebenköpfigen Familie folgende Instrumente gespielt: Orgel, Klavier, Cembalo, Quer-, Sopran- und Altflöte, Saxophon, Klarinette und Geige. Habe ich etwas vergessen?

Ich selbst spielte einige Jahre Geige, mochte es aber nie. Am Tag, an dem meine Eltern mir erlaubten, mit dem Musizieren aufzuhören, verschwand die Geige aus meinem Leben.

Das Schicksal, die Natur, oder Gott - wer immer dafür verantwortlich ist - hat mir viele Talente in den Schoss gelegt. Ein musikalisches Gehör oder Musizieren scheinen nicht dazuzugehören.

Mein Vater spielte Flöte, Klavier und Orgel, er sang und war Dirigent (in Vergangenheitsform, weil er nicht mehr musiziert).

Meine Mutter erzählt, dass sie als Kind einmal etwas Sackgeld in eine Flötenstunde investierte. Als mein Grossvater davon erfuhr, bestrafte er sie für die unverantwortliche Zeit- und Geldverschwendung mit einer Ohrfeige.

Einige Jahre diente mein Vater in der Kirche unseres Dorfes als Organist. Wir Kinder durften manchmal die Messe auf der Empore verbringen. Dort staunten wir über die Orgelpfeifen in allen Grössen, die unendlich vielen Schalter, Hebel und Knöpfe der Orgel, die Fusspedale, Vaters Orgelfinken und den Rückspiegel, über den er mit dem Pfarrer kommunizierte. Ein Organist setzt zum Betreiben der Orgel den gesamten Körper ein und das Musizieren erfordert fast übernatürliche Koordination aller vier Extremitäten, die alle eine (oder sogar mehrere) Aufgaben haben. Mein Vater konnte zusätzlich dazu noch mit einem Auge uns Kinder überwachen.

In den Geigenstunden verlangte meine Lehrerin, dass ich meine Fingernägel mit einer riesigen Schere kürze, wenn sie zu lange waren. Es ist heute nicht mehr nachweisbar, aber in meiner traumatischen Erinnerung ist die Schere auch noch rostig.

Vor etwa einem Jahr habe ich beschlossen, meine musikalische "Karriere" wieder aufzunehmen und mir selbst das Flötespielen beizubringen. Unterdessen spiele ich schon ein ganz passables Sammelsurium an Liedern, zum Beispiel "Hatikva" (die israelische Nationalhymne), "Maos Zur", "Det äne am Bärgli", "Stille Nacht" und weitere.

Als ich vor einiger Zeit beschloss, mein neues Hobby zu vertiefen und Flötenunterricht zu nehmen, war die erste Stunde aufgrund eines sehr peinlichen Missverständnisses nach wenigen Sekunden schon zu Ende. Es stellte sich nämlich heraus, dass das hebräische "Chalil" (=Flöte) eher für Querflöte verwendet wird, während die Sopranflöte "Chalilit" (=Verkleinerungsform von Flöte) genannt wird. Die Querflötenlehrerin machte grosse Augen, als ich meine Sopranflöte auspackte. Dann lachten wir beide und grüssten uns freundlich auf Nimmerwiedersehen. Sprachschnitzer sind leider auch nach bald vierzig Jahren in Israel noch möglich.

Diese Woche bin ich dann doch noch in den Genuss einer ersten Unterrichtsstunde bei einer Sopranflötenlehrerin gekommen. Sie scheint keine Schere zu haben und hat mich auch sonst nicht geplagt. Im Gegenteil, der Unterricht hat mir Spass gemacht. Ich habe das Gefühl, ein Tor zu einer vollkommen neuen Welt aufgestossen zu haben und ich bin sehr neugierig, sie zu erkunden.







Sonntag, 30. März 2025

Inspirierend

Leser, die meinen Blog regelmässig verfolgen, wissen, wer Alon und was er für uns ist. Wer nachlesen möchte, was ich über seinen Weg seit seiner Verletzung am 14. Oktober 2023 geschrieben habe, kann einfach "Alon" in der Suchfunktion des Blogs eingeben.

Unterdessen ist Alon zu einer bekannten Persönlichkeit geworden. Er hat eine Modenschau für Amputierte initiiert und daran teilgenommen, er hält Vorträge und wird zu Talkshows eingeladen, er ist auf verschiedenen Ebenen aktiv und engagiert und er hatte sogar die Ehre einer Audienz beim Papst. Seinem Instagram-Account (alonkaminer1) folgen mehrere Tausend Follower. Alon ist ein bewundernswerter Mensch, offen, witzig und inspirierend. Er mag mehrere Extremitäten verloren haben, doch seine Lebensfreude, seine Tiefsinnigkeit und sein herausragender Humor sind ihm geblieben. Seine Geschichte ist eine Geschichte von unvorstellbarem Mut, Widerstandskraft und Hoffnung. Alon zu kennen ist eine echte Bereicherung und ich bin unendlich dankbar, dass er den Freundeskreis meiner Kinder prägt.

Seit einigen Wochen weilt Alon in den USA, wo ihm verschiedene Prothesen angepasst und für ihn produziert werden. Zwischen diesen Terminen reist Alon herum, geniesst das Leben als Tourist und hält Vorträge.

Dieses auf englisch abgehaltene Interview auf Youtube sollte man sich ansehen. Alon ist ein begabter, humorvoller, intelligenter und charismatischer Redner. 



Für diejenigen, die keine Lust haben, sich das einstündige Interview anzuhören (obwohl man die Reklamen oder weniger interessante Stellen überspringen kann), habe ich die inspirierendsten Aussagen mitgeschrieben und übersetzt.

34:30 Minuten:
Fragesteller: "Wenn du die Uhr zurückdrehen und diesen Tag ändern könntest, würdest du das tun?"

Alon: "Nein.
Mein Cousin hat mich das gefragt, als die Verletzung acht Monate zurücklag, und weisst du, meine Verletzungen sind sehr, sehr schwer, aber man kann sie in einen Rahmen einordnen, den man Bewegungseinschränkung nennt. Es ist schwer für mich, mich zu bewegen und bestimmte Dinge zu tun. Aber das ist natürlich die Kehrseite der Medaille. Auf der Habenseite steht die Tatsache, dass ich jetzt weiß, wie viele gute Freunde ich habe, was für eine wunderbare Familie ich habe, wie stark ich bin und wie stark ich sein kann, wenn es nötig ist. Ich habe die Macht, Dinge zu verändern und Veränderungen in die Welt zu bringen. Die Veränderung, die ich sehen will. Weil die Menschen jetzt zuhören und meine Geschichte andere Menschen inspiriert. Also ist es für mich ein guter Deal. Ich sage nicht, dass es einfach ist.
Natürlich hat die Frage auch heikle Aspekte. Wäre es nicht ich, wer dann? 
Oder gäbe es einen Deal, der alle einschliesst, so dass niemandem schlimme Dinge passieren würden? Das würde ich natürlich sofort annehmen.
Aber ich habe meinen Cousin gefragt: Könnte ich meine Erinnerungen behalten? Und er sagte: Nein, du würdest nicht wissen, dass es passieren könnte. Du würdest einfach dein vorheriges Leben leben. Ich antwortete: Nein, ich will meine Erinnerungen nicht verlieren. Denn jetzt weiß ich bestimmte Dinge und ich habe eine bessere Perspektive auf das Leben: auf Gut und Böse, Familie und Freunde, was ich mit meinem Leben anfangen will. In diesem Nebel herumzulaufen, nicht zu wissen, wohin man geht und was wirklich wichtig für einen ist – das ist es, was wir jetzt in der Welt sehen, richtig? Man lebt in seiner Filterblase mit lauter Fehlinformationen und jeder ist verwirrt und weiß nicht einmal, was er tun will. Was mich betrifft, so lebe ich jetzt jede Sekunde das Leben, das ich will. Ich tue nichts, das ich nicht will. Ich tue nichts, das ich nicht tun will."


53:30 Minuten
Alon: "Scheiss auf die Motivation! Disziplin ist die höchste Form der Selbstliebe. Wenn du einen bestimmten Ort oder Punkt in deinem Leben erreichen willst, musst du diszipliniert sein. Manchmal hat man Motivation, manchmal nicht. Aber entscheide dich vorher, wohin du gehen willst, und arbeite diszipliniert daran, denn es kommt nicht jeden Tag vor, dass du motiviert bist. Und die andere Sache, und ich denke, das ist für mich eine der wichtigsten Lektionen: Dinge brauchen Zeit. Alle haben mir das immer gesagt, aber glaube mir, die Dinge brauchen Zeit, länger als du vielleicht willst, aber auch weniger als du erwartest. Es wird irgendwo in der Mitte liegen. Du musst anfangen zu verstehen, dass die Veränderungen kommen werden, aber sie brauchen Zeit. Einige werden gar nicht kommen, und du musst einen Weg finden, sie zu überwinden. Das Wesentliche zu finden, das man im Leben will, und es sich zu holen, weißt du. Vielleicht sieht es nicht so aus, wie du es dir vorgestellt hast, aber lass mich dir ein Geheimnis verraten: Nichts wird so aussehen, wie du es dir vorgestellt hast, nicht ein einziges Mal in deinem Leben. Lass dich also nicht von deinen Vorstellungen leiten, sondern nimm dir Zeit, denke über das Wesentliche nach, übe Disziplin und erreiche deine Ziele, Schritt für Schritt."


58:00 Minuten:
Fragesteller: "Inspiration, das ist einfach, aber was macht man damit danach? Ich glaube, Leute werden sehr inspiriert sein, wenn sie dir zuhören, aber danach? Was sollen sie damit tun?"

Alon: "Nutze diese Energie - um eine Masse in eine andere Richtung zu bewegen, braucht man eine Menge Energie - nutze diese Energie aus der Inspiration, die du gerade erhalten hast, um eine Liste von Gründen zu schreiben, WOZU du bestimmte Veränderungen in deinem Leben willst. Wenn du die Gründe hast, lege die Liste neben neben dein Bett, damit du sie siehst, wenn du aufwachst und wenn du schlafen gehst. Gründe! Motivation und Inspiration kommen und gehen, aber Gründe bleiben, und wenn du keine Kraft hast, denke an die Gründe. Nicht WAS tue ich, sondern WOZU tue ich es. Wenn du dein WOZU hast, wirst du das WIE finden."