Mittwoch, 9. Juli 2025

Vorfreude mit Schatten

Auf diesem neu veröffentlichten Foto ist der 12-jährige Yagil Yaakov in Unterwäsche zu sehen, brutal von Terroristen misshandelt, unmittelbar nach seiner Entführung aus dem Haus der Familie im Kibbuz Nir Oz am 7. Oktober 2023. 
Sein Vater Yair war gerade ermordet worden, seine Leiche wurde nach Gaza verschleppt. 
Yagil musste 52 schreckliche Tage in Gefangenschaft ertragen, bevor er schliesslich im Rahmen eines Geiselaustauschs freikam. 
Der Leichnam seines Vaters Yair wurde erst vor wenigen Wochen gefunden und nach Israel zuruckgebracht.





Meine Sommerferien in der Schweiz rücken näher! Noch zwei Wochen! Ich freue mich, zähle die Tage. Ich sehne mich danach, meine Familie wiederzusehen, durch Schweizer Städte zu bummeln, zu Wandern – und vor allem: endlich für einige Tage die Last der Gedanken ablegen zu können, die sich in Israel rund um die Uhr um die elende Sicherheitslage drehen. Natürlich wird der Krieg in Israel nicht innehalten, nur weil ich nicht vor Ort bin. Doch die Leichtigkeit der Schweiz ist ansteckend. Nach einigen Tagen gelingt es mir meist, abzuschalten und einfach die Schweizer "Normalität" zu geniessen.

Leider überschattet ein nagendes Unbehagen meine Vorfreude. Ich weiss, dass ich in Europa etwas begegnen werde, das mir Angst macht. Pro-Palästina-Demos und steigender Antisemitismus sind das eine, von ihnen werde ich mich hoffentlich fernhalten können. Doch das ist nur die Oberfläche. Das eigentliche Problem sitzt tiefer. Es sind die harmlos klingenden Floskeln, die mich fassungslos machen.

"Ach, weisst du, Politik interessiert mich nicht. Ich verstehe diese ganzen Kriege wirklich nicht, der Nahost-Konflikt ist ja auch sooo komplex."

Fast immer stecken dahinter weiterführende Gedanken:

Der Konflikt ist komplex –
  • aber was sollen die Palästinenser tun, wenn ihnen immer mehr Land weggenommen wird?
  • die Hamas mögen Terroristen sein, aber die jüdischen Siedler sind auch militant.
  • aber der Krieg dort unten dauert schon Jahrzehnte. Die Gewaltspirale muss endlich durchbrochen und es müssen Verhandlungen auf Augenhöhe geführt werden.
  • aber der 7. Oktober ist jetzt 21 Monate her, das muss doch mal ein Ende haben.
  • aber Vierzigtausend ermordete palästinensische Kinder — ist das wirklich noch verhältnismässig?
  • aber man muss doch wohl Israel kritisieren dürfen, ohne gleich Antisemit zu sein.
  • aber hätten ausgerechnet die Juden nicht aus der Vergangenheit lernen sollen?

Meist hüten sich die höflichen Schweizer, mir gegenüber so etwas auszusprechen. Und wenn sie es manchmal doch tun – was kann man solchen Plattitüden entgegnen? Sie zeugen von totalem Unverständnis und Gehirnwäsche.

Ich weiss, wie die relativierenden Gedanken und ihre Steigerungsform, der Israelhass, zustande kommen: Jeder Schweizer Bürger bekommt seit Jahren ein feines stetiges Tröpfchen Anti-Israel-Propaganda verabreicht. Es reicht, hin und wieder eine Zeitung aufzuschlagen oder beim Autofahren das Radio oder zu Hause den Fernseher laufen zu lassen. Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Tröpfchen-Dosis noch beachtlich aufgedreht worden. Für Involvierte ist die offensichtliche Desinformation empörend, doch auf alle Anderen wirkt die Meinungsmache unaufhaltsam. Sie schafft einen moralischen Nebel, in dem Täter und Opfer, Angreifer und Verteidiger unkenntlich werden.

Aber ich lebe in diesem Land, das im Mittelpunkt aller Newsticker steht. Ich lebe in diesem Land, das im Nahen Osten seit Jahrzehnten um sein Überleben ringt und sich dabei noch rechtfertigen muss. Ich höre die Sirenen, ich lese täglich die Namen der Toten, ich kenne unzählige Menschen, deren Leben in Trümmern liegt. Ich weiss ein oder zwei Dinge über die Hintergründe. Und mir bangt und graut davor, wie die Realität in Europa ignoriert, verdreht, nicht verstanden oder nicht geglaubt wird.

Die Ausmasse der gegenwärtigen Anti-Israel-Propaganda lassen sich mit der antisemitischen Hetze im dritten Reich durchaus vergleichen. Wir sind (noch) nicht so weit, dass Juden wieder versteckt werden müssen – doch wir sind so weit, dass sich Juden in Europa nicht mehr sicher fühlen. Genauso wie die Menschen damals irgendwann glaubten, Juden seien "Ungeziefer", glauben viele heute, Israel sei an allem Übel im Nahen Osten schuld, oder bedienen das nicht weniger schlimme "Beide-Seiten"-Narrativ.
Es braucht nur ein tägliches, kaum merkliches Tröpfchen Propaganda – damals wie heute.

Übertreibe ich? Ich glaube nicht. Mein Leben in Israel, der Krieg, die ständige Bedrohung, all das beschäftigt mich Tag und Nacht. Ich kann nicht behaupten, dass ich dafür kein Verständnis bekomme, doch ich verzichte gerne auf das Mitgefühl, wenn mein Volk – und damit ich – im gleichen Atemzug mit völkermörderischen Milizen und Terroristen in einen Topf geworfen wird. Neutralität mag schön und gut sein, ist aber oft nur ein Deckmantel für Gleichgültigkeit und Ignoranz.

Doch damals wie heute gibt es in dieser Zeit des moralischen Zusammenbruchs eine kleine Minderheit, die unbeirrt weiss, was richtig ist. Einige wenige, die verstehen, dass Israel dieselben freiheitlichen und demokratischen Ideale verkörpert, die auch ihre eigene Gesellschaft tragen. Menschen, die sich mit Israel solidarisch fühlen, weil sie wissen, dass Israel für den Westen den Krieg gegen die Barbarei ausfechtet. Die wissen, dass uns freiheitliche Werte nicht in den Schoss fallen, sondern dass sie seit Jahrhunderten erkämpft worden sind und dass man weiterhin für sie einstehen muss. Menschen, die die Geschichte gut genug kennen, um zu wissen, dass das Judentum die Wurzel des Christentums ist – und dass ein Baum ohne Wurzeln nicht bestehen kann.

Kann ich es jemandem zum Vorwurf machen, nicht zu wissen, worum es geht? Wie bewahrt man sich eine eigene, unabhängige Sicht trotz Manipulation?
Es sind nur wenige, die sich nicht beirren lassen. Unter meinen Bekannten in Europa kann ich sie an einer Hand abzählen. Woher nehmen sie ihre Überzeugung? Was ist anders an ihrem moralischen Leitsatz im Vergleich zu dem der Relativierer und der Mitläufer? Ich weiss es ehrlich gesagt nicht.

Und was ist mit mir? Lebte ich in der Schweiz, zu welcher Seite würde ich gehören?

 

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Hier sind zwei Artikel zum Thema "Nahost", die aufschlussreiche Einsichten vermitteln. Sie sind beide schon etwas älter, aber immer noch sehr aktuell.






Montag, 30. Juni 2025

Ein wunderbarer Montag!





Liebe Leserinnen und Leser,

Hatten Sie heute Morgen das Verlangen, Ihren Wecker an die Wand zu schleudern? Haben Sie sich beim Gedanken an die beginnende Arbeitswoche die Decke über den Kopf gezogen? Schien Ihnen die kommende Woche aus der Perspektive des Montagmorgens wie ein unüberwindbarer Berg? Konnten Sie sich kaum aufraffen, überhaupt zur Arbeit aufzubrechen? Fühlten Sie sich erdrückt von der Last der wartenden Aufgaben und Projekte? Hatten Sie einen waschechten Montagmorgen-Blues?

Dann habe ich einen kleinen Geheimtipp für Sie:

Stellen Sie sich vor, Sie wären zwei Wochen lang – aufgrund von Zivilschutzvorschriften – ans Haus gefesselt gewesen. Sie dürften weder ins Büro noch irgendwo sonst hingehen oder fahren. Stellen Sie sich vor, Sie hätten all Ihre erwachsenen Kinder, deren Partner, vielleicht auch Enkelkinder und weitere Angehörige bei sich beherbergen müssen. Tag und Nacht. Zwei volle Wochen.

Denken Sie sich, dass Sie rund um die Uhr am Aufräumen, Waschen und Putzen wären, während Sie gleichzeitig im Homeoffice arbeiten müssten, stets mit dem Bemühen, den Eindruck völliger Normalität zu wahren. Stellen Sie sich vor, in jeder Ecke ihres Hauses sässe jemand mit Laptop, auf der verzweifelten Suche nach Ruhe und Konzentration.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten jeden Tag eine reichhaltige Mahlzeit für fünf bis zwanzig Personen auf den Tisch zaubern –, ohne dass Ihr Vorgesetzter merkt, wie sehr Sie jonglieren.

Und jetzt stellen Sie sich vor, dass Sie zu allen möglichen Nachtstunden aus dem Schlaf gerissen würden, um sich dann mit gereizten Menschen in unvorteilhafter Kleidung in einem luftdicht geschlossenen kleinen Schutzraum zusammenzudrängen. Dass Sie auch tagsüber alle paar Stunden ohne Vorwarnung alles stehen und liegen lassen und in den selben Raum rennen müssen. Dass Sie dort eine halbe Stunde ausharren müssen, in den Ohren ein unbestimmbares, fürchterliches Grollen und gewaltige Einschläge, die bis ins Mark erschüttern.

Nach jedem Alarm dürfen Sie sich nur kurz schütteln, um dann, möglichst unbeirrt, mit Ihren täglichen Verrichtungen fortzufahren – obwohl wenige Kilometer entfernt ganze Wohnviertel in Schutt und Asche gelegt worden sind. Sie verdrängen die Gedanken an diejenigen, die dieses Mal nicht überlebt haben. Sie blenden die Angst aus, dass es beim nächsten Mal Sie selbst treffen könnte, um weiter funktionieren zu können.

Ja, ich weiss, es waren "nur" zwei Wochen. Anderswo leben Menschen Monate oder gar Jahre unter solchen Bedingungen. Aber mir hat es gereicht, um meine Prioritäten zurechtzurücken.

Ich empfand es heute Morgen, nach zwei Wochen zu Hause, im Krieg, geradezu wunderbar, ins Büro zu fahren. Willkommen, schöner Montagmorgen! Wie aufregend, eine volle Arbeitswoche im Büro vor mir zu haben, was immer sie bringen würde! Was für ein wohltuend lebendiger Montagmorgenverkehr! Was für ein komfortables, klimatisiertes, ruhiges Büro! Wie aufregend, den Computer hochzufahren und die Software zu begrüssen! Was für eine fantastische Kaffeemaschine! Freundliche, gut gelaunte Kolleginnen und Kollegen! Und dann erst das Mittagessen in der Kantine! Einfach köstlich, ohne dass ich auch nur einen Finger hätte rühren müssen!

Was für ein großartiger Wochenanfang!
Was für ein wunderbarer Montag!




Sonntag, 29. Juni 2025

Freitag nach dem Krieg




Meine Schwiegermutter überrascht uns mit einem leuchtend roten Haarschopf! Die radikale Änderung ist auf ein missglücktes Experiment zurückzuführen. Bis vor Kurzem noch dezent in blond-grau, wirkt die neue Haarfarbe wie ein Feueralarm.

Am Freitag treffen wir uns bei der quirligen 85-Jährigen zum gemeinsamen Essen. Auch Eyals Brüder, meine Schwägerin sowie mehrere Enkelkinder sind da. Alle amüsieren sich über das Missgeschick und vor allem über die schockierten Gesichter der Gäste, die ihre Überraschung kaum verbergen können.
Ich selbst muss beim ersten Anblick kurz schlucken. Dann versichere ich jedoch höflich, dass ihr die neue Farbe eigentlich ganz gut steht. Nur meine Schwägerin nimmt wie immer kein Blatt vor den Mund. "Bist du verrückt? So kannst du unmöglich auf die Strasse gehen!" Alle lachen über die gnadenlose, doch gut gemeinte Ehrlichkeit. Und wir schmunzeln über die "verrückte alte Frau", die auch vor den roten Haaren schon als etwas meschugge galt. Und sie? Sie freut sich über die vielen Gäste, sorgt dafür, dass niemand hungrig bleibt, kümmert sich einen Dreck um ihr Aussehen und was ihre Angehörigen darüber denken — und lacht mit.
Überhaupt lachen wir viel an diesem Freitag.

Dieses Essen hätte vor zwei Wochen stattfinden sollen. Doch dann kam der Krieg mit dem Iran — ein unerwartetes, plötzlich losbrechendes Inferno. Eine Steigerung der eh schon kaum erträglichen, andauernden Kriegssituation. Meine Schwiegermutter wurde für zwölf Tage zu meinem Schwager gebracht, wo sie vielleicht nicht sicherer, doch wenigstens nicht alleine war. 

Jetzt, zwei Wochen, mehrere Tausend Sirenenalarme (verteilt über das ganze Land), etwa 25 Einschläge, 28 israelische Todesopfer, Hunderte Verletzte, unzählige Obdachlose und immense Zerstörung später, ist diese Phase des Krieges vorbei.
Der Krieg endete am Dienstagmorgen in einem bedrohlichen Crescendo von Raketensalven, die uns dreimal innerhalb einer Stunde in die Schutzräume trieben.
Danach wurde es ruhig.

Schon am selben Abend verkündete der israelische Zivilschutz die Rückkehr zur Normalität: Die Schulkinder durften wenige Tage vor Beginn der Sommerferien wieder zur Schule gehen, wir kehrten zurück an die Arbeit, öffentliche Veranstaltungen waren wieder ohne Einschränkung erlaubt.

Auch ich könnte seither wieder ins Büro fahren, doch ich brauche noch Zeit, um den Schrecken abzuschütteln und vom Überlebensmodus ins bewusste Leben zurückzufinden. Die Raketen aus dem Iran, mit ihren mehrere Hundert Kilogramm schweren Sprengköpfen, die ausschliesslich auf israelische Zivilisten abgefeuert wurden, sind eine Bedrohung völlig anderer Dimension als die "gewohnten" Raketen aus Gaza, dem Jemen oder dem Libanon. 
Erst nach Inkrafttreten der Waffenruhe wird mir bewusst, wie angespannt ich in diesen zwölf Tagen war. Jedes Zuschlagen einer Tür, jedes aufheulende Motorrad lässt mich zusammenzucken. Doch auch das Ausbleiben der Alarme, die plötzliche Stille, ist unheimlich. Lianne läuft seit Tagen murmelnd durchs Haus: "Kein Alarm — ich kann es nicht glauben — kein Alarm."

Ich lese fieberhaft Nachrichten, Analysen, Kommentare. Millionen frischgebackene Nahost-Experten und wilde Spekulanten überfluten die Medien. Wie stark ist das iranische Atomprogramm getroffen? Welche Auswirkungen wird Israels Präventivschlag auf die Weltordnung haben? Welche geopolitischen Folgen zeichnen sich ab? Vielleicht stehen historische Veränderungen bevor. Vielleicht auch nicht. 
Ich suche nach einem letzten Strohhalm, der mir die quälende Frage erleichtern könnte, ob mein Dasein in dieser niemals zur Ruhe kommenden Kriegsregion noch erträglich und zu meistern ist. 
Doch ich werde nicht klüger. Die Meinungen klaffen tief auseinander, die Analysen widersprechen sich stündlich. Die Lage ist unüberschaubar. Nichts vermag zu trösten.

Im Gegenteil. Schmerzlich bestätigt sich: Die Welt ist von Israel besessen — und nicht etwa im Guten. Eine Art kollektive Obsession herrscht in der westlichen Welt. Totaler Realitätsverlust und Ignoranz gegenüber der realen Bedrohung bilden den Boden für einen düsteren Anti-Israel-Rausch. Je mehr ich lese, desto tiefer öffnet sich der Abgrund der Ungeheuerlichkeiten.

Ich nehme mir also wieder einmal vor, mich nur auf mich selbst und meine Familie zu konzentrieren. Die wenigen Dinge aufzuspüren, die ich beeinflussen kann. Alles andere macht mich nur wahnsinnig. Alles andere muss gehen.


Schließlich holen wir am Freitag, mit zweiwöchiger Verspätung, das gemeinsame Essen nach. Niemand spricht vom Krieg. Alle wirken erleichtert: Wir leben. Wir haben ein Dach über dem Kopf. Wir lachen. Schon lange habe ich diese Familie nicht mehr so locker und fröhlich erlebt. Sogar das T-Shirt meines Schwiegersohnes wird zum Gegenstand einer heiteren Debatte: Ist es nun violett? Braun? Oder doch auberginefarben? Oder sind wir alle farbenblind?

Nur etwas ist gewiss: Die Haare meiner Schwiegermutter sind knallrot.




Donnerstag, 19. Juni 2025

Im Keim erstickter Optimismus

Der Wecker weckt mich nach fast sieben Stunden ununterbrochenem, süssem Schlaf. So viel und gut schlafen oft nicht einmal Menschen in friedlicheren Regionen. Der Tipp, nachts das Handy auf Flugmodus zu stellen, ist Gold wert. So schweigt mein Telefon auch während den Vorwarnungen nach Mitternacht, auf welche in unserem Dorf prompt kein Sirenenalarm folgt. Die Alarme in den Nachbardörfern höre ich dank des geschlossenen Fensters auch nicht.

Gestern war es tagsüber relativ ruhig und schon stellt sich bei mir heute Morgen ein vorsichtiger Optimismus ein. Die Anweisungen des israelischen Zivilschutz-Kommandos sind leicht gelockert worden, Zusammenkünfte von bis 30 Personen sind wieder erlaubt, die Schulen bleiben jedoch weiterhin geschlossen.

Nach einigen Tagen Pause vom Sport fahre ich kurz nach 6 Uhr dreissig zum CrossFit-Training im Nachbardorf. Die Sonne ist schon vor einer Stunde aufgegangen, aber der Horizont präsentiert sich noch in leuchtendem Rosa und Hellblau. Das Radio spielt ein mitreissendes israelisches Lied, ich drehe die Lautstärke auf und singe mit. Es ist das erste Mal seit Tagen, dass ich unser Dorf verlasse. Ich bin in bester Stimmung und fast bereit, die Aussage betreffend meiner Liebe zu Israel aus meinem letzten Blogbeitrag zurückzunehmen. Wenn das alles war, denke ich schon fast übermütig und vielleicht ein bisschen naiv, war es auszuhalten.

Um Punkt 7 Uhr beginnt der CrossFit-Trainer das heutige Training zu erklären. Um 7:02 schrillen in wunderbarer Koordination alle zur Seite gelegten Handys: Vorwarnung! Wir müssen uns in die Nähe eines Schutzraumes begeben. Der nächste Bunker liegt zwei Strassen entfernt. Wir sind zwar sportlich, aber jetzt gerade hat keiner der Trainierenden Lust auf einen 700-Meter-Sprint. So fahren wir mit den Autos zum öffentlichen Schutzraum des Quartiers. Die Hartnäckigen unter uns führen auf dem Rasen vor dem Bunkereingang unbeirrt das Aufwärmprogramm fort: Hampelmänner, Kniebeugen, Rumpfbeugen. Die Alarmsirenen erlösen uns, jetzt ist es Zeit, in den unterirdischen Bunkerraum hinunterzusteigen.

Etwa dreissig Menschen drängen sich zu dieser frühen Stunde in den 30 Quadratmeter grossen fensterlosen Raum. Jemand hat vorgesorgt, Matten liegen auf dem Boden, es gibt wenige Sitzmöglichkeiten, Wasserflaschen, einen Ventilator. Das Quartier am Dorfrand ist bei Joggern beliebt und so stossen weitere schwitzende Menschen in Sportkleidung zu uns. Den Bewohnern des Quartiers scheint die Abwechslung willkommen zu sein, sie mustern uns aufmerksam. Nur eine religiöse Frau hebt ihre Augen keinen Augenblick von ihrem Gebetbuch. Ein älteres Paar sitzt in einer Ecke auf ihren mitgebrachten Campingstühlen. Sie schwelgen mit geschlossenen Augen in Erinnerungen an bessere Zeiten. Man sieht den Schutzsuchenden an, dass sie aus dem Schlaf gerissen worden sind. Ein sehr umsorgter Junge liegt in einem Liegestuhl und wird von den Eltern sorgfältig zugedeckt, um den ungerechten Schlafunterbruch so angenehm wie möglich zu gestalten. Zwei arabische Gartenarbeiter fühlen sich vielleicht etwas deplatziert, aber keiner beachtet sie. Einige Hunde drücken sich beunruhigt an ihre Besitzer. Ein gutgelauntes Baby freut sich über den unerwarteten Ausflug mit seinem Vater, es lacht uns alle an. Ich setzte mich auf den Boden. Von draussen sind starke Booms vernehmbar.

Eine Viertelstunde später steigen wir nach oben und fahren zurück zum Trainingsraum. Wir schütteln die verwirrenden apokalyptischen Gefühle von uns ab und einigen uns auf ein verkürztes Training für die verbleibende halbe Stunde. Die Nachrichtenjunkies unter uns gucken jedoch zuerst in ihre Handys. 

Einige der Raketen trafen zivile Ziele, andere verfehlten oder konnten abgeschossen werden. Die eingeschlagenen Raketen haben große Zerstörungen zufolge. Es gab Einschläge in Wohn- und Geschäftsvierteln in Holon und Ramat Gan und vor allem wurde das Soroka-Krankenhaus in Berscheba direkt getroffen. Mindestens 60 Menschen wurden verletzt, das Krankenhaus muss evakuiert werden. 




Erst später, im Laufe des Tages, merke ich, wie sehr mir der Schrecken dieses Morgens in den Gliedern sitzt. Ich versuche zu arbeiten, bin aber vollkommen unkoordiniert und vergesslich. Nur Schmerztabletten verschaffen mir etwas Linderung gegen die verspannten Glieder.

In dem ganzen Chaos gibt es auch einige erfreuliche Nachrichten: Eine Freundin konnte mit ihren zwei Kindern Plätze auf einem Passagierschiff nach Israel ergattern. Wegen der Flugsperre ist die Familie vor einer Woche in Rumänien stecken geblieben und dann nach Zypern geflogen. Sie befinden sich in diesen Stunden auf der Heimreise.

Ach Israel! Wo sonst noch lassen sich Tausende auf Wartelisten setzen, um mit Rettungsflügen und -Schiffen in ein Land gebracht zu werden, in welchem mehrmals täglich lebensbedrohliche Raketen einschlagen? 



Dienstag, 17. Juni 2025

Hundert Sorgen weniger



Auf Instagram stosse ich auf ein Video von Menschen beim Rheinschwimmen im sommerlichen Basel. Dutzende, die sich treiben lassen. Ihre Köpfe erscheinen nur als kleine farbige Punkte, doch ich weiss, dass die Schwimmenden in diesem Moment glücklich sind. Eine weiss eingeblendete Zahl zählt rückwärts von 100 bis 0 und suggeriert, wie sich in dem zauberhaften Nass hundert Sorgen im Nichts auflösen, bis die Badenden sorgenfrei bei der nächsten Rheinbrücke aus dem Wasser steigen.

Nachts um halb eins nähert sich Israel eine weitere Raketensalve aus dem Iran. Die Vorwarnungen auf dem Handy wecken mich erneut aus dem Tiefschlaf, doch die Sirenen in unserem Dorf bleiben ruhig. Ich habe das jetzt kapiert: Keine Sirene bedeutet – kein Rennen in den Schutzraum. Man muss die Handywarnungen einfach ignorieren. Doch ich bin, etwa eine Stunde nachdem ich mich schlafen gelegt habe, hellwach. 
Drehe mich schlaflos im Bett.

Denke an die Badenden in Basel. Die Bilder haben mich in meinem verwundbarsten Inneren getroffen. Ich sehne mich so sehr danach, mich in einem kühlen Schweizer Fluss treiben und dabei alle Sorgen und Ängste wegspülen zu lassen. Erfrischt und grenzenlos erleichtert aus dem Wasser zu steigen.

Tut mir leid, einst geliebtes Land Israel: Es ist aus zwischen uns. Ich habe mich entliebt. Ich bezweifle, dass wir uns einst eine Partnerschaft bis zum Tod versprochen haben. Mag sein, dass es feige ist, sich in schlechten Zeiten abzuwenden. Doch ich bin erschöpft, ich kann nicht mehr. Ich muss weg, nach Basel.

Aber der Flugverkehr ist gesperrt, so bleibt mir das Dilemma Gehen oder Bleiben erspart. 
Es gibt keinen Ausweg, ich muss da durch. 

So bleibe ich da, mit einer immensen, schmerzlichen Sehnsucht nach einer anderen, einer sorgenfreien Welt.





Montag, 16. Juni 2025

Kleinkram

Schon wieder sitzen wir nachts um halb drei Uhr im Schutzraum, obwohl es gar nicht nötig wäre. Wenn man schläft, sind die Warnnachrichten auf dem Handy wirklich verwirrend. Vorwarnungen, Warnungen der Regionen der persönlichen Wahl, Echtzeit-Warnungen vor Ort. Das Handy zirpt alle paar Minuten wie wild, ich schrecke auf und steuere noch schlafend in Richtung Schutzraum. Vor lauter Gezirpe merke ich gar nicht, dass ich keine Sirenen gehört habe. Wer besteht schon morgens um halb drei im Tiefschlaf einen Intelligenztest? Aber nicht nur ich bin verwirrt. Mitglieder der Gruppe unseres Wohnortes diskutieren am Morgen danach auf Facebook lebhaft, ob die Sirenen bei uns wirklich geheult haben oder nicht, denn wir hören auch die Sirenen der Nachbardörfer.

Alle paar Stunden heulen die Sirenen aber auch bei uns tatsächlich, vor allem nachts. Nur etwa neunzig Prozent der Raketen aus dem Iran werden abgefangen. Die eintreffenden Geschosse richten oft grossen Schaden an. Fast jeden Morgen wachen wir jetzt zu Nachrichten über Tote und Verletzte auf.

Viele Geschäfte sind geschlossen.
Im Supermarkt gibt es keine Eier mehr.

Die Hochzeit des Sohnes unserer guten Freunde wird auf unbekannte Zeit verschoben. Die Anzüge und festlichen Kleider hängen wartend im Schrank.

Zehntausende Israelis stecken wegen der Flugunterbrechung im Ausland fest und umgekehrt können ausländische Reisende nicht wegfliegen. Viele sammeln sich in Zypern oder Griechenland, in der Hoffnung, dass es dort Rettungsflüge oder andere Möglichkeiten geben wird, nach Israel zurückzukehren. Doch die Hotels sind ausgebucht, die Übernachtungsmöglichkeiten müssen Nacht für Nacht neu erkämpft werden. Unterdessen warten Kinder oder andere Familienmitglieder in Israel. Auf Facebook bilden sich Gruppen Verzweifelter, die sich in Reisegruppen organisieren: In Zypern werden Plätze nach Israel auf zwielichtigen Yachten offeriert, andere suchen Skipper für gemeinsam gemietete Segelboote, wieder andere wollen Israel auf dem Landweg über Jordanien oder den Sinai verlassen.

Man wird angehalten, nicht zur Arbeit zu fahren und in der Nähe von Schutzräumen zu bleiben. Wir sind fünf erwachsene Personen im Haus, die versuchen, irgendeine Routine aufrechtzuerhalten. Jeder sucht sich für die Arbeit im Heimbüro ein ruhiges Eckchen. Nur Lianne ist frustriert und verängstigt, als temporär angestellte Schulassistentin ist sie wieder einmal fristlos arbeitslos. Dazu kommen die Ängste vor den Raketen, dem Vernichtungswut des Mullah-Regimes und die ungewissen Zukunftsaussichten.

Alle wollen essen. Ich bin ständig am Putzen, organisieren, aufräumen. Dabei fühle ich mich völlig gelähmt. Die Situation ist apokalyptisch.

Am Nachmittag wagt das junge Paar eine Reise in ihre Wohnung in Tel-Aviv, um Kleider und einen weiteren Computer-Bildschirm zu holen. Sie staunen über die leergefegten Strassen und die freien Parkplätze im Überfluss. Aber kaum kommen sie an, schrillen die Sirenen. Sie lassen das Auto stehen und laufen in den nächstliegenden öffentlichen Schutzraum, zusammen mit Dutzenden Nachbarn, Kleinkindern und deren zahlreichen Haustieren im Schlepptau. Die unangenehme Erfahrung bewegt sie, früher zu uns zurückzufahren als geplant. Sie treten gerade ein, als es auch bei uns losgeht. Wir suchen erneut gemeinsam den Schutzraum auf. Trotz geschlossener Eisentüre hören wir die lauten Booms der verschiedenen Abwehrsysteme, Fenster und Wände rütteln.

Aber das ist alles Kleinkram. Wir sind froh, unversehrt zu sein. Die Situation ist ernst. Mit diesen Raketen ist nicht zu spassen. Jede Nacht gibt es Einschläge mit zahlreichen Verletzten. Wohnhäuser werden getroffen und brechen zusammen. Viele Menschen können nur noch tot geborgen werden.



Ein LKW-Fahrer macht Gebrauch von einem transportablen Schtutzraum






Samstag, 14. Juni 2025

Lagebericht

Gerade als ich denke, dass es nichts mehr zu schreiben gibt, weil uns der monotone Alltag wieder hat, geht der Wahnsinn von Neuem und erst richtig los. Das Spektakel hat seinen Auftakt in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag mit einer Reihe verwirrender Alarme: Zuerst zerreissen die Alarmsirenen in der Nachbarschaft die Ruhe der Nacht, dann gehen verschiedene, markdurchdringende Alarmtöne auf dem Handy los. Es sind nicht die bekannten Alarme der Heimatfront-App, die vor Raketen aus dem Jemen, dem Libanon oder aus Gaza warnen, sondern besonders beunruhigende Push-Alarme. Sie erreichen alle Handys, auch bei Leuten, die die App der Heimatfront gar nicht heruntergeladen haben (das ist an sich schon beunruhigend). Wir können die seltsamen, grellen Handy-Notwarnungen nicht einordnen und so finden wir uns Mitten in der Nacht im Schutzraum wieder, nur um kurz danach herauszufinden, dass das gar nicht nötig wäre. Eyals Bruder ruft an, um uns mitzuteilen, dass Israel einen lange geplanten Präventivschlag gegen iranische Atom- und Militäranlagen begonnen hat. Die Lage scheint ernst zu sein, der Bruder telefoniert Mitten in der Nacht aus dem Auto. Auf dem Beifahrersitz befindet sich meine Schwiegermutter. Sie ist aus dem Bett gerissen worden, um die kommenden Tage bei der Familie zu verbringen. In ihrer Wohnung in Netanya müsste die verwitwete 85-jährige sechs Stockwerke hinuntersteigen, um bei Alarm den einzigen Schutzraum des Mehrfamilienhauses aufzusuchen. 

Zu uns kommen im Verlaufe des Freitags die Frischvermählten aus Tel-Aviv. Wer kann, verlässt die Stadt im Zentrum, die das bevorzugte Ziel für die Raketenangriffe der barbarischen Despoten aus dem Iran ist. Ausserdem verfügen viele Wohnungen in den älteren Gebäuden in Tel-Aviv über keine eigenen Schutzräume und die Bewohner müssen bei Alarm in die öffentlichen Bunker rennen.


Unser eigener Schutzraum wurde in friedlicheren Zeiten zu einem Arbeitszimmer umfunktioniert, er ist klein und eng. Aber notfalls finden einige Personen der Wand entlang Platz. Wir haben Stühle hineingestellt, Wasserflaschen, Handybatterien und Notlampen.

In der Nacht auf Samstag feuert der Iran mehrere Salven ballistischer Raketen auf die israelische Zivilbevölkerung ab. Immer wieder reissen uns die Sirenen aus dem Schlaf.
Am Morgen erfahren wir, dass einige der Raketen nicht abgewehrt werden konnten. E
s gibt Tote, viele Verletzte und beträchtlichen Sachschaden.


Der Samstag verläuft ruhig, vielleicht aufgrund des schiitischen Feiertags im Iran. Wir betreiben die perfekte Realitätsflucht: Den ganzen Tag gehen Freunde der Kinder ein und aus. Sie sitzen im Garten zusammen, unterhalten sich, essen und trinken und spielen mit ihren Kindern. Die unerwartete familiäre Quality-time ist erfreulich, doch die Anspannung bleibt. Ist es die Ruhe vor dem Sturm? 

Am Shabbatende richten wir für die offizielle Durchsage des Armeesprechers den TV-Projektor in der Stube ein. Diese Woche findet kein Unterricht statt und nur als unentbehrlich eingestufte Organisationen dürfen arbeiten. Der Luftraum bleibt bis auf Weiteres geschlossen, der Flugbetrieb ist eingestellt. Genaue Anweisungen für das Verhalten bei Alarm werden durchgegeben. Was erwartet uns diese Nacht?

Ich bete, dass wir alle geschützt bleiben und dass niemand zu Schaden kommt. Doch vor allem hoffe ich von ganzem Herzen auf den Erfolg der militärischen Massnahmen und dass sie nicht nur der Sicherheit Israels dienen, sondern auch dem Wunsch des iranischen Volkes nach Freiheit entgegenkommen werden.


Wir haben Angst schlafen zu gehen. Gerade ist wieder eine Vorwarnung eingetroffen, dass weitere Raketensalven unterwegs sind. Vor dem nächsten Alarm drücke ich noch schnell auf "Beitrag veröffentlichen".













Donnerstag, 5. Juni 2025

Ein fragwürdiges Jubiläum

Als unsere Zeitrechnung ins Jahr 2000 überging, befürchteten die Industrienationen ein globales Fiasko aufgrund weitreichender Softwareabstürze. Entgegen aller Erwartungen verlief der Übergang reibungslos, doch für mich persönlich brachte er in den ersten Tagen des neuen Jahres einen Lebens-prägenden Neubeginn.

Nach der Geburt des zweiten Kindes und zweieinhalb Jahren Babypause fand ich endlich eine neue Arbeit. Alle vorherigen Möglichkeiten hatte ich ausgeschlagen, denn nichts schien mir damit vereinbar, dass ich jetzt für zwei kleine Kinder und den Haushalt einer Familie verantwortlich war. Doch dann legte mir das Schicksal ein Angebot in einer angesehenen internationalen Firma vor die Füsse, das ich nicht ablehnen konnte.

Einige Monate nach Arbeitsanfang und Anstellung über eine Vermittlerfirma folgte die Festanstellung. Danach vergingen einige Tage, Wochen, Monate und – schwups! landete vor einigen Tagen eine E-Mail in meiner Mailbox, in der mir mein Arbeitgeber zum 25-jährigen Dienstjubiläum gratuliert.

Ich bin alles andere als stolz darauf, fast ewig beim selben Arbeitgeber hocken geblieben zu sein. Das zeugt nicht gerade von Flexibilität und Mut zum Abenteuer.


Wer will schon so einen Grabstein?

Immerhin darf ich mir anrechnen, dass ich in ferner Vergangenheit den Umzug in ein fremdes Land gewagt habe. Dieser Perspektivenwechsel hat meinen Lebenshorizont ins Unermessliche bereichert. Doch ich befürchte, dass auch diese Änderung bei mir nicht unbedingt mit Pioniergeist zu tun hatte, sondern eher mit reichlich Naivität und der Unfähigkeit, vorauszudenken.

Seien wir ehrlich – eine sehr wagemutige Draufgängerin bin ich nicht. Es gab da und dort einige Versuche, berufliche Änderungen vorzunehmen, doch schlussendlich schaffte ich den Absprung nie. Obwohl es ärgerliche Phasen, Mitarbeiter oder Vorgesetzte gab, waren diese Firma und mein Job einfach immer zu bequem und zu passend für mich. Bei persönlichen Belangen und Bedürfnissen, in Zeiten von Krankheit, der Geburt des dritten Kindes und überhaupt als Mutter von kleinen Kindern, kam mir die Firma immer sehr grosszügig entgegen. Dazu kommen das internationale Umfeld, der kurze Arbeitsweg, die vorteilhaften Bedingungen, der sichere Lohn, die ganz akzeptable Kantine – kurzum ein mehr als zufriedenstellendes Gesamtpaket.

Natürlich waren die 25 Jahre auch stets von beruflichen und persönlichen Änderungen geprägt. Ich bin fast zehnmal in ein anderes Büro in verschiedenen Gebäuden umgezogen. Als die Firma vor einigen Jahren gesundgeschrumpft und meine gesamte Abteilung aufgelöst wurde, bekam ich als einzige meines Teams eine weitere Chance und startete in einer anderen Abteilung in eine neue Karriere.

Ich konnte beruflich mehrere Male in die USA und verschiedene Länder Europas reisen. Ich bin auf Kosten der Firma Business-Class geflogen, habe in ausgezeichneten Restaurants gespeist und in den besten Hotels geschlafen. Was aber noch viel prägender war: Ich hatte die Möglichkeit, Menschen in den USA, in Deutschland, Frankreich, England und Kroatien als Arbeitskollegin und nicht als Touristin zu erleben. Ich habe mich in den Städten Europas in Menschenmassen eingereiht, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln frühmorgens zur Arbeit und abends wieder zurück zu pendeln. Ich habe in Firmengebäuden in Industrie-Vororten mit den Mitarbeitern in der Kaffeeküche geplaudert. In den Vororten von Philadelphia bin ich mit dem Mietwagen zur Arbeit gefahren und habe in amerikanischen Grossraumbüros braune Brühe in XXL Tassen geschlürft. Ich durfte sogar mehrere Male in die Schweiz reisen, wo die Firma in der Stadt meiner Gymi-Zeit einige Jahre über einen Firmensitz verfügte. Diese Erfahrungen brachten Abwechslung und sie begeisterten und erfüllten mich.

Seit meiner ersten Arbeitsjahre in der Firma haben globale Umwälzungen die Arbeit grundlegend verändert und ich habe die Digitalisierung einst manueller firmenspezifischer Prozesse erkundet und mitentwickelt. Später habe ich gelernt, mein Wissen weiterzugeben und bin daran gewachsen, ein Team zu leiten. Ich habe mindestens 15 direkte Vorgesetzte überdauert.



Nun habe ich hier schon fast meine eigene Abschiedsrede verfasst – aber leider muss ich noch drei weitere Jahre absitzen, bis ich rechtmässig in Rente gehen kann. Es wäre keine Katastrophe, früher aufzuhören. Zurzeit macht es Spass, nicht mehr unter Druck zu arbeiten. Ich muss keine Familie mehr miternähren und keine erfolgreiche Karriere mehr aufbauen. Ich arbeite mit dem Wissen, dass ich einfach gehen kann, falls mir jemand zu sehr auf den Wecker fällt.

Gerade in diesen Tagen bekomme ich wieder eine neue Vorgesetzte. Sie hat ihren Sitz in den USA und aufgrund der Zeitverschiebung werden wir nicht allzu viele gemeinsame Arbeitsstunden haben. Doch ich werde mir Mühe geben müssen, einen guten Eindruck zu machen. Mit 25 Jahren Dienstalter ist der Grat zwischen erfahrener und veralteter Erscheinung sehr schmal.

An schlechteren Tagen ist die grösste Herausforderung das Gefühl, dass sich alles ins Unendliche zu wiederholen scheint und dass mir manchmal einfach die Geduld ausgeht für neue Projekte. Dann bin ich versucht, draufgängerischen Arbeitskollegen, die glauben, die perfekte Lösung für irgendein Problem gefunden zu haben, den Wind aus den Segeln zu nehmen und auszurufen: Nehmt's mal locker, das war doch alles schon da!

Doch dann besinne ich mich. Natürlich werde ich auch bei diesem Projekt noch mitmachen. Einfach, weil ich es kann. Und ich werde auch weiterhin lernen, ausprobieren, Dinge hinterfragen und Prozesse erneuern.

25 Jahre mögen wie eine Ewigkeit erscheinen, doch sie waren gefüllt mit Wandel, Wachstum und wertvollen Begegnungen. Nichts Grandioses oder Umwerfendes, aber doch stetig, in kleinen, unauffälligen Schritten.


Montag, 2. Juni 2025

Zwischen Leere und Luftschutzalarm

Endlich ist wieder etwas Ruhe in mein Leben eingekehrt. Nach der Hochzeit und all den damit einhergehenden Umtrieben habe ich ein bisschen das Gefühl, dem Wahnsinn ins Gesicht gesehen zu haben. Umso mehr geniesse ich nun etwas, das man fast als Leere beschreiben könnte. Der Sohn zurück in der Schweiz, die jung Vermählten in Griechenland, Lianne in der frei stehenden Wohnung des Paares in Tel-Aviv. Niemand kommt. Keine Projekte. Ich faulenze.

Am Wochenende verschlinge ich das Buch "Meine Sprache wohnt woanders" von Chaim Noll und Lea Fleischmann. Gedanken von zwei nach Israel ausgewanderten Juden, über Deutschland und Israel. Lea Fleischmann schreibt über die Armut, in welcher sie aufwuchs "Sie lehrte mich, dass das geschliffene Wort es mit funkelndem Schmuck aufnehmen kann, und sie lehrte mich, dass der Geist die Armut überwinden kann." Die beiden Autoren sind wahrlich Wort- und Sprachkünstler, sie erschaffen zusammen in vollkommener Ergänzung ein sehr poetisches Werk.
Lea Fleischmann findet in Israel den Glauben und die Spiritualität. Die Freude, mir der sie ihr religiöses Leben beschreibt, ist authentisch, nachvollziehbar und fast ansteckend. 
Es tut mir gut, über die Liebe und die spirituelle Beziehung der Autoren zu Israel zu lesen, vor allem jetzt, in einer Zeit, da es nicht mehr einfach ist, das überrumpelte, geschundene, fast zerbrechende Land zu lieben. Mit meinen Schweizer Wurzeln empfinde ich es als immer bedrückender, in einem Land zu leben, das die halbe Welt vernichten will, während die andere halbe Welt der Meinung ist, Israel hätte den Krieg selbst zu verschulden oder wäre sogar der Aggressor. 
Das Buch wurde 2006 geschrieben und der Rückblick ist eine aufschlussreiche Zeitreise. Obwohl der Nahe Osten schon damals eine schwierige Region war, ist seit dem Pogrom und dem gegenwärtigen Krieg alles noch radikal komplizierter. Schon 2006 schreibt Chaim Noll "in dem eskalierenden Konflikt mit der arabischen Welt, der weitgehend unser Leben bestimmt, geht es für Israel um das Überleben als Staat und als Volk." In tiefgründigen Analysen beschreibt er eingängig das komplexe Israel in Einbezug der jahrtausendealten Geschichte. 
Unterdessen ist der "Konflikt" vollkommen eskaliert. Wir stehen nicht mehr am Abgrund – spätestens am 7. Oktober 2023 sind wir darüber hinaus gestürzt, seither befinden wir uns im freien Fall. Die gesamte Weltengemeinschaft rast dem Aufprall entgegen. Wie werden wir landen?
Ich weiss nicht, was Chaim Noll und Lea Fleischmann heute schreiben würden, wenn sie denn überhaupt noch Worte fänden. Doch ich blende diese Gedanken aus, versetzte mich zwei Jahrzehnte zurück und finde es mitreissend und sehr überzeugend, wie Lea Fleischmann auf Deutschland blickt und wie sie in Israel ihre Berufung gefunden hat.



So ruhig wie mein Leben ist die Situation in Israel dann aber doch wieder nicht. Immer wieder durchbrechen Düsenjäger die Stille. Vor allem abends rütteln ferne Detonationen am Fundament unseres Hauses und lassen die Wände und Fenster erbeben. Ich schrecke jedesmal hoch und wundere mich, dass alles noch steht. Und immer wieder heulen Sirenen. 
Einen Abend verbringen wir bei Freunden bei der Eröffnung eines zauberhaften Kaffeekiosks, den sie mit eigenen Händen aus einem verrosteten alten Anhänger erschaffen haben. Irgendwann rattern die Handys aller Anwesenden gleichzeitig. Gespräche werden unterbrochen. Eltern rufen ihre Kinder an. Der Ort, an dem wir uns befinden, bleibt vom Alarm verschont, aber die Sirenen der umliegenden Ortschaften heulen durch die Nacht.
Lianne arbeitet an diesem Abend als Babysitter in Herzliya. Sie erzählt am nächsten Morgen, dass die zwei älteren Kinder unaufgefordert in den Schutzraum gegangen sind, als wäre es das Alltäglichste auf der Welt. Das dritte Kind, das schon schlafend im Bett liegt, trägt Lianne in den Schutzraum. Zehn Minuten später legt sie es wieder in sein Bett. Ich bewundere meine Tochter für ihre unbeirrbare Ruhe und bin gleichzeitig schockiert, wie selbstverständlich israelische Babysitter so nebenbei als lebensrettende Schutzengel fungieren.








Montag, 26. Mai 2025

Ein Fest des Lebens – trotz allem


Unsere Tochter ist verheiratet, die Hochzeit liegt hinter uns! Wir blicken auf einen sehr turbulenten Party-Marathon und ein wunderbares Fest zurück.

In den letzten Tagen folgten die Ereignisse Schlag auf Schlag: am Dienstagabend besuchte Sivan die Mikve, die spirituelle Reinigung für Frauen vor der traditionell-religiösen Hochzeit. Mit meinem säkularen Lebensstil ist mir das rituelle Bad fremd. Doch dann empfinde ich das Eintauchen und die Segenssprüche als Verbindung mit den jahrtausendealten Traditionen des Judentums, das ich so sehr schätze und liebe, als zutiefst ergreifend. Im Anschluss insistieren Sivans Freundinnen auf das traditionelle Challah-Teigopfer, eine Zeremonie in der Frauen um den Segen für die neu gegründete Familie beten. Den lustigen und lockeren Abend mit viel Vorfreude auf den neuen Lebensabschnitt lassen die Freundinnen bei einigen Gläsern Wein bei uns im Garten ausklingen, während ich Schlafen gehe.
Am nächsten Tag putzen wir das Mehl weg und sind mit letzten Vorbereitungen beschäftigt. Am Abend treffen sich die Freundinnen wieder bis in späte Stunden bei uns im Garten – diesmal ohne traditionellen Hintergrund.

Sivan verbringt die Nacht bei uns und am Tag der Hochzeit überstürzen sich die Ereignisse. Die Visagistin und der Hairdesigner beginnen in den Morgenstunden ihr Wunderwerk, um aus Sivan die Schönste aller Bräute zu zaubern. Dass die Freundinnen die ganze Zeit zugegen sind, muss wohl gar nicht mehr erwähnt werden. Auch ein Fotografenteam ist dabei und kurz nach 14 Uhr treffen der Bräutigam mit Gefolge ein. Jetzt drängen sich schon weit über zwanzig Personen in unserem Garten und in der Stube, in welcher ich in den Tagen vorher wohlweislich alles umgestellt habe, um Platz für die Fachleute, die Begleitpersonen und für grosse Spiegel, Schminkkoffer, Frisierutensilien und -möbel zu schaffen. Am Nachmittag brechen Braut und Bräutigam für eine mehrstündige Fotosession in Richtung Veranstaltungspark auf. Jetzt ist der Moment für Lianne und mich gekommen, uns zu schminken und die festlichen Kleider anzuziehen. Als auch Eyal in Anzug und Krawatte parat ist, fahren wir los und lassen dabei ein ziemlich zerstörtes Haus zurück.

Die Hochzeit selbst ist ein wunderbares Fest mit mehreren Hundert Gästen und grandioser Stimmung. Unter jubelndem Beifall tanzen Braut und Bräutigam freudig unter den traditionellen Baldachin für die Hochzeitszeremonie. Die Freude und Erregung des jungen Paares sind ansteckend und lassen keinen Gast unberührt. Im Anschluss feiern wir mit den vielen Freunden des Paares ausgelassen bis in die Morgenstunden.

Es wird schon hell als ich mich mit schmerzenden Füssen und dröhnendem Kopf, aber überglücklich, für einige Stunden schlafen lege. Doch bald stehe ich wieder auf und beginne aufzuräumen. Für den kommenden Tag haben wir als kleine Afterparty die engere Familie eingeladen, die nun zusammen mit den neu eingeheiraten Angehörigen über dreissig Personen zählen wird. Der Garten muss auf Vordermann gebracht werden und am Mittag liefert eine Leihfirma Tische, Stühle, Sonnenschirme und Geschirr an. Am Samstag brechen wir früh in die Synagoge auf, wo das junge Ehepaar von der Gemeinde geehrt und gesegnet wird. Ab Mittag treffen die Gäste ein. Danach geht wieder alles so schnell, dass ich am Ende des Tages ganz durcheinander zurückbleibe, mit einem Haus, das erneut aussieht, als wäre ein Tornado durchgezogen. Doch wir räumen auf und dann wird es endlich ruhig. Die frisch Verheirateten packen ihre Kleider, Anzüge, Schuhe, Unmengen von übriggebliebenen Partyutensilien und Spirituosen ins Auto und verabschieden sich.

Ich denke, es ist verständlich, dass ich jetzt nur noch meine Komfortzone zurückhaben und für einige Zeit keine Personen mehr in unserem Haus sehen will, die nicht meiner Kernfamilie angehören.



Natürlich ist auch ein freudiger Anlass wie dieser von den Zeichen der Zeit geprägt. Während der Zeremonie unter dem Baldachin gedenken wir Nitzan. Ihre Mutter und Schwester weilen unter den Gästen. 
Auch ein Gebet für die kämpfenden Soldaten und für die Gefallenen wird gesprochen. 
Der Bruder des Bräutigams dient seit dem 7. Oktober-Pogrom fast ununterbrochen in Reserve. Seine Truppe ist in Gaza stationiert, für die Hochzeit kann er einige Tage Urlaub ergattern. 
Yotam und seine Freunde, die am Nova-Massaker durch ein Wunder dem Tod entwischt sind, feiern mit uns. Yotam, der mit einer Schusswunde davongekommen ist, wird im Juli heiraten. 
Die Eltern von Tomer, der im April 2022 bei einem Attentat in Tel-Aviv ermordet worden ist, beehren uns mit ihrer Anwesenheit. 
Jeder hier hat seine Geschichte, einige davon kenne ich, viele nicht. 
Alon tanzt die ganze Nacht unter grosser Anstrengung auf einem Bein und mit der neuen Prothese, immer umgeben und gestützt von seinen treuen Freunden. Als er sich erschöpft für einige Minuten eine Pause gönnt, tanzen seine Freunde mit seiner Beinprothese weiter. Das mag makaber scheinen, aber es versinnbildlicht durch und durch den Geist dieses Volkes: Es ist ein Volk, das sich nicht nieder kriegen lässt. Voller Optimismus werden sie Familien gründen, Kinder bekommen und Feste und das Leben feiern und wenn es sein muss, werden sie lachend und weinend zugleich mit Prothesen tanzen.



Irgendwann in den späten Nachtstunden betrachte ich das ausgelassen tanzende Grüppchen und bin zutiefst berührt von der Resilienz und der überbordenden, ungebrochenen Lebensfreude. Während der Judenhass in Form von verdrehten Narrativen, Verleumdung und jeglicher Realität entbehrenden Behauptungen auf der ganzen Welt eskaliert, weiss ich, dass wir – dieses Volk, und ich mit ihm – auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Mögen die jungen Leute hier viele Kinder gebären, sie in Liebe grossziehen, mögen sie Gutes tun und über alles Böse siegen! Mögen ihre Kinder in Frieden und Sicherheit leben und mögen sie der Menschheit ein Licht im Dunkeln sein!



Montag, 19. Mai 2025

Big Glilot

Am Samstagabend entführen mich meine Töchter nach "Big Glilot", den neuesten Mega-Shoppingtempel in Israel. Hier locken unzählige weitläufige Läden in zweistöckigen Gebäuden in Form einer architektonisch raffiniert geplanten kleinen Stadt. An diesem Samstagabend ist der sensationelle neue Einkaufspalast proppenvoll. Kauffreudig flanieren die Israelis auf europäisch chicen Promenaden, zwischen plätschernden Zierbrunnen und -becken, Ruhebänken und auf Galerien mit Balustraden in elegantem Design. Sie pilgern in Scharen herbei, vergnügen sich in den Läden und Restaurants und stehen willig vor den Ankleidekabinen und Kassen zu Dutzenden Schlange. 


Ich bin überwältigt von den Menschenmassen und der Grösse und Eleganz des Einkaufszentrums. Gleichzeitig wundere ich mich, warum gerade mehrere Fluggesellschaften ihren Flugstopp nach Israel verlängert und damit meinen Schweizer Hochzeitsgästen endgültig die Anreise an unser Fest am Donnerstag vereitelt haben. Sieht so etwa ein gefährliches Touristenziel aus? 

Schwarz gekleidete Angestellte schweben auf elektrischen Rollern über die Gehwege, beantworten Fragen, geben Auskunft und lesen den Besuchern jeden Wunsch von den Lippen ab. Wie überall in Israel sieht man auch hier viele Araber, erkenntlich vor allem an den züchtigen Kopfbedeckungen der Frauen. Doch hier scheint eine ganz andere Gruppierung von Menschen unterwegs zu sein, als ich sie aus meinem gewohnten Umfeld kenne: Die Kleider sind zwar sittsam lang, aber erkenntlich teuer und modern. Schuhe von Dior, Brillen und Taschen von Prada und Gucci werden zur Schau getragen. Ein Shoppingtrip nach Dubai war nie auf meiner Löffelliste, doch nun habe ich ihn offensichtlich trotzdem bekommen. 
Der Laden der Modekette Zara umfasst drei Stockwerke. Auf dem grossflächigen Vorhof stehen mehrere Luxuskarossen, die man gleich auch noch kaufen kann. Ich bräuchte eigentlich nur Nachschub für meine übliche (billige) Feuchtigkeitscrème, doch sogar mein gewohnter Drogeriemarkt ist hier zum Luxuspalast geworden. In der Eingangshalle werden nur teuerste Parfums angeboten. Das Parfum meiner Träume wird von einem breitschultrigen uniformierten Mann bewacht. Eingeschüchtert von soviel unerschwinglichem Luxus mache ich mich gleich wieder aus dem Staub. Die Crème kann ich ja anderswo kaufen. 
Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was für eine bizarre Parallelwelt! Das wirft Fragen auf. Wie viele Kleider und Schuhe kann man sich eigentlich noch kaufen? Hier kann niemand mehr übersehen, dass sich unser gesamtes Dasein nur um Geld und Materielles dreht. Der Messias ist schon da, wir warten vergebens! Diese Stätten sind die Kulttempel unserer Generation. 
Doch bei allem Kopfschütteln kaufe auch ich einige Dinge, die ich überhaupt nicht brauche. Wie könnte man entsagen? Alles riecht so verführerisch. Im Laden meiner Lieblingsmodemarke versuche ich viermal, zum Ausgang zu steuern – jedes Mal saugt mich die Versuchung in Form eines weiteren Kleidungsstückes wieder hinein. Irgendwann schaffe ich es doch, mit Hilfe meiner Töchter. Dann lassen wir diese surreale Kultstätte hinter uns und reisen in einer vierrädrigen Zeitmaschine wieder in unsere eigene kleine Welt zurück.

Nachts weckt mich die Alarm-App, wahrscheinlich um meine Frage zu beantworten, warum die Fluggesellschaften nicht nach Israel fliegen. In Tel-Aviv und Umgebung laufen Hunderttausende in die Schutzräume. Dank dem nächtlichen Weckruf erfahre ich, dass Yuval Raphael am ESC in Basel als Publikumsliebling den zweiten Platz gewonnen hat. 

Dann schlafe ich unruhig weiter. In wirren Träumen erscheinen mir Luxuskarossen in Dubai, ein Goldesel, Israelis, die nachts um zwei in Luftschutzkellern den ESC Sieg feiern, meine Töchter in Hochzeitskleidern, Palästinenser-Flaggen in Basel, jemenitische Raketen und Swiss-Flugzeuge, die vor der Küste Israels kehrt machen.
 
Am Morgen entpuppt sich alles als wahr. Wir leben in wahrlich verrückten Zeiten.





Samstag, 10. Mai 2025

Rami, Meister der Improvisation

Seit einigen Jahren lasse ich meine relativ kurzen Haare nur von der Coiffeuse meines Vertrauens in der Schweiz schneiden. Die zuvorkommende Bedienung und die absolut zufriedenstellende Leistung sind mir den höheren Preis wert. Die Coiffeuse ist begabt und technisch kompetent, sie hat ihr Zeitmanagement bestens im Griff und plant ihre Termine so umsichtig, dass ich nie eine andere Kundin antreffe. Die Atmosphäre im kleinen Salon ist ruhig und angenehm. Der Besuch beginnt mit einem Beratungsgespräch, in welchem die gewünschte Frisur basierend auf Erfahrungen und Resultate vom letzten Mal besprochen und im Detail geplant wird. Dann werde ich mit einer liebevollen Haarwäsche mit betörend riechenden Haarpflegemitteln verwöhnt. Beim Schneiden geht die Coiffeuse sorgfältig auf jede einzelne Strähne ein, sie arbeitet sich strategisch und gleichzeitig äußerst kreativ rund um meinen Kopf und setzt in präziser Arbeit ihre Vision um. Am Schluss ist meine Frisur immer perfekt, top modern, genau richtig in der Länge und ich fühle mich wunderschön.

Nun scheint einzutreffen, was ich befürchtet habe: Ausgerechnet für die Hochzeit meiner Tochter werde ich mich mit Coiffeur Rami in Netanya begnügen müssen, dem Meister der Improvisation.

In den vergangenen zwei Wochen hatte ich täglich die Flugangebote in die Schweiz unter dem Radar. Doch die Situation ist mit dem momentanen Aussetzen mehrerer Fluggesellschaften äußerst prekär. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass aus einem Sprung zur Coiffeuse in der Schweiz vor der Hochzeit nichts mehr wird. Und so betrat ich diese Woche mit mulmigem Gefühl Ramis Salon in Netanya, um mit ihm mein Haardesign für die Hochzeit in die Wege zu leiten.

Ein Besuch bei Rami in Netanya ist eine authentische israelische Erfahrung. In den bald 40 Jahren, in denen ich in Israel lebe, habe ich noch nicht in Erfahrung bringen können, ob es hier Usus ist, sich beim Coiffeur anzumelden oder nicht. Manchmal tue ich es, manchmal nicht - es macht überhaupt keinen Unterschied. Immer sitzen schon einige Frauen auf den wenigen Sitzgelegenheiten und warten, bis sie von einem der beiden Coiffeure, zwei Brüdern, bedient werden, und so auch ich. Rami wäscht mir die Haare so lieblos, dass mir seine Frau ernsthaft leid tut. Irgendwelche Wünsche betreffend der Frisur anzubringen, ist völlig sinnlos. Rami klopft höchstens einen flotten Spruch. Beim Frisieren vermitteln mir seine Körpersprache und sein Stil, dass er keinen Plan, keine Kontrolle und keine Übersicht hat. Er schneidet einfach drauflos, ganz nach dem Motto, irgendwie schaukeln wir das schon!

Ich habe enorme Mühe mit dieser demonstrativen Lässigkeit. Improvisation und Nonchalance mögen ja gut und schön sein, sind aber einfach nicht immer angemessen. Wenn ich mich zum Beispiel einer komplizierten Herzoperation unterziehen muss, finde ich Kompetenz und Präzision wichtiger. Ebenso bei meiner Frisur. Aber Rami fährt mir mit der Schere ins Haar, dass mir der Atem stockt. Er wirft die Schere locker von Seite zu Seite, schneidet hier ein bisschen und da ein bisschen. Unterdessen unterhält er sich mit den anderen Kundinnen, Bekannte kommen vorbei, um mit ihm zu plaudern, und zweimal beantwortet er das Telefon. Die Nachbarin des Salons bittet dringend um Hilfe, sie hat eine Eidechse in der Wohnung. Ich rechne es Rami hoch an, dass er mich nicht mit der halbfertigen Frisur zurücklässt, sondern seinen Bruder auf die Rettungsaktion schickt.

Ehrlicherweise muss ich anfügen, dass ich mit dem Resultat meistens überraschend zufrieden bin, sonst käme ich garantiert nicht mehr wieder. Als eingefleischte Schweizerin finde ich einfach das Gefühl, etwas nicht wenigstens einigermaßen unter Kontrolle zu haben, sehr beunruhigend. 

Während ich bezahle, bläue ich Rami ein, dass er sich ja meinen geplanten Besuch am Tag der Hochzeit im Terminkalender vormerken und rot einrahmen soll. Dabei suche ich die Theke verstohlen nach einem Kalender ab – aber dort liegt nichts, nicht einmal ein Kugelschreiber.

Ja, ja, sagt er, ruf mich doch einfach zwei oder drei Tage vorher an. Jetzt weiss ich, dass er gar keinen Terminkalender hat.




Montag, 5. Mai 2025

Alles ruhig

Israel ist zur Zeit nicht gerade das Land, in welchem man sich einen entspannten und beruhigenden Urlaub erträumt. Trotzdem haben sich einige treue und mutige Familienmitglieder aus der Schweiz für das Hochzeitsfest unserer Tochter Ende Mai angemeldet. Ich gestehe: Damit sie keine kalten Füsse bekommen, antworte ich jetzt jeweils eher zurückhaltend, wenn sie mich am Telefon fragen, wie es uns geht. Man muss ja nicht jedes Mal die ganze Katastrophe ausführlich beschreiben. Immerhin lebe ich jedenfalls einen einigermassen geregelten und meistens ruhigen Alltag. Auch diese Woche wieder bestätige ich einem etwas verunsicherten Schweizer Gast, dass die Situation in Israel einfach wunderbar ist! Raketenalarme? Ach was! Nicht bei uns!

Aber - alle Facebook-Nutzer kennen das: Wenn man über irgendetwas spricht, hat man umgehend den Feed voll mit Angeboten für das just besprochene Thema. Mit den Raketen aus dem Jemen und allen anderen Himmelsrichtungen scheint es sich ähnlich zu verhalten.

Dass unsere Heimfront jetzt eine neue Funktion anbietet, die auf dem Handy zwei Minuten VOR dem Alarm eine Ankündigung schickt, habe ich schon gehört, aber noch nicht selbst erfahren. Dann ist es so weit: Die Warnung erscheint wie aus dem Nichts auf meinem Telefon, während ich fleissig im Heimbüro mit etwas ganz anderem beschäftigt bin. Ich schrecke auf und schaue noch einmal genauer hin. Wird jetzt wirklich ein Alarm folgen? Bei uns? Das ist bestimmt eine Fehlfunktion! Ich rufe nach oben, dass es in zwei Minuten Alarm geben könnte. Eyal ruft irgendetwas zurück, das ich nicht hören kann. Sonst keine Reaktion. Und jetzt? Ich arbeite weiter. Dann geht der Alarm tatsächlich los. Soll ich in den Schutzraum? Ehrlich gesagt, glaube ich an den Schutz dieses Raumes etwa so sehr, wie an den Erfolg meiner Osteopathin. Also bleibe ich im Heimbüro sitzen. Das Zimmerchen war früher mal eine Garage, ist aber trotz des Umbaus vermutlich das am meisten exponierte und am wenigsten geschützte Zimmer unseres Hauses.

Ich habe ein Abo bei einer Lotterie (Mif'al Hapais), bezahle monatlich meine Beiträge und habe in dreissig Jahren noch nie etwas gewonnen. Ich bin vor Zufallstreffern geschützt. Die Rakete wird nicht ausgerechnet auf diese Garage niedergehen. Ich arbeite weiter, verdränge dabei die Gedanken an das "Und wenn doch?"

Wie vermutet, gibt es auch dieses Mal für mich keinen Lotteriegewinn. Anderswo aber doch: Eine der Raketen, die die Huthis aus dem Jemen heute auf Israel abgefeuert haben, konnte nicht abgefangen werden, schlug in der Nähe des Ben-Gurion Flughafens ein und verursachte beträchtlichen Schaden. Als Konsequenz annullierten verschiedene Fluggesellschaften umgehend ihre Flüge von und nach Israel.

Nun hoffe ich, dass das Ganze nicht eskaliert. Die Plätze an der Hochzeit bleiben für die Schweizer Gäste auf jeden Fall reserviert.

In Netanya übrigens, wo sich die Gäste einquartieren werden, gab es auch dieses Mal keinen Alarm. Netanya ist – in dieser Hinsicht - immer ruhig. Und auch sonst ist bei uns einfach alles wieder wunderbar! Es ist nur eine Frage der Einstellung.

Sonnenuntergang in Netanya. Einfach wunderbar!












Sonntag, 4. Mai 2025

Stimmung

Krieg hier. Kriege dort. 
Ein Krieg zwischen Zivilisation und entfesselter Barbarei.
Unsere Kinder Soldaten wider Willen, alle traumatisiert. 
Totalitäre Ideologien, die überhand nehmen.
Despoten, die die Welt im Höllentempo an die Wand zu fahren scheinen.  
Konfuse wirtschaftliche Lage. Heute so, morgen anders.
Börse, die Achterbahn fährt. 
Dazu noch Extremwetter.
Überschwemmungen, Brände.
Jede Woche irgendwo eine Katastrophe.
Kaum geschehen, schon vergessen.
In den Medien Lärm und Hass, überall, auf alles.  
Desinformation, Zerrbilder und wahnhafte Ideen. 
Krieg der Narrative.
Weltweiter Antisemitismus in schockierendem Ausmass.
Dämonisierung Israels. 
Die Welt, die auf uns zeigt. 
Nicht sehen, nicht hören, nicht verstehen will. 
Das Schweigen vieler. 
Auch ein Bekenntnis.
Der wachsende Graben in der israelischen Gesellschaft.
Freundschaften, die brüchig werden. 
Die Geiseln, die immer noch dort sind. 
19 Monate in feuchten dunklen Erdlöchern. Täglich gefoltert.
Ihre Familien am Verzweifeln.

Alles wird zu gross, zu laut, zu viel.

Und ich mittendrin. 
Gehe unter. 
Will nichts mehr hören.
Will von allem nichts wissen.
Halte mich fest an Momenten, in denen die Welt kurz stillsteht: 
Ein Morgenspaziergang nach einer regenreichen Nacht. 
Der Duft des ersten Kaffees an einem neuen Tag.
Eine Melodie oder ein Lied, das mich fortträgt.
Ein Glas kaltes Wasser an einem heissen Tag.
Ehrliche Gespräche und lustige Augenblicke.
Familienmitglieder, die treu immer da sind. 
Die vielversprechenden Blüten im Garten.
Mangos bald, Pitanga und vielleicht Passionsfrüchte.

Klammere mich an jedes bisschen Normalität.
An jedes bisschen Hoffnung. 









Montag, 28. April 2025

Flagge zeigen



Diese Woche wird in Israel der Unabhängigkeitstag gefeiert. Das Land, die Häuser, die Strassen und die Autos sind jetzt schon mit israelischen Flaggen geschmückt.

Im Ausland werden derweil die israelische Flagge sowie auch die Nationalhymne aufgrund der kommunizierten Realitätsverzerrung, von Desinformation und, tja, dummem Herdenverhalten, als Provokation empfunden. Das hat Chris Faschon am eigenen Leib erfahren müssen. Der Schweizer Journalist und Autor jüdischen Glaubens wurde immer wieder in verschiedenen Formen belästigt, weil er eine israelische Fahne und die gelbe Schleife, die die israelischen Geiseln symbolisiert, im Fenster seines Hauses in Kreuzlingen hängen hat. Als Judenhasser im Februar einen Stein auf das beflaggte Fenster warfen, schrieb sogar die Thurgauer Zeitung darüber.

Ronaldo Goldberger, ein freischaffender Journalist aus Basel, berichtet auf seinem unabhängigen YouTube-Kanal über Aktualitäten aus jüdischer Sicht. In dieser Sendung spricht Ronaldo mit Chris über die Reaktionen, die er auf die israelische Flagge in seinem Fenster erhalten hat und über sein Gefühl in der Schweiz als Jude. Das Gespräch finde ich übrigens alleine schon unterhaltsam, weil sowohl Ronaldo als auch Chris in breitesten Schweizer Dialekten sprechen, der eine in Basler, der andere in Thurgauer Dialekt, wovon einiges sogar für mich nur schwer verständlich ist.

Hier schreibe ich einige Minuten von Chris Faschons Aussagen mit. Leider schafft es nicht einmal ChatGPT, vom Thurgauischen ins Hochdeutsche zu transkribieren. Das Deutsch ist dementsprechend etwas kurios, auch wenn ich mir erlaubt habe, ziemlich frei zu übersetzen.

"...die sagen dann immer, du bist mutig. Und ich denke mir, dass ich nur deswegen mutig bin, weil ich der Einzige bin. Es wäre überhaupt keine besondere Leistung (eine Flagge aufzuhängen), wenn die westliche Welt so ein grauenhaftes Verbrechen (das 7. Oktober-Massaker) vereint verurteilen und darauf bestehen würde, die Geiseln dort herauszuholen. Und wenn es UNO-Sondertruppen bräuchte, und jedes Land Leute einsetzen müsste. Ganz egal, wie lange es dauert: Wir holen sie dort raus! Und wenn alle Regierungen dastehen würden, mit Israel-Anstecker, oder zumindest der gelben Schleife, und sagen würden, das lassen wir nicht zu! Hier geht es um unsere Werte, um Freiheit! Es geht ja nicht nur um Israel und Hamas. Diese Baustelle ist viel, viel grösser. Hier wird unsere Demokratie angegriffen, und das bedeutet, dass man Rückgrat zeigen muss – Hier sind wir, bis hierher, und nicht weiter!
Wenn Leute mich für meinen Mut loben, dann antworte ich: Hier ist der Link, über den ich die Fahne bestellt habe, es ist ganz einfach, das nachzumachen. Und jeder, der es nachmacht, macht mich persönlich ein bisschen sicherer."

"Ich glaube, den Schweizern fällt es besonders leicht, zu schweigen. Die Helvetier sind im Allgemeinen nicht gerade mutig...
...Man kann sich das so lange leisten, bis der Gegner – man entschuldige, dass ich diese Menschen so nenne – bis die andere Seite eine bestimmte kritische Masse erreicht. Wenn die mal so und so viele sind, dann kann man auch keine Fahne mehr heraushängen oder sich positionieren, das geht dann nur noch mit Polizeischutz, sonst wird man auf der Strasse kaltgemacht. Und das in westlichen, freiheitlichen, demokratischen Ländern!"

"...Ich habe schon ein Messer im Briefkasten gehabt, so als Nachricht. Ich habe schon E-Mails erhalten, mit Bemerkungen, dass man für mich die Öfen noch einmal anheizen sollte. Ich nehme das zu einem gewissen Grad schon ernst. Aber, wie gesagt, nur sind wir in diesem beschaulichen Thurgau in einer Situation, dass nicht 150 Leute vor meinem Fenster stehen. Das wäre der kritische Punkt, in dem eine bestimmte Masse überschritten wäre, und ich könnte nicht mehr ohne Polizeischutz aus dem Haus. Solange das noch so ist, ist es wichtig, genau jetzt Position zu beziehen. Jetzt kann man noch etwas bewirken. Danach den Laden wieder unter Kontrolle zu bekommen, wird sehr viel schwieriger sein."



In der zweiten Maihälfte wird Yuval Raphael Israel am Eurovision Song Contest in Basel mit dem Lied "New Day Will Raise" vertreten. Die junge israelische Sängerin hat den Horror des 7. Oktober-Massakers überlebt. Sie war am Nova Musikfestival, als die Terroristen kamen und sie überlebte unter Leichen.
Nun kriechen die Judenhasser aus ihren Löchern – nicht das erste Mal am ESC. In den Medien ist die Hölle los, entweder wird der Sängerin das Erlebte nicht geglaubt, oder ihr Trauma wird ins Lächerliche gezogen, und damit das Trauma aller Überlebenden in Israel. Verschiedene Aktivisten und propalästinensische Bewegungen fordern gar den Ausschluss Israels vom Wettbewerb.

Ich wünsche mir von meinen Basler und Schweizer Freunden und Bekannten, dass sie sich gegen den Antisemitismus, gegen die Anti-Israel Bewegung positionieren, gerade während dem ESC, an welchem viele Touristen die Stadt besuchen werden. Bitte hört euch an, was Chris Faschon zu sagen hat und tragt einen Israel-Anstecker oder hängt eine Israelflagge in eure Fenster. Damit sich Juden und Israelis, Besucher wie Yuval Raphael und ihre Fans, oder Schweizer Juden wie Chris Faschon, in der Schweiz ein bisschen sicherer fühlen.

Tip: Wer sich mit Israel gerne kulinarisch solidarisch zeigen möchte, sollte im Eurovision Village den Stand von Hungry Pita aufsuchen.


Das ikonische Bild einer frenetischen Masse, in derer Mitte ein einziger Mann in Verweigerung des Hitlergrusses die Arme verschränkt.




Donnerstag, 24. April 2025

Wo verläuft die Grenze



Über meinen Besuch bei der Kosmetikerin und das etwas fragwürdige Resultat habe ich vor Kurzem berichtet. Nun bekenne ich: Ich habe nicht nur einen Besuch, sondern eine ganze Serie von Verschönerungsterminen gebucht! Warum? Ich bin sechzig, arbeite seit vierzig Jahren und kann mir das leisten. Man lebt nur einmal und muss ja nicht all das angescheffelte Geld den lieben Kindern vererben. Zwei Termine habe ich schon hinter mir. Jetzt ertappe ich mich öfter dabei, dass ich etwas länger und genauer in den Spiegel gucke: Sind sie etwas sanfter geworden? Etwas unauffälliger? Oder – oh Schreck – vielleicht sogar markanter? Die Falten. Sehe ich etwas frischer, etwas jugendlicher aus? Oder werde ich das wenigstens, wenn ich alle Termine hinter mir habe? Denn, falls nicht – habe ich damit ziemlich viel Geld aus dem Fenster geworfen. Die Gesichtsmassagen im kerzenbeleuchteten Raum sind jedoch wunderbar tiefenentspannend und können vielleicht – falls die Falten partout nicht verschwinden – als Alternative zu einer Behandlung von Trauma- oder Stresssymptomen betrachtet werden.

Wie es so ist mit über sechzig, betrüben mich ausser den Falten noch viele andere Sorgen und Zipperlein. Die Schmerzen in meinem linken Knie haben sich erfreulicherweise nach mehr als einem Jahr und viel Dehnungsarbeit endlich in Luft aufgelöst. Umso grösser war die Enttäuschung, als bei einem meiner ersten Laufversuche schon nach wenigen Hundert Metern die rechte Hüfte streikte. Ein stechender Schmerz zwang mich, umgehend in langsames Schritttempo überzugehen und vollkommen niedergeschlagen nach Hause zu hinken. Die Schmerzen blieben hartnäckig mehrere Tage und ich fühlte mich einfach nur noch alt. Es kann doch nicht sein, dass ich meinen geliebten Laufsport jetzt schon aufgeben muss! Ich habe auch keine Geduld mehr, noch einmal mehrere Monate auf Besserung zu warten. Jetzt musste eine sofortige Lösung her!

Leider bin ich aber auch geistig nicht mehr so flink, und so verwechselte ich Chiropraktik mit Osteopathie. Erst nachdem ich wild entschlossen einen Termin bei einer Osteopathin ergattert hatte, dämmerte mir, dass es sich dabei gar nicht um die gewünschte sofortige Wunderheilung handelte, die mir ein Chiropraktiker mit wenigen Handgriffen hätte besorgen können.

Und so lag ich also an einem Morgen bei einer Handauflegenden Frau auf dem Behandlungsbett. Sie klärte mich auf, dass sie mithilfe von Ertasten und Mobilisieren meinen Körper zu stimulieren und Blockaden zu lösen versucht. Ich gebe mir wirklich grösste Mühe, offen zu sein für alternative Behandlungsmethoden – schliesslich sind diese nicht nur mein letzter Rettungsanker, sondern kosten auch eine beträchtliche Summe Geld. Mit den herkömmlichen Orthopäden und Physiotherapeuten habe ich nämlich schon lange abgeschlossen.

Was soll ich sagen? Fühlte ich wirklich etwas Besonderes an den Stellen, an denen sie mich berührte? Spürte sie wirklich etwas, wenn sie behauptete, sie ertaste verhärtetes Gewebe? Oder band sie mir einfach unverfroren einen Bären auf? Hat sie eine besondere Gabe in ihren Händen oder hätten meine Hände dieselbe Wirkung? Reicht es, wenn sie von der Behandlung überzeugt ist, oder ist es zwingend notwendig, dass ich auch daran glaube? Viele Fragen. Die Antworten werden sich vielleicht irgendwann einmal ergeben. Vielleicht auch nicht. 
Mir war leicht schwindlig und heiss, als ich das Behandlungszimmer verliess. Das könnte aber auch mit dem "Chamsin" zu tun haben, der uns an diesem Tag trockene Luft und Temperaturen um die 40 Grad bescherte. Natürlich erklärte mir auch die Osteopathin, dass ich mehrere Behandlungen werde über mich ergehen lassen müssen, bis ich eine Besserung erwarten könnte.

Zum Abschluss bleibt eine Frage, die sich wohl jeder selbst beantworten muss: Wo verläuft die Grenze zwischen Selbstheilung, den Möglichkeiten der Alternativmedizin und Scharlatanerie?







Dienstag, 22. April 2025

Kapitel 5.3

Die Brille von Lior Rodaif aus Nir Yitzhak.
Lior fiel am 7. Oktober im Kampf gegen Dutzende Terroristen.
Seine Leiche wurde nach Gaza entführt und noch nicht zurückgegeben.


Kibbutz Or HaNer
Kibbutz Nir Am
Kibbutz Gevim
Moshav Yakhini
Kibbutz Mefalsim
Kibbutz Kfar Aza
Kibbutz Sa’ad
Kibbutz Nahal Oz
Kibbutz Alumim
Kibbutz Be’eri
Kibbutz Re’im
Kibbutz Kissufim
Kibbutz Ein HaShlosha
Kibbutz Nirim
Kibbutz Nir Oz
Kibbutz Magen
Moshav Ein HaBesor
Moshav Yesha and Mivtahim
Kibbutz Nir Yitzhak
Kibbutz Sufa
Moshav Pri Gan and Moshav Shlomit
Kibbutz Holit
Moshav Yated
Kibbutz Kerem Shalom
Kibbutz Urim

In jedem dieser Orte (und vielen mehr, dies ist eines der ersten Kapitel) sind am schwarzen Schabbat Dutzende Menschen niedergemetzelt oder – lebend, verletzt oder tot – verschleppt worden. Dutzende Häuser sind abgefackelt, ganze Quartiere in Schutt und Asche gelegt worden. Die detailliert beschriebenen Attacken sind verschieden, ähneln sich, reihen sich aneinander, verketten sich, verschwimmen. Ich bin mit Lesen noch nicht einmal halb durch und es hört einfach nicht mehr auf. Mord, Totschlag, Folterung, Schändung, Vergewaltigung, Brandstiftung, Raub, Plünderung, Zerstörung. Jede einzelne "Geschichte" in dieser Chronik der Ereignisse ist schockierender als die vorherige. Vieles in Echtzeit aufgezeichnet und über soziale Medien verbreitet. Gibt es in irgendeiner Sprache überhaupt ein Wort, das dieser Schlächterei gerecht werden könnte? 

Die schockierendsten der Gräueltaten sind in meinem Gedächtnis eingraviert und ich werde sie hier nicht wiedergeben. Einige der Ereignisse stehen in dem ganzen Wahnsinn aufgrund verschiedener Besonderheiten jedoch speziell hervor.

Eines der ersten Opfer des Kibbutz Kfar Aza war Modi Amir 67, der am 7. Oktober kurz nach 7 Uhr ermordet wurde. Modi war ein schneller Denker, der immer die praktischste Lösung fand. Als die Terroristen in sein Haus einbrachen, wies Modi seine beiden Töchter und seine Enkelin an, sich in der Dusche des Schutzraumes zu verstecken. Er selbst beschloss, im Hauptteil des Raumes zu bleiben, und hoffte, dass die Terroristen glauben würden, er sei allein dort. Die Rechnung ging auf, die Terroristen erschossen Modi, wobei seine Leiche den Eingang zum Badezimmer versperrte. Modis Töchter und Enkelin blieben einen ganzen Tag dahinter unentdeckt und wurden dann evakuiert.

Ähnlich Shlomo Ron, ein Mitbegründer des Kibbutz Nahal Oz, der in seinem Wohnzimmer erschossen wurde. Er hatte seine Frau, seine zwei Töchter und seine Enkelkinder angewiesen, im Schutzraum zu bleiben und setzte sich dann ausserhalb des Schutzraumes in einen Sessel. Die Terroristen, die in das Haus einbrachen, erschossen den 85-Jährigen sofort. Wie er es beabsichtigt hatte, gingen die Angreifer davon aus, dass der Rest des Hauses leer war, und verließen es.

Als freiwilliges Mitglied des zivilen Sicherheitsteams des Kibbutz Kissufim musste Shai Asher seine Frau und Kinder den ganzen Tag im Schutzraum des Hauses zurücklassen. Im Laufe des Morgens war der Kontakt zu ihnen für einige Stunden abgebrochen. Shai befürchtete das Schlimmste, fand die Familie aber unversehrt im Schutzraum. Bevor er das Haus erneut verliess, zerstörte er das Wohnzimmer, zerbrach das grosse Fenster und beschmierte Wände und Böden grosszügig mit Ketchup, um es so aussehen zu lassen, als hätte bereits ein Massaker stattgefunden. Dann zog er wieder los, um die Angreifer zu bekämpfen. Seine Familie wurde gerettet.   

Die Brüder Menachem und Elhanan Kalmanson aus Otniel im Westjordanland beschlossen, am 7. Oktober um 16:00 Uhr, nach Be'eri zu fahren, nachdem sie von den Anschlägen gehört hatten. Als sie gegen Abend im Kibbutz ankamen, liehen sie sich ein kleines gepanzertes Fahrzeug von einer von mehreren vor dem Tor versammelten Soldateneinheiten und fuhren hinein. In den folgenden 16 Stunden gingen sie von Haus zu Haus und retteten die Bewohner, die sich in ihren Schutzräumen befanden und brachten sie aus dem umkämpften Kibbutz heraus. Um sich als Israelis erkenntlich zu geben, sangen sie hebräische Lieder und Gebete. Die Brüder retteten Menschen aus brennenden Häusern unter Beschuss und nahmen bis zu 15 Personen in einem Jeep auf, der für 4 Personen gedacht war. Elhanan Kalmanson, 41, wurde erst am 9. Oktober von einem Terroristen, der sich versteckt hatte, getötet; sein Bruder überlebte.

Am späteren Nachmittag des 7. Oktober rettete die Sicherheitstruppe des Kibbutz Nir Am eine Gruppe von zehn palästinensischen Arbeitern aus dem Gazastreifen, die sich in einer Avocado-Plantage versteckt hatten, nachdem ihr Fahrzeug, das sie zu den Pomelo-Hainen von Nir Am brachte, von Hamas-Terroristen in die Luft gesprengt wurde.

Im Kibbutz Nahal Oz wurden zwei thailändische Arbeiter, die ursprünglich als entführt oder vermisst gemeldet waren, nach 6 Tagen auf den Feldern gefunden. Sie waren vollkommen schockiert und hielten sich nach all diesen Tagen immer noch versteckt.



Donnerstag, 17. April 2025

Countdown

Der Countdown läuft. Die Spannung steigt. Noch fünf Wochen. Fünf Wochen bis zur Hochzeit unserer Tochter. 
In diesen Tagen gehen die offiziellen Einladungen raus, an über 400 Gäste. Wer die genau alle sind, weiss ich auch nicht, aber so ist das in Israel üblich. Die festlichen Kleider sind parat, die Sandalen warten glitzernd im Schrank. In unserer Vorratskammer steht ein neuer zusätzlicher Kühlschrank, der demnächst mit Wein und Bier gefüllt wird, um dem Gästeansturm in den Tagen vor und nach dem Fest gerecht zu werden. 
Gestern verwöhnte ich mich mit einem Besuch bei einer Kosmetikerin, etwas das ich noch nie im Leben auf eigene Kosten unternommen habe. Die Behandlung war sehr angenehm und beruhigend. Im Liegen sah meine Haut dann tatsächlich fantastisch verjüngt aus. Leider hielt das Wunderwerk aber der Erdanziehungskraft im Stehen nicht stand und die Falten waren umgehend wieder da. Na ja, macht nichts, Hauptsache das junge Paar ist schön und strahlt an seinem grossen Tag! 
Heute steht noch Anzüge-Anprobe für die Männer auf dem Programm. 
Möge es nur immer so weiter gehen, mit den erfreulichen Besorgungen!