Donnerstag, 14. August 2025

Ausflug in eine Märchenwelt: Der Panixersee


Morgengrauen in Vuorz

Der Nebel hängt noch tief zwischen den Berggipfeln, man kann die Aussicht nur erahnen. Doch auf dem Balkon unseres Chalet sind alleine die Kälte an einem Julimorgen und das Schauspiel der wandernden Nebelschwaden und Wolken spektakulär. 

Die Mission

Am Vortag um dieselbe Zeit noch in Israel, fand ich mich nach einer Tagesreise im Flugzeug, Zug und Auto in einem Chalet mit fantastischer Aussicht im Kanton Graubünden wieder. Das Wetter war regnerisch und unstabil in diesen Tagen, aber einige trockene Stunden an meinem ersten Tag in Vuorz schienen passend für eine geplante Wanderung.

Mit mir im Chalet wohnen zwei meiner Schwestern, die genau wie ich noch nicht bereit sind, vor den altersbedingten Veränderungen zu kapitulieren: Eine von uns leidet an einer Knieverletzung, sie wanderte nur die ersten paar Kilometer mit und leistete uns dafür geschätzte Fahrdienste. Die zweite Schwester hatte eine akute Achillessehnenentzündung und ich selbst leide an chronischen Knieschmerzen aufgrund von Knorpelverschleiss! Doch an diesem Freitag hatten wir eine Mission: den Panixersee erreichen.
Wir beschlossen, direkt von unserem Chalet loszuwandern. Über das Dorf Andiast und die Weiler Curwengia und Sogn Giusep, mit Blick auf Pigniu auf der rechten Talseite, eröffnete sich nach etwa 9 Kilometern Wanderung unser Ziel, der Lag da Pigniu (Panixersee).



Der steile Irrweg

Die Wege waren angenehm, doch ausgerechnet ein sehr steiler Abschnitt war aufgrund des Regens gefährlich matschig und sogar auf allen Vieren nur schwer zu bezwingen. Da wurde uns schon etwas mulmig und ich informierte mich bei meiner Schwester schon mal, unter welcher Nummer die Bergrettungsdienste zu erreichen wären. Offensichtlich hatten wir aus Versehen gerade die steilere Abzweigung eingeschlagen, die wir gemäss Besprechung am Vorabend eigentlich vermeiden wollten.


Der Lohn: Wasserfälle im Felsamphitheater

Der See belohnte uns für alle Mühe, bei seinem Anblick vergassen wir die schmerzenden Glieder! Der Stausee ist wunderbar in die Berge eingebettet und die imposanten Panixer- und Aua dil Mer Wasserfälle auf der Nordseite des Sees sind der absolute Höhepunkt.


Geheimtipp

Zum Panixersee gelingt man über unzählige Wanderrouten zu Fuss, aber er ist auch mit dem Auto erreichbar! (Abbiegung von der Hauptstrasse H19, die von Ilanz nach Disentis führt, nach Rueun und in Richtung Pigniu) Es gibt einen fast direkt unter der Staumauer liegenden Parkplatz, von welchem aus man den See in etwa einer Stunde umwandern kann. Von dort holte uns die dritte havarierte Schwester mit dem Auto ab. So ergab unsere Wanderung insgesamt etwa 13 Kilometer. Der Weg um den See (etwa 4 Kilometer) führt an einem Ufer auf stellenweise schmalem Pfad an das Seeende und die Wasserfälle und auf der anderen Seeseite auf einem breiteren Weg wieder zurück. Für das Bestaunen der Wasserfälle und vielleicht eine Rast in der Nähe der Fälle, empfehle ich, eine bis zwei weitere Stunden einzuplanen!

Traum oder Wirklichkeit?


Noch immer spüre ich das Donnern und den kalten Sprühnebel der Panixerfälle, höre die Kuhglocken und das Glucksen der Bächlein, rieche das nasse Moos und die klare Bergluft.
Wenn ich an diesen Wandertag und überhaupt die Tage in Vuorz zurückdenke, bin ich nicht sicher, ob es sich um einen Traum handelt, oder ob die Tage in dieser Parallel-Märchenwelt Wirklichkeit waren. Zum Glück gibt es Fotos, auf denen ich tatsächlich drauf bin! Gerade angereist aus dem staubigen, tropisch-heissen und turbulenten Israel, war die Wanderung für mich ein surrealistisch anmutendes Erlebnis. Meine Augen konnten sich nicht satt sehen – während meine Seele noch irgendwo zwischen Tel-Aviv und Zürich unterwegs war.




Es ist eine lange Anfahrt aus der Nordschweiz (und erst recht aus Israel), aber ich hoffe, dass ich irgendwann noch einmal die Gelegenheit haben werde, die Panixerfälle, die Cascada da Pigniu, aus nächster Nähe und mit weniger schmerzenden Knien bestaunen zu können.







Dienstag, 12. August 2025

Jenseits der Schlagzeilen

Massada, Juli 2025


Vermutlich kommen auf diesem Blog auch Menschen vorbei, die sich fragen: "Was meckert sie überhaupt? Klar sind Israelis (und mit ihnen die Juden…) in Europa nicht sonderlich beliebt, wenn man sieht, was Israel im Nahen Osten so treibt." (Unter Bezug auf meinen letzten Beitrag
Viele von ihnen verfügen vielleicht über eine vorgefertigte Meinung, ohne sich im Geringsten irgendwo informiert zu haben.

In meinem Blog schreibe ich mir meine Gefühle vom Herzen und manchmal versuche ich auch, Unaussprechliches in Worte zu fassen.
Ich weiss: Das wird niemanden bekehren, der schon mit einem fertigen Narrativ im Kopf mitliest.

Ich mag keine Aufklärungsarbeit leisten. Es gibt viele, die das tun – und einige tun es hervorragend, standhaft, mutig und unbeugsam. Wer diese Stimmen hören will, wird sie auch finden.

Natürlich würde ich Menschen gerne zeigen, warum die Fährte falsch ist, der sie folgen. Doch es ist schlicht unmöglich, in ein paar Sätzen das Wissen zu bündeln, das ich in vier Jahrzehnten in Israel gesammelt habe: aus täglichen Erlebnissen, Begegnungen, Gesprächen, Eindrücken, unzähligen Büchern und Hintergrundinformationen – meinem Leben.

Man könnte täglich Fakten posten oder Artikel verlinken, die eigentlich jedermann überzeugen sollten.
Aber mal ehrlich: Wer will schon seine eigene Meinung hinterfragen?
Oder, wie Ramona Ambs heute auf Facebook schreibt

"Die Realität scheint den meisten völlig schnuppe zu sein."


Massada, Januar 1985



Samstag, 9. August 2025

Meine Kinder sind keine Monster

Andiast, Kanton Graubünden


Und Schwups – schon ist der Urlaub vorbei. Die Tage mit meinen Kindern in der Schweiz waren intensiv, eine Mischung aus Spass, Freude, Schrecken, Trauer und Sorge. Ehrlich gesagt: Ein bisschen zu viel von allem, um erholsam zu sein.
Wie befürchtet, lag über allem nicht nur der Schatten grosser Sorgen um meine kranken, alten Eltern, sondern noch dazu – als Israelis, ein beklemmendes Gefühl, das uns begleitete: die spürbare Abneigung, der unterschwellige oder offene Hass.

Der Hunger in Gaza ist DAS Thema in der Schweiz. In jeder Nachrichtensendung wird darüber berichtet. Jede Stunde. Beim Autofahren wollen meine Töchter immer wieder, dass ich die Nachrichten übersetzte. Sie hören und verstehen nur … Israel, Gaza, Israel, Gaza.... Gibt es eigentlich noch andere Konfliktherde auf der Welt?
Was ist mit dem Hunger im Sudan, wo über 25 Millionen Menschen akut von Nahrungsmittelknappheit betroffen sind und etwa 770‘000 Kinder unter fünf Jahren an schwerer Mangelernährung leiden? In welchen Nachrichten wird darüber berichtet?

Uns hingegen erreichen in der (na ja, nicht mehr so) idyllischen Schweiz die von der Hamas veröffentlichten Videos der Geiseln Evyatar David und Rom Braslavski – zwei Männer, jünger als meine Kinder, die seit 22 Monaten von der Hamas in Gaza unter katastrophalen Bedingungen festgehalten werden. Sie sind Haut und Knochen. Es sind Bilder, die an die Leichenberge in den KZs erinnern. Die Videos lassen uns nicht mehr los, doch hier in der Schweiz berichtet man kaum darüber. Unsere Herzen sind schwer, wir fühlen uns allein, missverstanden, diffamiert.

Wenn meine Töchter gefragt werden, woher sie kommen, sagen sie, geübt: „aus Malta“. „Dort spricht man Maltesers“, schieben sie lachend nach, denn den Humor haben sie trotz allem noch nicht verloren. Nur einmal sagt Sivan wahrheitsgemäss „Israel“, worauf sich die Haltung der freundlichen jungen Frau hinter der Theke sofort sichtlich verändert. Sie strahlt jetzt Feindlichkeit aus, bricht die Unterhaltung ab, schickt böse Blicke.
Der arabisch-stämmige Kassierer im Lidl, der bei unserem früheren Urlaub die Braue bis zum Haaransatz hochgezogen hat, als wir „aus Israel“ antworteten, lächelt nun hingegen – einige Monate später – vielsagend. Er kann sich an uns erinnern, er wähnt sich unterdessen in der Siegerpartei und er ist sicher, dass er am längeren Hebel sitzt.

An einigen Hauswänden in Basel steht „In Gaza verhungern Kinder“. Ich möchte ergänzen „... und israelische Geiseln. Wegen Hamas“, aber ich habe keine Spraydose dabei. Also schlucke ich meinen Protest herunter. Aber wir tragen die Erinnerung an Nitzan und Lidor, an Yuval und Shir, an die 1200 Ermordeten, an die 900 seit Kriegsbeginn gefallenen Soldaten und die Tausenden Verletzen in unseren Herzen und jedes „Free Palestine“-Graffiti, jedes Palästinensertuch treffen uns tief und ziehen uns den Boden unter den Füssen weg.

Eine Anti-Israel  Demo verpassen wir zum Glück um wenige Minuten. Ich bin froh darüber, denn es ist äusserst unangenehm, in eine Menge zu geraten, die die Auslöschung deines Volkes skandiert, während Passanten desinteressiert zusehen. Mein ehemaliger Schulkamerade Gabriel Strenger, unterwegs nach Kleinbasel, verpasste die Demo nicht, er ging mutig in der Menge mit und rief, als einziger Lichtblick unter Verwirrten „Am Israel Chai“. Hier sein Video und Kommentar auf Facebook.

Ja, wir lachen, geniessen Momente – doch niemand lebt in einer Blase, nicht einmal im Urlaub. Am Ende sehnen wir uns zurück nach Israel, wo die Menschen unseren Informationsstand, unsere Sorgen und Gedanken teilen. Wo wir nichts erklären und uns nicht verstecken müssen.
In unserer Heimat ist Krieg. Wir sind traumatisiert. In der Schweiz empfinde ich kein Mitgefühl, keine Empathie. Im Gegenteil – das Thema ist zu heiss, keiner spricht es an. Aber Schweigen ist auch eine Haltung.


Medienflut und Selbstschutz

Weil ich im Urlaub kaum Zeit für Social Media habe, schaffe ich doch etwas Abstand. Facebook und Instagram sind meine Haupt-Nachrichtenquellen. Ich schaue kein Fernsehen, auch zu Hause nicht. Auf Social Media lese ich Meinungen und bekomme immer die neuesten Artikel. Natürlich filtert der Algorithmus für mich – und der Überfluss an negativen Nachrichten über das Geschehen in Nahost überflutet mich.

Zurück nach Israel beschliesse ich, meinen Facebook- und Instagram-Konsum auf 15 Minuten pro Tag zu beschränken.
Doch noch vor diesem Vorsatz kommentiere ich auf Instagram einen Post. Ein kleines dänisches Wollunternehmen, von dem ich schon gekauft habe, startet eine Spendenaktion „für hungernde Kinder in Gaza“. Ich schreibe einen pro-israelischen Kommentar. In kürzester Zeit hat er über 50 Likes – und noch mehr völlig absurde Hasskommentare. Der gesamte Post der Firma bekommt mehr als 1500 Kommentare, sonst sind es höchstens 70. Gaza polarisiert. Genau das wollen die Hamas und der Iran, ihr politischer und militärischer Unterstützer: dass selbst die hinterletzten Strickerinnen irgendwo auf der Welt hasserfüllt aufeinander losgehen.
Viele ziehen Holocaust- und KZ-Vergleiche. Jemand schreibt: „Ärzte berichten, dass die Kinder von der IDF direkt in den Kopf geschossen werden. Absichtlich ins Visier genommen. Sie sind Monster.“


Echt jetzt? Meine drei Kinder haben alle je drei Jahre in der IDF gedient, Eyal sogar vier, dazu noch unzählige Reservedienste, vor und nach dem 7. Oktober Pogrom. Die Männer in Kampfeinheiten. Meine Kernfamilie verfügt über mindestens 15 Jahre IDF-Erfahrung. Ich habe immer wieder verschwitzte Uniformen gewaschen und mehr Eindrücke gehört, als man je zählen könnte – direkt und ungefiltert. Wir haben viele Freunde und Bekannte, die in Gaza im Einsatz sind. Ich habe also ein bisschen eine Ahnung, was in der IDF passiert.
Und dann sitzt da jemand irgendwo in Skandinavien und verbreitet, die IDF – also meine Kinder! – würden palästinensischen Kindern absichtlich in den Kopf schiessen.
Wie absurd das alles ist!

Die ersten Tage mit reduziertem Social Media Konsum verlaufen gut. In meinen Ruhestunden höre ich Podcasts, schaue mir einen Film an, lese viel. „Martha und die Ihren“ von Lukas Hartmann schliesse ich am Abend nach meiner Rückkehr ab (ein mitreissendes Zeitdokument, aber der emotional distanzierte, nüchterne Stil ist nicht mein Ding). Danach überfliege ich „Altern“ von Elke Heidenreich (viel weniger eindrücklich als die Person Elke Heidenreich selbst). Gerade habe ich die ersten Kapitel von „Tabak und Schokolade“ des Basler Autors Martin R. Dean verschlungen (sehr vielversprechend).

Vielleicht werde ich in Zukunft gezielt die Zeitungsartikel aufsuchen, die mir bisher von Facebook zugespült worden sind. Ich werde meine Augen nicht vor den Entwicklungen auf der Welt verschliessen, aber es muss mir ja nicht täglich in unkontrollierter Menge eingehämmert werden, wie schrecklich die Situation ist. Das tut keinem gut.
Die Nachrichten werden mich finden, wenn es sein muss. Und wenn nicht – umso besser!

Immerhin empfangen uns die Sonnenblumen am Eingang zum Dorf meiner Eltern einladend und wohlgesinnt.




Samstag, 19. Juli 2025

Was bleibt



In diesen Wochen, wo der Sommer seinen Höhepunkt erreicht, ist die Luft Tag und Nacht so unerträglich heiss und feucht, dass ich mich heute morgen nicht einmal zu meinem gewohnten Früh-morgen-Spaziergang aufraffen konnte. Statt über die Felder zu rennen, sitze ich im Garten. Bis acht Uhr ist es dort erstaunlich angenehm und so lasse ich mich von einem Buch forttragen, während der Tag erwacht. Nur Schmetterlinge und zwitschernde Vögel lenken mich ab. Unser Garten ist zur Zeit ein kleines Paradies. Ich sollte mir wirklich öfter die Zeit nehmen, ihn zu geniessen. Nach über zehn Jahren, in denen ich ihn mit laienhafter Hingabe selbst gepflegt habe, wurde er kürzlich von einem geschätzten Gärtner liebevoll überarbeitet. 
Sogar unser grosser Mangobaum wurde radikal gestutzt. Leider bedeutete das auch den Verlust seiner wenigen Früchte – bis auf eine! Eine einzige Mango hängt noch am Ast. Ich mache mir etwas Sorgen um ihre Zukunft. In wenigen Tagen reise ich in die Schweiz. Wird sie auf mich warten, gereift und golden?



Am Donnerstag waren wir Gäste auf einer Hochzeit – vielleicht die bewegendste, der ich je beiwohnen durfte. Der Anlass war tief berührend, auf eine ganz andere Weise als die Hochzeit meiner eigenen Tochter. Den ganzen Abend über liess mich der Gedanke nicht los, wie zerbrechlich der Faden war, an welchem das Zustandekommen dieses Festes hing. Nur die Handlungsfähigkeit und Bestimmtheit der involvierten Personen und unfassbares Glück in einem bestimmten Augenblick machten den Anlass möglich. Denn es war Yotam, der an diesem Abend seine Liebe feierte – ein Überlebender des Nova-Massakers.
Yotam kenne ich seit seiner Geburt – genau genommen, sogar schon vorher. Aus persönlichen Gründen erinnere ich mich noch lebhaft an den Moment, als meine Freunde uns von ihrer Schwangerschaft erzählten. Unsere erste Tochter wurde nur wenige Monate nach Yotam geboren. Sie teilten sich das Geburtsjahr, und jetzt auch das Hochzeitsjahr.

Doch Yotam wurde am 7. Oktober 2023 ein zweites Mal geboren. Hier ist seine Geschichte.

Dass er heute lebt, liebt und heiratet, erfüllt mich mit einer Freude, die kaum in Worte zu fassen ist. Die Feier war ausgelassen. Jung und Alt tanzten in purer Freude. Wir tanzten auch für jene, die das Massaker oder den Krieg nicht überlebt haben. Für ein paar Stunden rückten der Horror, das Schlachtfeld und der Krieg in den Hintergrund. Man kann nur so leidenschaftlich tanzen, wenn man weiss, dass der Schmerz nicht weit ist. 

Das Leben geht weiter, irgendwie. Neue Familien werden gegründet, Kinder werden geboren. Ich wünsche dem jungen Paar von Herzen eine liebevolle, aufrichtige Partnerschaft und eine erfreuliche und friedliche Zukunft.

Auch beim Blick aus dem Fenster ist der Garten eine Augenweide






Mittwoch, 9. Juli 2025

Vorfreude mit Schatten

Auf diesem neu veröffentlichten Foto ist der 12-jährige Yagil Yaakov in Unterwäsche zu sehen, brutal von Terroristen misshandelt, unmittelbar nach seiner Entführung aus dem Haus der Familie im Kibbuz Nir Oz am 7. Oktober 2023. 
Sein Vater Yair war gerade ermordet worden, seine Leiche wurde nach Gaza verschleppt. 
Yagil musste 52 schreckliche Tage in Gefangenschaft ertragen, bevor er schliesslich im Rahmen eines Geiselaustauschs freikam. 
Der Leichnam seines Vaters Yair wurde erst vor wenigen Wochen gefunden und nach Israel zuruckgebracht.





Meine Sommerferien in der Schweiz rücken näher! Noch zwei Wochen! Ich freue mich, zähle die Tage. Ich sehne mich danach, meine Familie wiederzusehen, durch Schweizer Städte zu bummeln, zu Wandern – und vor allem: endlich für einige Tage die Last der Gedanken ablegen zu können, die sich in Israel rund um die Uhr um die elende Sicherheitslage drehen. Natürlich wird der Krieg in Israel nicht innehalten, nur weil ich nicht vor Ort bin. Doch die Leichtigkeit der Schweiz ist ansteckend. Nach einigen Tagen gelingt es mir meist, abzuschalten und einfach die Schweizer "Normalität" zu geniessen.

Leider überschattet ein nagendes Unbehagen meine Vorfreude. Ich weiss, dass ich in Europa etwas begegnen werde, das mir Angst macht. Pro-Palästina-Demos und steigender Antisemitismus sind das eine, von ihnen werde ich mich hoffentlich fernhalten können. Doch das ist nur die Oberfläche. Das eigentliche Problem sitzt tiefer. Es sind die harmlos klingenden Floskeln, die mich fassungslos machen.

"Ach, weisst du, Politik interessiert mich nicht. Ich verstehe diese ganzen Kriege wirklich nicht, der Nahost-Konflikt ist ja auch sooo komplex."

Fast immer stecken dahinter weiterführende Gedanken:

Der Konflikt ist komplex –
  • aber was sollen die Palästinenser tun, wenn ihnen immer mehr Land weggenommen wird?
  • die Hamas mögen Terroristen sein, aber die jüdischen Siedler sind auch militant.
  • aber der Krieg dort unten dauert schon Jahrzehnte. Die Gewaltspirale muss endlich durchbrochen und es müssen Verhandlungen auf Augenhöhe geführt werden.
  • aber der 7. Oktober ist jetzt 21 Monate her, das muss doch mal ein Ende haben.
  • aber Vierzigtausend ermordete palästinensische Kinder — ist das wirklich noch verhältnismässig?
  • aber man muss doch wohl Israel kritisieren dürfen, ohne gleich Antisemit zu sein.
  • aber hätten ausgerechnet die Juden nicht aus der Vergangenheit lernen sollen?

Meist hüten sich die höflichen Schweizer, mir gegenüber so etwas auszusprechen. Und wenn sie es manchmal doch tun – was kann man solchen Plattitüden entgegnen? Sie zeugen von totalem Unverständnis und Gehirnwäsche.

Ich weiss, wie die relativierenden Gedanken und ihre Steigerungsform, der Israelhass, zustande kommen: Jeder Schweizer Bürger bekommt seit Jahren ein feines stetiges Tröpfchen Anti-Israel-Propaganda verabreicht. Es reicht, hin und wieder eine Zeitung aufzuschlagen oder beim Autofahren das Radio oder zu Hause den Fernseher laufen zu lassen. Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Tröpfchen-Dosis noch beachtlich aufgedreht worden. Für Involvierte ist die offensichtliche Desinformation empörend, doch auf alle Anderen wirkt die Meinungsmache unaufhaltsam. Sie schafft einen moralischen Nebel, in dem Täter und Opfer, Angreifer und Verteidiger unkenntlich werden.

Aber ich lebe in diesem Land, das im Mittelpunkt aller Newsticker steht. Ich lebe in diesem Land, das im Nahen Osten seit Jahrzehnten um sein Überleben ringt und sich dabei noch rechtfertigen muss. Ich höre die Sirenen, ich lese täglich die Namen der Toten, ich kenne unzählige Menschen, deren Leben in Trümmern liegt. Ich weiss ein oder zwei Dinge über die Hintergründe. Und mir bangt und graut davor, wie die Realität in Europa ignoriert, verdreht, nicht verstanden oder nicht geglaubt wird.

Die Ausmasse der gegenwärtigen Anti-Israel-Propaganda lassen sich mit der antisemitischen Hetze im dritten Reich durchaus vergleichen. Wir sind (noch) nicht so weit, dass Juden wieder versteckt werden müssen – doch wir sind so weit, dass sich Juden in Europa nicht mehr sicher fühlen. Genauso wie die Menschen damals irgendwann glaubten, Juden seien "Ungeziefer", glauben viele heute, Israel sei an allem Übel im Nahen Osten schuld, oder bedienen das nicht weniger schlimme "Beide-Seiten"-Narrativ.
Es braucht nur ein tägliches, kaum merkliches Tröpfchen Propaganda – damals wie heute.

Übertreibe ich? Ich glaube nicht. Mein Leben in Israel, der Krieg, die ständige Bedrohung, all das beschäftigt mich Tag und Nacht. Ich kann nicht behaupten, dass ich dafür kein Verständnis bekomme, doch ich verzichte gerne auf das Mitgefühl, wenn mein Volk – und damit ich – im gleichen Atemzug mit völkermörderischen Milizen und Terroristen in einen Topf geworfen wird. Neutralität mag schön und gut sein, ist aber oft nur ein Deckmantel für Gleichgültigkeit und Ignoranz.

Doch damals wie heute gibt es in dieser Zeit des moralischen Zusammenbruchs eine kleine Minderheit, die unbeirrt weiss, was richtig ist. Einige wenige, die verstehen, dass Israel dieselben freiheitlichen und demokratischen Ideale verkörpert, die auch ihre eigene Gesellschaft tragen. Menschen, die sich mit Israel solidarisch fühlen, weil sie wissen, dass Israel für den Westen den Krieg gegen die Barbarei ausfechtet. Die wissen, dass uns freiheitliche Werte nicht in den Schoss fallen, sondern dass sie seit Jahrhunderten erkämpft worden sind und dass man weiterhin für sie einstehen muss. Menschen, die die Geschichte gut genug kennen, um zu wissen, dass das Judentum die Wurzel des Christentums ist – und dass ein Baum ohne Wurzeln nicht bestehen kann.

Kann ich es jemandem zum Vorwurf machen, nicht zu wissen, worum es geht? Wie bewahrt man sich eine eigene, unabhängige Sicht trotz Manipulation?
Es sind nur wenige, die sich nicht beirren lassen. Unter meinen Bekannten in Europa kann ich sie an einer Hand abzählen. Woher nehmen sie ihre Überzeugung? Was ist anders an ihrem moralischen Leitsatz im Vergleich zu dem der Relativierer und der Mitläufer? Ich weiss es ehrlich gesagt nicht.

Und was ist mit mir? Lebte ich in der Schweiz, zu welcher Seite würde ich gehören?

 

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Hier sind zwei Artikel zum Thema "Nahost", die aufschlussreiche Einsichten vermitteln. Sie sind beide schon etwas älter, aber immer noch sehr aktuell.






Montag, 30. Juni 2025

Ein wunderbarer Montag!





Liebe Leserinnen und Leser,

Hatten Sie heute Morgen das Verlangen, Ihren Wecker an die Wand zu schleudern? Haben Sie sich beim Gedanken an die beginnende Arbeitswoche die Decke über den Kopf gezogen? Schien Ihnen die kommende Woche aus der Perspektive des Montagmorgens wie ein unüberwindbarer Berg? Konnten Sie sich kaum aufraffen, überhaupt zur Arbeit aufzubrechen? Fühlten Sie sich erdrückt von der Last der wartenden Aufgaben und Projekte? Hatten Sie einen waschechten Montagmorgen-Blues?

Dann habe ich einen kleinen Geheimtipp für Sie:

Stellen Sie sich vor, Sie wären zwei Wochen lang – aufgrund von Zivilschutzvorschriften – ans Haus gefesselt gewesen. Sie dürften weder ins Büro noch irgendwo sonsthin gehen oder fahren. Stellen Sie sich vor, Sie hätten all Ihre erwachsenen Kinder, deren Partner, vielleicht auch Enkelkinder und weitere Angehörige bei sich beherbergen müssen. Tag und Nacht. Zwei volle Wochen.

Denken Sie sich, dass Sie rund um die Uhr am Aufräumen, Waschen und Putzen wären, während Sie gleichzeitig im Homeoffice arbeiten müssten, stets mit dem Bemühen, gegenüber den Mitarbeitern in Amerika den Eindruck völliger Normalität zu wahren. Stellen Sie sich vor, in jeder Ecke ihres Hauses sässe jemand mit Laptop, auf der verzweifelten Suche nach Ruhe und Konzentration.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten jeden Tag eine reichhaltige Mahlzeit für fünf bis zwanzig Personen auf den Tisch zaubern –, ohne dass Ihr Vorgesetzter merkt, wie sehr Sie jonglieren.

Und jetzt stellen Sie sich vor, dass Sie zu allen möglichen Nachtstunden aus dem Schlaf gerissen würden, um sich dann mit gereizten Menschen in unvorteilhafter Kleidung in einem luftdicht geschlossenen kleinen Schutzraum zusammenzudrängen. Dass Sie auch tagsüber alle paar Stunden ohne Vorwarnung alles stehen und liegen lassen und in den selben Raum rennen müssen. Dass Sie dort eine halbe Stunde ausharren müssen, in den Ohren ein unbestimmbares, fürchterliches Grollen und gewaltige Einschläge, die bis ins Mark erschüttern.

Nach jedem Alarm dürfen Sie sich nur kurz schütteln, um dann, möglichst unbeirrt, mit Ihren täglichen Verrichtungen fortzufahren – obwohl wenige Kilometer entfernt ganze Wohnviertel in Schutt und Asche gelegt worden sind. Sie verdrängen die Gedanken an diejenigen, die dieses Mal nicht überlebt haben. Sie blenden die Angst aus, dass es beim nächsten Mal Sie selbst treffen könnte, um weiter funktionieren zu können.

Ja, ich weiss, es waren "nur" zwei Wochen. Anderswo leben Menschen Monate oder gar Jahre unter solchen Bedingungen. Aber mir hat es gereicht, um meine Prioritäten zurechtzurücken.

Ich empfand es heute Morgen, nach zwei Wochen zu Hause, im Krieg, geradezu wunderbar, ins Büro zu fahren. Willkommen, schöner Montagmorgen! Wie aufregend, eine volle Arbeitswoche im Büro vor mir zu haben, was immer sie bringen wird! Was für ein wohltuend lebendiger Montagmorgenverkehr! Was für ein komfortables, klimatisiertes, ruhiges Büro! Wie aufregend, den Computer hochzufahren und die Software zu begrüssen! Was für eine fantastische Kaffeemaschine! Freundliche, gut gelaunte Kolleginnen und Kollegen! Und dann erst das Mittagessen in der Kantine! Einfach köstlich, ohne dass ich auch nur einen Finger hätte rühren müssen!

Was für ein großartiger Wochenanfang!
Was für ein wunderbarer Montag!




Sonntag, 29. Juni 2025

Freitag nach dem Krieg




Meine Schwiegermutter überrascht uns mit einem leuchtend roten Haarschopf! Die radikale Änderung ist auf ein missglücktes Experiment zurückzuführen. Bis vor Kurzem noch dezent in blond-grau, wirkt die neue Haarfarbe wie ein Feueralarm.

Am Freitag treffen wir uns bei der quirligen 85-Jährigen zum gemeinsamen Essen. Auch Eyals Brüder, meine Schwägerin sowie mehrere Enkelkinder sind da. Alle amüsieren sich über das Missgeschick und vor allem über die schockierten Gesichter der Gäste, die ihre Überraschung kaum verbergen können.
Ich selbst muss beim ersten Anblick kurz schlucken. Dann versichere ich jedoch höflich, dass ihr die neue Farbe eigentlich ganz gut steht. Nur meine Schwägerin nimmt wie immer kein Blatt vor den Mund. "Bist du verrückt? So kannst du unmöglich auf die Strasse gehen!" Alle lachen über die gnadenlose, doch gut gemeinte Ehrlichkeit. Und wir schmunzeln über die "verrückte alte Frau", die auch vor den roten Haaren schon als etwas meschugge galt. Und sie? Sie freut sich über die vielen Gäste, sorgt dafür, dass niemand hungrig bleibt, kümmert sich einen Dreck um ihr Aussehen und was ihre Angehörigen darüber denken — und lacht mit.
Überhaupt lachen wir viel an diesem Freitag.

Dieses Essen hätte vor zwei Wochen stattfinden sollen. Doch dann kam der Krieg mit dem Iran — ein unerwartetes, plötzlich losbrechendes Inferno. Eine Steigerung der eh schon kaum erträglichen, andauernden Kriegssituation. Meine Schwiegermutter wurde für zwölf Tage zu meinem Schwager gebracht, wo sie vielleicht nicht sicherer, doch wenigstens nicht alleine war. 

Jetzt, zwei Wochen, mehrere Tausend Sirenenalarme (verteilt über das ganze Land), etwa 25 Einschläge, 28 israelische Todesopfer, Hunderte Verletzte, unzählige Obdachlose und immense Zerstörung später, ist diese Phase des Krieges vorbei.
Der Krieg endete am Dienstagmorgen in einem bedrohlichen Crescendo von Raketensalven, die uns dreimal innerhalb einer Stunde in die Schutzräume trieben.
Danach wurde es ruhig.

Schon am selben Abend verkündete der israelische Zivilschutz die Rückkehr zur Normalität: Die Schulkinder durften wenige Tage vor Beginn der Sommerferien wieder zur Schule gehen, wir kehrten zurück an die Arbeit, öffentliche Veranstaltungen waren wieder ohne Einschränkung erlaubt.

Auch ich könnte seither wieder ins Büro fahren, doch ich brauche noch Zeit, um den Schrecken abzuschütteln und vom Überlebensmodus ins bewusste Leben zurückzufinden. Die Raketen aus dem Iran, mit ihren mehrere Hundert Kilogramm schweren Sprengköpfen, die ausschliesslich auf israelische Zivilisten abgefeuert wurden, sind eine Bedrohung völlig anderer Dimension als die "gewohnten" Raketen aus Gaza, dem Jemen oder dem Libanon. 
Erst nach Inkrafttreten der Waffenruhe wird mir bewusst, wie angespannt ich in diesen zwölf Tagen war. Jedes Zuschlagen einer Tür, jedes aufheulende Motorrad lässt mich zusammenzucken. Doch auch das Ausbleiben der Alarme, die plötzliche Stille, ist unheimlich. Lianne läuft seit Tagen murmelnd durchs Haus: "Kein Alarm — ich kann es nicht glauben — kein Alarm."

Ich lese fieberhaft Nachrichten, Analysen, Kommentare. Millionen frischgebackene Nahost-Experten und wilde Spekulanten überfluten die Medien. Wie stark ist das iranische Atomprogramm getroffen? Welche Auswirkungen wird Israels Präventivschlag auf die Weltordnung haben? Welche geopolitischen Folgen zeichnen sich ab? Vielleicht stehen historische Veränderungen bevor. Vielleicht auch nicht. 
Ich suche nach einem letzten Strohhalm, der mir die quälende Frage erleichtern könnte, ob mein Dasein in dieser niemals zur Ruhe kommenden Kriegsregion noch erträglich und zu meistern ist. 
Doch ich werde nicht klüger. Die Meinungen klaffen tief auseinander, die Analysen widersprechen sich stündlich. Die Lage ist unüberschaubar. Nichts vermag zu trösten.

Im Gegenteil. Schmerzlich bestätigt sich: Die Welt ist von Israel besessen — und nicht etwa im Guten. Eine Art kollektive Obsession herrscht in der westlichen Welt. Totaler Realitätsverlust und Ignoranz gegenüber der realen Bedrohung bilden den Boden für einen düsteren Anti-Israel-Rausch. Je mehr ich lese, desto tiefer öffnet sich der Abgrund der Ungeheuerlichkeiten.

Ich nehme mir also wieder einmal vor, mich nur auf mich selbst und meine Familie zu konzentrieren. Die wenigen Dinge aufzuspüren, die ich beeinflussen kann. Alles andere macht mich nur wahnsinnig. Alles andere muss gehen.


Schließlich holen wir am Freitag, mit zweiwöchiger Verspätung, das gemeinsame Essen nach. Niemand spricht vom Krieg. Alle wirken erleichtert: Wir leben. Wir haben ein Dach über dem Kopf. Wir lachen. Schon lange habe ich diese Familie nicht mehr so locker und fröhlich erlebt. Sogar das T-Shirt meines Schwiegersohnes wird zum Gegenstand einer heiteren Debatte: Ist es nun violett? Braun? Oder doch auberginefarben? Oder sind wir alle farbenblind?

Nur etwas ist gewiss: Die Haare meiner Schwiegermutter sind knallrot.




Donnerstag, 19. Juni 2025

Im Keim erstickter Optimismus

Der Wecker weckt mich nach fast sieben Stunden ununterbrochenem, süssem Schlaf. So viel und gut schlafen oft nicht einmal Menschen in friedlicheren Regionen. Der Tipp, nachts das Handy auf Flugmodus zu stellen, ist Gold wert. So schweigt mein Telefon auch während den Vorwarnungen nach Mitternacht, auf welche in unserem Dorf prompt kein Sirenenalarm folgt. Die Alarme in den Nachbardörfern höre ich dank des geschlossenen Fensters auch nicht.

Gestern war es tagsüber relativ ruhig und schon stellt sich bei mir heute Morgen ein vorsichtiger Optimismus ein. Die Anweisungen des israelischen Zivilschutz-Kommandos sind leicht gelockert worden, Zusammenkünfte von bis 30 Personen sind wieder erlaubt, die Schulen bleiben jedoch weiterhin geschlossen.

Nach einigen Tagen Pause vom Sport fahre ich kurz nach 6 Uhr dreissig zum CrossFit-Training im Nachbardorf. Die Sonne ist schon vor einer Stunde aufgegangen, aber der Horizont präsentiert sich noch in leuchtendem Rosa und Hellblau. Das Radio spielt ein mitreissendes israelisches Lied, ich drehe die Lautstärke auf und singe mit. Es ist das erste Mal seit Tagen, dass ich unser Dorf verlasse. Ich bin in bester Stimmung und fast bereit, die Aussage betreffend meiner Liebe zu Israel aus meinem letzten Blogbeitrag zurückzunehmen. Wenn das alles war, denke ich schon fast übermütig und vielleicht ein bisschen naiv, war es auszuhalten.

Um Punkt 7 Uhr beginnt der CrossFit-Trainer das heutige Training zu erklären. Um 7:02 schrillen in wunderbarer Koordination alle zur Seite gelegten Handys: Vorwarnung! Wir müssen uns in die Nähe eines Schutzraumes begeben. Der nächste Bunker liegt zwei Strassen entfernt. Wir sind zwar sportlich, aber jetzt gerade hat keiner der Trainierenden Lust auf einen 700-Meter-Sprint. So fahren wir mit den Autos zum öffentlichen Schutzraum des Quartiers. Die Hartnäckigen unter uns führen auf dem Rasen vor dem Bunkereingang unbeirrt das Aufwärmprogramm fort: Hampelmänner, Kniebeugen, Rumpfbeugen. Die Alarmsirenen erlösen uns, jetzt ist es Zeit, in den unterirdischen Bunkerraum hinunterzusteigen.

Etwa dreissig Menschen drängen sich zu dieser frühen Stunde in den 30 Quadratmeter grossen fensterlosen Raum. Jemand hat vorgesorgt, Matten liegen auf dem Boden, es gibt wenige Sitzmöglichkeiten, Wasserflaschen, einen Ventilator. Das Quartier am Dorfrand ist bei Joggern beliebt und so stossen weitere schwitzende Menschen in Sportkleidung zu uns. Den Bewohnern des Quartiers scheint die Abwechslung willkommen zu sein, sie mustern uns aufmerksam. Nur eine religiöse Frau hebt ihre Augen keinen Augenblick von ihrem Gebetbuch. Ein älteres Paar sitzt in einer Ecke auf ihren mitgebrachten Campingstühlen. Sie schwelgen mit geschlossenen Augen in Erinnerungen an bessere Zeiten. Man sieht den Schutzsuchenden an, dass sie aus dem Schlaf gerissen worden sind. Ein sehr umsorgter Junge liegt in einem Liegestuhl und wird von den Eltern sorgfältig zugedeckt, um den ungerechten Schlafunterbruch so angenehm wie möglich zu gestalten. Zwei arabische Gartenarbeiter fühlen sich vielleicht etwas deplatziert, aber keiner beachtet sie. Einige Hunde drücken sich beunruhigt an ihre Besitzer. Ein gutgelauntes Baby freut sich über den unerwarteten Ausflug mit seinem Vater, es lacht uns alle an. Ich setzte mich auf den Boden. Von draussen sind starke Booms vernehmbar.

Eine Viertelstunde später steigen wir nach oben und fahren zurück zum Trainingsraum. Wir schütteln die verwirrenden apokalyptischen Gefühle von uns ab und einigen uns auf ein verkürztes Training für die verbleibende halbe Stunde. Die Nachrichtenjunkies unter uns gucken jedoch zuerst in ihre Handys. 

Einige der Raketen trafen zivile Ziele, andere verfehlten oder konnten abgeschossen werden. Die eingeschlagenen Raketen haben große Zerstörungen zufolge. Es gab Einschläge in Wohn- und Geschäftsvierteln in Holon und Ramat Gan und vor allem wurde das Soroka-Krankenhaus in Berscheba direkt getroffen. Mindestens 60 Menschen wurden verletzt, das Krankenhaus muss evakuiert werden. 




Erst später, im Laufe des Tages, merke ich, wie sehr mir der Schrecken dieses Morgens in den Gliedern sitzt. Ich versuche zu arbeiten, bin aber vollkommen unkoordiniert und vergesslich. Nur Schmerztabletten verschaffen mir etwas Linderung gegen die verspannten Glieder.

In dem ganzen Chaos gibt es auch einige erfreuliche Nachrichten: Eine Freundin konnte mit ihren zwei Kindern Plätze auf einem Passagierschiff nach Israel ergattern. Wegen der Flugsperre ist die Familie vor einer Woche in Rumänien stecken geblieben und dann nach Zypern geflogen. Sie befinden sich in diesen Stunden auf der Heimreise.

Ach Israel! Wo sonst noch lassen sich Tausende auf Wartelisten setzen, um mit Rettungsflügen und -Schiffen in ein Land gebracht zu werden, in welchem mehrmals täglich lebensbedrohliche Raketen einschlagen? 



Dienstag, 17. Juni 2025

Hundert Sorgen weniger



Auf Instagram stosse ich auf ein Video von Menschen beim Rheinschwimmen im sommerlichen Basel. Dutzende, die sich treiben lassen. Ihre Köpfe erscheinen nur als kleine farbige Punkte, doch ich weiss, dass die Schwimmenden in diesem Moment glücklich sind. Eine weiss eingeblendete Zahl zählt rückwärts von 100 bis 0 und suggeriert, wie sich in dem zauberhaften Nass hundert Sorgen im Nichts auflösen, bis die Badenden sorgenfrei bei der nächsten Rheinbrücke aus dem Wasser steigen.

Nachts um halb eins nähert sich Israel eine weitere Raketensalve aus dem Iran. Die Vorwarnungen auf dem Handy wecken mich erneut aus dem Tiefschlaf, doch die Sirenen in unserem Dorf bleiben ruhig. Ich habe das jetzt kapiert: Keine Sirene bedeutet – kein Rennen in den Schutzraum. Man muss die Handywarnungen einfach ignorieren. Doch ich bin, etwa eine Stunde nachdem ich mich schlafen gelegt habe, hellwach. 
Drehe mich schlaflos im Bett.

Denke an die Badenden in Basel. Die Bilder haben mich in meinem verwundbarsten Inneren getroffen. Ich sehne mich so sehr danach, mich in einem kühlen Schweizer Fluss treiben und dabei alle Sorgen und Ängste wegspülen zu lassen. Erfrischt und grenzenlos erleichtert aus dem Wasser zu steigen.

Tut mir leid, einst geliebtes Land Israel: Es ist aus zwischen uns. Ich habe mich entliebt. Ich bezweifle, dass wir uns einst eine Partnerschaft bis zum Tod versprochen haben. Mag sein, dass es feige ist, sich in schlechten Zeiten abzuwenden. Doch ich bin erschöpft, ich kann nicht mehr. Ich muss weg, nach Basel.

Aber der Flugverkehr ist gesperrt, so bleibt mir das Dilemma Gehen oder Bleiben erspart. 
Es gibt keinen Ausweg, ich muss da durch. 

So bleibe ich da, mit einer immensen, schmerzlichen Sehnsucht nach einer anderen, einer sorgenfreien Welt.





Montag, 16. Juni 2025

Kleinkram

Schon wieder sitzen wir nachts um halb drei Uhr im Schutzraum, obwohl es gar nicht nötig wäre. Wenn man schläft, sind die Warnnachrichten auf dem Handy wirklich verwirrend. Vorwarnungen, Warnungen der Regionen der persönlichen Wahl, Echtzeit-Warnungen vor Ort. Das Handy zirpt alle paar Minuten wie wild, ich schrecke auf und steuere noch schlafend in Richtung Schutzraum. Vor lauter Gezirpe merke ich gar nicht, dass ich keine Sirenen gehört habe. Wer besteht schon morgens um halb drei im Tiefschlaf einen Intelligenztest? Aber nicht nur ich bin verwirrt. Mitglieder der Gruppe unseres Wohnortes diskutieren am Morgen danach auf Facebook lebhaft, ob die Sirenen bei uns wirklich geheult haben oder nicht, denn wir hören auch die Sirenen der Nachbardörfer.

Alle paar Stunden heulen die Sirenen aber auch bei uns tatsächlich, vor allem nachts. Nur etwa neunzig Prozent der Raketen aus dem Iran werden abgefangen. Die eintreffenden Geschosse richten oft grossen Schaden an. Fast jeden Morgen wachen wir jetzt zu Nachrichten über Tote und Verletzte auf.

Viele Geschäfte sind geschlossen.
Im Supermarkt gibt es keine Eier mehr.

Die Hochzeit des Sohnes unserer guten Freunde wird auf unbekannte Zeit verschoben. Die Anzüge und festlichen Kleider hängen wartend im Schrank.

Zehntausende Israelis stecken wegen der Flugunterbrechung im Ausland fest und umgekehrt können ausländische Reisende nicht wegfliegen. Viele sammeln sich in Zypern oder Griechenland, in der Hoffnung, dass es dort Rettungsflüge oder andere Möglichkeiten geben wird, nach Israel zurückzukehren. Doch die Hotels sind ausgebucht, die Übernachtungsmöglichkeiten müssen Nacht für Nacht neu erkämpft werden. Unterdessen warten Kinder oder andere Familienmitglieder in Israel. Auf Facebook bilden sich Gruppen Verzweifelter, die sich in Reisegruppen organisieren: In Zypern werden Plätze nach Israel auf zwielichtigen Yachten offeriert, andere suchen Skipper für gemeinsam gemietete Segelboote, wieder andere wollen Israel auf dem Landweg über Jordanien oder den Sinai verlassen.

Man wird angehalten, nicht zur Arbeit zu fahren und in der Nähe von Schutzräumen zu bleiben. Wir sind fünf erwachsene Personen im Haus, die versuchen, irgendeine Routine aufrechtzuerhalten. Jeder sucht sich für die Arbeit im Heimbüro ein ruhiges Eckchen. Nur Lianne ist frustriert und verängstigt, als temporär angestellte Schulassistentin ist sie wieder einmal fristlos arbeitslos. Dazu kommen die Ängste vor den Raketen, dem Vernichtungswut des Mullah-Regimes und die ungewissen Zukunftsaussichten.

Alle wollen essen. Ich bin ständig am Putzen, organisieren, aufräumen. Dabei fühle ich mich völlig gelähmt. Die Situation ist apokalyptisch.

Am Nachmittag wagt das junge Paar eine Reise in ihre Wohnung in Tel-Aviv, um Kleider und einen weiteren Computer-Bildschirm zu holen. Sie staunen über die leergefegten Strassen und die freien Parkplätze im Überfluss. Aber kaum kommen sie an, schrillen die Sirenen. Sie lassen das Auto stehen und laufen in den nächstliegenden öffentlichen Schutzraum, zusammen mit Dutzenden Nachbarn, Kleinkindern und deren zahlreichen Haustieren im Schlepptau. Die unangenehme Erfahrung bewegt sie, früher zu uns zurückzufahren als geplant. Sie treten gerade ein, als es auch bei uns losgeht. Wir suchen erneut gemeinsam den Schutzraum auf. Trotz geschlossener Eisentüre hören wir die lauten Booms der verschiedenen Abwehrsysteme, Fenster und Wände rütteln.

Aber das ist alles Kleinkram. Wir sind froh, unversehrt zu sein. Die Situation ist ernst. Mit diesen Raketen ist nicht zu spassen. Jede Nacht gibt es Einschläge mit zahlreichen Verletzten. Wohnhäuser werden getroffen und brechen zusammen. Viele Menschen können nur noch tot geborgen werden.



Ein LKW-Fahrer macht Gebrauch von einem transportablen Schtutzraum






Samstag, 14. Juni 2025

Lagebericht

Gerade als ich denke, dass es nichts mehr zu schreiben gibt, weil uns der monotone Alltag wieder hat, geht der Wahnsinn von Neuem und erst richtig los. Das Spektakel hat seinen Auftakt in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag mit einer Reihe verwirrender Alarme: Zuerst zerreissen die Alarmsirenen in der Nachbarschaft die Ruhe der Nacht, dann gehen verschiedene, markdurchdringende Alarmtöne auf dem Handy los. Es sind nicht die bekannten Alarme der Heimatfront-App, die vor Raketen aus dem Jemen, dem Libanon oder aus Gaza warnen, sondern besonders beunruhigende Push-Alarme. Sie erreichen alle Handys, auch bei Leuten, die die App der Heimatfront gar nicht heruntergeladen haben (das ist an sich schon beunruhigend). Wir können die seltsamen, grellen Handy-Notwarnungen nicht einordnen und so finden wir uns Mitten in der Nacht im Schutzraum wieder, nur um kurz danach herauszufinden, dass das gar nicht nötig wäre. Eyals Bruder ruft an, um uns mitzuteilen, dass Israel einen lange geplanten Präventivschlag gegen iranische Atom- und Militäranlagen begonnen hat. Die Lage scheint ernst zu sein, der Bruder telefoniert Mitten in der Nacht aus dem Auto. Auf dem Beifahrersitz befindet sich meine Schwiegermutter. Sie ist aus dem Bett gerissen worden, um die kommenden Tage bei der Familie zu verbringen. In ihrer Wohnung in Netanya müsste die verwitwete 85-jährige sechs Stockwerke hinuntersteigen, um bei Alarm den einzigen Schutzraum des Mehrfamilienhauses aufzusuchen. 

Zu uns kommen im Verlaufe des Freitags die Frischvermählten aus Tel-Aviv. Wer kann, verlässt die Stadt im Zentrum, die das bevorzugte Ziel für die Raketenangriffe der barbarischen Despoten aus dem Iran ist. Ausserdem verfügen viele Wohnungen in den älteren Gebäuden in Tel-Aviv über keine eigenen Schutzräume und die Bewohner müssen bei Alarm in die öffentlichen Bunker rennen.


Unser eigener Schutzraum wurde in friedlicheren Zeiten zu einem Arbeitszimmer umfunktioniert, er ist klein und eng. Aber notfalls finden einige Personen der Wand entlang Platz. Wir haben Stühle hineingestellt, Wasserflaschen, Handybatterien und Notlampen.

In der Nacht auf Samstag feuert der Iran mehrere Salven ballistischer Raketen auf die israelische Zivilbevölkerung ab. Immer wieder reissen uns die Sirenen aus dem Schlaf.
Am Morgen erfahren wir, dass einige der Raketen nicht abgewehrt werden konnten. E
s gibt Tote, viele Verletzte und beträchtlichen Sachschaden.


Der Samstag verläuft ruhig, vielleicht aufgrund des schiitischen Feiertags im Iran. Wir betreiben die perfekte Realitätsflucht: Den ganzen Tag gehen Freunde der Kinder ein und aus. Sie sitzen im Garten zusammen, unterhalten sich, essen und trinken und spielen mit ihren Kindern. Die unerwartete familiäre Quality-time ist erfreulich, doch die Anspannung bleibt. Ist es die Ruhe vor dem Sturm? 

Am Shabbatende richten wir für die offizielle Durchsage des Armeesprechers den TV-Projektor in der Stube ein. Diese Woche findet kein Unterricht statt und nur als unentbehrlich eingestufte Organisationen dürfen arbeiten. Der Luftraum bleibt bis auf Weiteres geschlossen, der Flugbetrieb ist eingestellt. Genaue Anweisungen für das Verhalten bei Alarm werden durchgegeben. Was erwartet uns diese Nacht?

Ich bete, dass wir alle geschützt bleiben und dass niemand zu Schaden kommt. Doch vor allem hoffe ich von ganzem Herzen auf den Erfolg der militärischen Massnahmen und dass sie nicht nur der Sicherheit Israels dienen, sondern auch dem Wunsch des iranischen Volkes nach Freiheit entgegenkommen werden.


Wir haben Angst schlafen zu gehen. Gerade ist wieder eine Vorwarnung eingetroffen, dass weitere Raketensalven unterwegs sind. Vor dem nächsten Alarm drücke ich noch schnell auf "Beitrag veröffentlichen".













Donnerstag, 5. Juni 2025

Ein fragwürdiges Jubiläum

Als unsere Zeitrechnung ins Jahr 2000 überging, befürchteten die Industrienationen ein globales Fiasko aufgrund weitreichender Softwareabstürze. Entgegen aller Erwartungen verlief der Übergang reibungslos, doch für mich persönlich brachte er in den ersten Tagen des neuen Jahres einen Lebens-prägenden Neubeginn.

Nach der Geburt des zweiten Kindes und zweieinhalb Jahren Babypause fand ich endlich eine neue Arbeit. Alle vorherigen Möglichkeiten hatte ich ausgeschlagen, denn nichts schien mir damit vereinbar, dass ich jetzt für zwei kleine Kinder und den Haushalt einer Familie verantwortlich war. Doch dann legte mir das Schicksal ein Angebot in einer angesehenen internationalen Firma vor die Füsse, das ich nicht ablehnen konnte.

Einige Monate nach Arbeitsanfang und Anstellung über eine Vermittlerfirma folgte die Festanstellung. Danach vergingen einige Tage, Wochen, Monate und – schwups! landete vor einigen Tagen eine E-Mail in meiner Mailbox, in der mir mein Arbeitgeber zum 25-jährigen Dienstjubiläum gratuliert.

Ich bin alles andere als stolz darauf, fast ewig beim selben Arbeitgeber hocken geblieben zu sein. Das zeugt nicht gerade von Flexibilität und Mut zum Abenteuer.


Wer will schon so einen Grabstein?

Immerhin darf ich mir anrechnen, dass ich in ferner Vergangenheit den Umzug in ein fremdes Land gewagt habe. Dieser Perspektivenwechsel hat meinen Lebenshorizont ins Unermessliche bereichert. Doch ich befürchte, dass auch diese Änderung bei mir nicht unbedingt mit Pioniergeist zu tun hatte, sondern eher mit reichlich Naivität und der Unfähigkeit, vorauszudenken.

Seien wir ehrlich – eine sehr wagemutige Draufgängerin bin ich nicht. Es gab da und dort einige Versuche, berufliche Änderungen vorzunehmen, doch schlussendlich schaffte ich den Absprung nie. Obwohl es ärgerliche Phasen, Mitarbeiter oder Vorgesetzte gab, waren diese Firma und mein Job einfach immer zu bequem und zu passend für mich. Bei persönlichen Belangen und Bedürfnissen, in Zeiten von Krankheit, der Geburt des dritten Kindes und überhaupt als Mutter von kleinen Kindern, kam mir die Firma immer sehr grosszügig entgegen. Dazu kommen das internationale Umfeld, der kurze Arbeitsweg, die vorteilhaften Bedingungen, der sichere Lohn, die ganz akzeptable Kantine – kurzum ein mehr als zufriedenstellendes Gesamtpaket.

Natürlich waren die 25 Jahre auch stets von beruflichen und persönlichen Änderungen geprägt. Ich bin fast zehnmal in ein anderes Büro in verschiedenen Gebäuden umgezogen. Als die Firma vor einigen Jahren gesundgeschrumpft und meine gesamte Abteilung aufgelöst wurde, bekam ich als einzige meines Teams eine weitere Chance und startete in einer anderen Abteilung in eine neue Karriere.

Ich konnte beruflich mehrere Male in die USA und verschiedene Länder Europas reisen. Ich bin auf Kosten der Firma Business-Class geflogen, habe in ausgezeichneten Restaurants gespeist und in den besten Hotels geschlafen. Was aber noch viel prägender war: Ich hatte die Möglichkeit, Menschen in den USA, in Deutschland, Frankreich, England und Kroatien als Arbeitskollegin und nicht als Touristin zu erleben. Ich habe mich in den Städten Europas in Menschenmassen eingereiht, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln frühmorgens zur Arbeit und abends wieder zurück zu pendeln. Ich habe in Firmengebäuden in Industrie-Vororten mit den Mitarbeitern in der Kaffeeküche geplaudert. In den Vororten von Philadelphia bin ich mit dem Mietwagen zur Arbeit gefahren und habe in amerikanischen Grossraumbüros braune Brühe in XXL Tassen geschlürft. Ich durfte sogar mehrere Male in die Schweiz reisen, wo die Firma in der Stadt meiner Gymi-Zeit einige Jahre über einen Firmensitz verfügte. Diese Erfahrungen brachten Abwechslung und sie begeisterten und erfüllten mich.

Seit meiner ersten Arbeitsjahre in der Firma haben globale Umwälzungen die Arbeit grundlegend verändert und ich habe die Digitalisierung einst manueller firmenspezifischer Prozesse erkundet und mitentwickelt. Später habe ich gelernt, mein Wissen weiterzugeben und bin daran gewachsen, ein Team zu leiten. Ich habe mindestens 15 direkte Vorgesetzte überdauert.



Nun habe ich hier schon fast meine eigene Abschiedsrede verfasst – aber leider muss ich noch drei weitere Jahre absitzen, bis ich rechtmässig in Rente gehen kann. Es wäre keine Katastrophe, früher aufzuhören. Zurzeit macht es Spass, nicht mehr unter Druck zu arbeiten. Ich muss keine Familie mehr miternähren und keine erfolgreiche Karriere mehr aufbauen. Ich arbeite mit dem Wissen, dass ich einfach gehen kann, falls mir jemand zu sehr auf den Wecker fällt.

Gerade in diesen Tagen bekomme ich wieder eine neue Vorgesetzte. Sie hat ihren Sitz in den USA und aufgrund der Zeitverschiebung werden wir nicht allzu viele gemeinsame Arbeitsstunden haben. Doch ich werde mir Mühe geben müssen, einen guten Eindruck zu machen. Mit 25 Jahren Dienstalter ist der Grat zwischen erfahrener und veralteter Erscheinung sehr schmal.

An schlechteren Tagen ist die grösste Herausforderung das Gefühl, dass sich alles ins Unendliche zu wiederholen scheint und dass mir manchmal einfach die Geduld ausgeht für neue Projekte. Dann bin ich versucht, draufgängerischen Arbeitskollegen, die glauben, die perfekte Lösung für irgendein Problem gefunden zu haben, den Wind aus den Segeln zu nehmen und auszurufen: Nehmt's mal locker, das war doch alles schon da!

Doch dann besinne ich mich. Natürlich werde ich auch bei diesem Projekt noch mitmachen. Einfach, weil ich es kann. Und ich werde auch weiterhin lernen, ausprobieren, Dinge hinterfragen und Prozesse erneuern.

25 Jahre mögen wie eine Ewigkeit erscheinen, doch sie waren gefüllt mit Wandel, Wachstum und wertvollen Begegnungen. Nichts Grandioses oder Umwerfendes, aber doch stetig, in kleinen, unauffälligen Schritten.


Montag, 2. Juni 2025

Zwischen Leere und Luftschutzalarm

Endlich ist wieder etwas Ruhe in mein Leben eingekehrt. Nach der Hochzeit und all den damit einhergehenden Umtrieben habe ich ein bisschen das Gefühl, dem Wahnsinn ins Gesicht gesehen zu haben. Umso mehr geniesse ich nun etwas, das man fast als Leere beschreiben könnte. Der Sohn zurück in der Schweiz, die jung Vermählten in Griechenland, Lianne in der frei stehenden Wohnung des Paares in Tel-Aviv. Niemand kommt. Keine Projekte. Ich faulenze.

Am Wochenende verschlinge ich das Buch "Meine Sprache wohnt woanders" von Chaim Noll und Lea Fleischmann. Gedanken von zwei nach Israel ausgewanderten Juden, über Deutschland und Israel. Lea Fleischmann schreibt über die Armut, in welcher sie aufwuchs "Sie lehrte mich, dass das geschliffene Wort es mit funkelndem Schmuck aufnehmen kann, und sie lehrte mich, dass der Geist die Armut überwinden kann." Die beiden Autoren sind wahrlich Wort- und Sprachkünstler, sie erschaffen zusammen in vollkommener Ergänzung ein sehr poetisches Werk.
Lea Fleischmann findet in Israel den Glauben und die Spiritualität. Die Freude, mir der sie ihr religiöses Leben beschreibt, ist authentisch, nachvollziehbar und fast ansteckend. 
Es tut mir gut, über die Liebe und die spirituelle Beziehung der Autoren zu Israel zu lesen, vor allem jetzt, in einer Zeit, da es nicht mehr einfach ist, das überrumpelte, geschundene, fast zerbrechende Land zu lieben. Mit meinen Schweizer Wurzeln empfinde ich es als immer bedrückender, in einem Land zu leben, das die halbe Welt vernichten will, während die andere halbe Welt der Meinung ist, Israel hätte den Krieg selbst zu verschulden oder wäre sogar der Aggressor. 
Das Buch wurde 2006 geschrieben und der Rückblick ist eine aufschlussreiche Zeitreise. Obwohl der Nahe Osten schon damals eine schwierige Region war, ist seit dem Pogrom und dem gegenwärtigen Krieg alles noch radikal komplizierter. Schon 2006 schreibt Chaim Noll "in dem eskalierenden Konflikt mit der arabischen Welt, der weitgehend unser Leben bestimmt, geht es für Israel um das Überleben als Staat und als Volk." In tiefgründigen Analysen beschreibt er eingängig das komplexe Israel in Einbezug der jahrtausendealten Geschichte. 
Unterdessen ist der "Konflikt" vollkommen eskaliert. Wir stehen nicht mehr am Abgrund – spätestens am 7. Oktober 2023 sind wir darüber hinaus gestürzt, seither befinden wir uns im freien Fall. Die gesamte Weltengemeinschaft rast dem Aufprall entgegen. Wie werden wir landen?
Ich weiss nicht, was Chaim Noll und Lea Fleischmann heute schreiben würden, wenn sie denn überhaupt noch Worte fänden. Doch ich blende diese Gedanken aus, versetzte mich zwei Jahrzehnte zurück und finde es mitreissend und sehr überzeugend, wie Lea Fleischmann auf Deutschland blickt und wie sie in Israel ihre Berufung gefunden hat.



So ruhig wie mein Leben ist die Situation in Israel dann aber doch wieder nicht. Immer wieder durchbrechen Düsenjäger die Stille. Vor allem abends rütteln ferne Detonationen am Fundament unseres Hauses und lassen die Wände und Fenster erbeben. Ich schrecke jedesmal hoch und wundere mich, dass alles noch steht. Und immer wieder heulen Sirenen. 
Einen Abend verbringen wir bei Freunden bei der Eröffnung eines zauberhaften Kaffeekiosks, den sie mit eigenen Händen aus einem verrosteten alten Anhänger erschaffen haben. Irgendwann rattern die Handys aller Anwesenden gleichzeitig. Gespräche werden unterbrochen. Eltern rufen ihre Kinder an. Der Ort, an dem wir uns befinden, bleibt vom Alarm verschont, aber die Sirenen der umliegenden Ortschaften heulen durch die Nacht.
Lianne arbeitet an diesem Abend als Babysitter in Herzliya. Sie erzählt am nächsten Morgen, dass die zwei älteren Kinder unaufgefordert in den Schutzraum gegangen sind, als wäre es das Alltäglichste auf der Welt. Das dritte Kind, das schon schlafend im Bett liegt, trägt Lianne in den Schutzraum. Zehn Minuten später legt sie es wieder in sein Bett. Ich bewundere meine Tochter für ihre unbeirrbare Ruhe und bin gleichzeitig schockiert, wie selbstverständlich israelische Babysitter so nebenbei als lebensrettende Schutzengel fungieren.








Montag, 26. Mai 2025

Ein Fest des Lebens – trotz allem


Unsere Tochter ist verheiratet, die Hochzeit liegt hinter uns! Wir blicken auf einen sehr turbulenten Party-Marathon und ein wunderbares Fest zurück.

In den letzten Tagen folgten die Ereignisse Schlag auf Schlag: am Dienstagabend besuchte Sivan die Mikve, die spirituelle Reinigung für Frauen vor der traditionell-religiösen Hochzeit. Mit meinem säkularen Lebensstil ist mir das rituelle Bad fremd. Doch dann empfinde ich das Eintauchen und die Segenssprüche als Verbindung mit den jahrtausendealten Traditionen des Judentums, das ich so sehr schätze und liebe, als zutiefst ergreifend. Im Anschluss insistieren Sivans Freundinnen auf das traditionelle Challah-Teigopfer, eine Zeremonie in der Frauen um den Segen für die neu gegründete Familie beten. Den lustigen und lockeren Abend mit viel Vorfreude auf den neuen Lebensabschnitt lassen die Freundinnen bei einigen Gläsern Wein bei uns im Garten ausklingen, während ich Schlafen gehe.
Am nächsten Tag putzen wir das Mehl weg und sind mit letzten Vorbereitungen beschäftigt. Am Abend treffen sich die Freundinnen wieder bis in späte Stunden bei uns im Garten – diesmal ohne traditionellen Hintergrund.

Sivan verbringt die Nacht bei uns und am Tag der Hochzeit überstürzen sich die Ereignisse. Die Visagistin und der Hairdesigner beginnen in den Morgenstunden ihr Wunderwerk, um aus Sivan die Schönste aller Bräute zu zaubern. Dass die Freundinnen die ganze Zeit zugegen sind, muss wohl gar nicht mehr erwähnt werden. Auch ein Fotografenteam ist dabei und kurz nach 14 Uhr treffen der Bräutigam mit Gefolge ein. Jetzt drängen sich schon weit über zwanzig Personen in unserem Garten und in der Stube, in welcher ich in den Tagen vorher wohlweislich alles umgestellt habe, um Platz für die Fachleute, die Begleitpersonen und für grosse Spiegel, Schminkkoffer, Frisierutensilien und -möbel zu schaffen. Am Nachmittag brechen Braut und Bräutigam für eine mehrstündige Fotosession in Richtung Veranstaltungspark auf. Jetzt ist der Moment für Lianne und mich gekommen, uns zu schminken und die festlichen Kleider anzuziehen. Als auch Eyal in Anzug und Krawatte parat ist, fahren wir los und lassen dabei ein ziemlich zerstörtes Haus zurück.

Die Hochzeit selbst ist ein wunderbares Fest mit mehreren Hundert Gästen und grandioser Stimmung. Unter jubelndem Beifall tanzen Braut und Bräutigam freudig unter den traditionellen Baldachin für die Hochzeitszeremonie. Die Freude und Erregung des jungen Paares sind ansteckend und lassen keinen Gast unberührt. Im Anschluss feiern wir mit den vielen Freunden des Paares ausgelassen bis in die Morgenstunden.

Es wird schon hell als ich mich mit schmerzenden Füssen und dröhnendem Kopf, aber überglücklich, für einige Stunden schlafen lege. Doch bald stehe ich wieder auf und beginne aufzuräumen. Für den kommenden Tag haben wir als kleine Afterparty die engere Familie eingeladen, die nun zusammen mit den neu eingeheiraten Angehörigen über dreissig Personen zählen wird. Der Garten muss auf Vordermann gebracht werden und am Mittag liefert eine Leihfirma Tische, Stühle, Sonnenschirme und Geschirr an. Am Samstag brechen wir früh in die Synagoge auf, wo das junge Ehepaar von der Gemeinde geehrt und gesegnet wird. Ab Mittag treffen die Gäste ein. Danach geht wieder alles so schnell, dass ich am Ende des Tages ganz durcheinander zurückbleibe, mit einem Haus, das erneut aussieht, als wäre ein Tornado durchgezogen. Doch wir räumen auf und dann wird es endlich ruhig. Die frisch Verheirateten packen ihre Kleider, Anzüge, Schuhe, Unmengen von übriggebliebenen Partyutensilien und Spirituosen ins Auto und verabschieden sich.

Ich denke, es ist verständlich, dass ich jetzt nur noch meine Komfortzone zurückhaben und für einige Zeit keine Personen mehr in unserem Haus sehen will, die nicht meiner Kernfamilie angehören.



Natürlich ist auch ein freudiger Anlass wie dieser von den Zeichen der Zeit geprägt. Während der Zeremonie unter dem Baldachin gedenken wir Nitzan. Ihre Mutter und Schwester weilen unter den Gästen. 
Auch ein Gebet für die kämpfenden Soldaten und für die Gefallenen wird gesprochen. 
Der Bruder des Bräutigams dient seit dem 7. Oktober-Pogrom fast ununterbrochen in Reserve. Seine Truppe ist in Gaza stationiert, für die Hochzeit kann er einige Tage Urlaub ergattern. 
Yotam und seine Freunde, die am Nova-Massaker durch ein Wunder dem Tod entwischt sind, feiern mit uns. Yotam, der mit einer Schusswunde davongekommen ist, wird im Juli heiraten. 
Die Eltern von Tomer, der im April 2022 bei einem Attentat in Tel-Aviv ermordet worden ist, beehren uns mit ihrer Anwesenheit. 
Jeder hier hat seine Geschichte, einige davon kenne ich, viele nicht. 
Alon tanzt die ganze Nacht unter grosser Anstrengung auf einem Bein und mit der neuen Prothese, immer umgeben und gestützt von seinen treuen Freunden. Als er sich erschöpft für einige Minuten eine Pause gönnt, tanzen seine Freunde mit seiner Beinprothese weiter. Das mag makaber scheinen, aber es versinnbildlicht durch und durch den Geist dieses Volkes: Es ist ein Volk, das sich nicht nieder kriegen lässt. Voller Optimismus werden sie Familien gründen, Kinder bekommen und Feste und das Leben feiern und wenn es sein muss, werden sie lachend und weinend zugleich mit Prothesen tanzen.



Irgendwann in den späten Nachtstunden betrachte ich das ausgelassen tanzende Grüppchen und bin zutiefst berührt von der Resilienz und der überbordenden, ungebrochenen Lebensfreude. Während der Judenhass in Form von verdrehten Narrativen, Verleumdung und jeglicher Realität entbehrenden Behauptungen auf der ganzen Welt eskaliert, weiss ich, dass wir – dieses Volk, und ich mit ihm – auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Mögen die jungen Leute hier viele Kinder gebären, sie in Liebe grossziehen, mögen sie Gutes tun und über alles Böse siegen! Mögen ihre Kinder in Frieden und Sicherheit leben und mögen sie der Menschheit ein Licht im Dunkeln sein!



Montag, 19. Mai 2025

Big Glilot

Am Samstagabend entführen mich meine Töchter nach "Big Glilot", den neuesten Mega-Shoppingtempel in Israel. Hier locken unzählige weitläufige Läden in zweistöckigen Gebäuden in Form einer architektonisch raffiniert geplanten kleinen Stadt. An diesem Samstagabend ist der sensationelle neue Einkaufspalast proppenvoll. Kauffreudig flanieren die Israelis auf europäisch chicen Promenaden, zwischen plätschernden Zierbrunnen und -becken, Ruhebänken und auf Galerien mit Balustraden in elegantem Design. Sie pilgern in Scharen herbei, vergnügen sich in den Läden und Restaurants und stehen willig vor den Ankleidekabinen und Kassen zu Dutzenden Schlange. 


Ich bin überwältigt von den Menschenmassen und der Grösse und Eleganz des Einkaufszentrums. Gleichzeitig wundere ich mich, warum gerade mehrere Fluggesellschaften ihren Flugstopp nach Israel verlängert und damit meinen Schweizer Hochzeitsgästen endgültig die Anreise an unser Fest am Donnerstag vereitelt haben. Sieht so etwa ein gefährliches Touristenziel aus? 

Schwarz gekleidete Angestellte schweben auf elektrischen Rollern über die Gehwege, beantworten Fragen, geben Auskunft und lesen den Besuchern jeden Wunsch von den Lippen ab. Wie überall in Israel sieht man auch hier viele Araber, erkenntlich vor allem an den züchtigen Kopfbedeckungen der Frauen. Doch hier scheint eine ganz andere Gruppierung von Menschen unterwegs zu sein, als ich sie aus meinem gewohnten Umfeld kenne: Die Kleider sind zwar sittsam lang, aber erkenntlich teuer und modern. Schuhe von Dior, Brillen und Taschen von Prada und Gucci werden zur Schau getragen. Ein Shoppingtrip nach Dubai war nie auf meiner Löffelliste, doch nun habe ich ihn offensichtlich trotzdem bekommen. 
Der Laden der Modekette Zara umfasst drei Stockwerke. Auf dem grossflächigen Vorhof stehen mehrere Luxuskarossen, die man gleich auch noch kaufen kann. Ich bräuchte eigentlich nur Nachschub für meine übliche (billige) Feuchtigkeitscrème, doch sogar mein gewohnter Drogeriemarkt ist hier zum Luxuspalast geworden. In der Eingangshalle werden nur teuerste Parfums angeboten. Das Parfum meiner Träume wird von einem breitschultrigen uniformierten Mann bewacht. Eingeschüchtert von soviel unerschwinglichem Luxus mache ich mich gleich wieder aus dem Staub. Die Crème kann ich ja anderswo kaufen. 
Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was für eine bizarre Parallelwelt! Das wirft Fragen auf. Wie viele Kleider und Schuhe kann man sich eigentlich noch kaufen? Hier kann niemand mehr übersehen, dass sich unser gesamtes Dasein nur um Geld und Materielles dreht. Der Messias ist schon da, wir warten vergebens! Diese Stätten sind die Kulttempel unserer Generation. 
Doch bei allem Kopfschütteln kaufe auch ich einige Dinge, die ich überhaupt nicht brauche. Wie könnte man entsagen? Alles riecht so verführerisch. Im Laden meiner Lieblingsmodemarke versuche ich viermal, zum Ausgang zu steuern – jedes Mal saugt mich die Versuchung in Form eines weiteren Kleidungsstückes wieder hinein. Irgendwann schaffe ich es doch, mit Hilfe meiner Töchter. Dann lassen wir diese surreale Kultstätte hinter uns und reisen in einer vierrädrigen Zeitmaschine wieder in unsere eigene kleine Welt zurück.

Nachts weckt mich die Alarm-App, wahrscheinlich um meine Frage zu beantworten, warum die Fluggesellschaften nicht nach Israel fliegen. In Tel-Aviv und Umgebung laufen Hunderttausende in die Schutzräume. Dank dem nächtlichen Weckruf erfahre ich, dass Yuval Raphael am ESC in Basel als Publikumsliebling den zweiten Platz gewonnen hat. 

Dann schlafe ich unruhig weiter. In wirren Träumen erscheinen mir Luxuskarossen in Dubai, ein Goldesel, Israelis, die nachts um zwei in Luftschutzkellern den ESC Sieg feiern, meine Töchter in Hochzeitskleidern, Palästinenser-Flaggen in Basel, jemenitische Raketen und Swiss-Flugzeuge, die vor der Küste Israels kehrt machen.
 
Am Morgen entpuppt sich alles als wahr. Wir leben in wahrlich verrückten Zeiten.





Samstag, 10. Mai 2025

Rami, Meister der Improvisation

Seit einigen Jahren lasse ich meine relativ kurzen Haare nur von der Coiffeuse meines Vertrauens in der Schweiz schneiden. Die zuvorkommende Bedienung und die absolut zufriedenstellende Leistung sind mir den höheren Preis wert. Die Coiffeuse ist begabt und technisch kompetent, sie hat ihr Zeitmanagement bestens im Griff und plant ihre Termine so umsichtig, dass ich nie eine andere Kundin antreffe. Die Atmosphäre im kleinen Salon ist ruhig und angenehm. Der Besuch beginnt mit einem Beratungsgespräch, in welchem die gewünschte Frisur basierend auf Erfahrungen und Resultate vom letzten Mal besprochen und im Detail geplant wird. Dann werde ich mit einer liebevollen Haarwäsche mit betörend riechenden Haarpflegemitteln verwöhnt. Beim Schneiden geht die Coiffeuse sorgfältig auf jede einzelne Strähne ein, sie arbeitet sich strategisch und gleichzeitig äußerst kreativ rund um meinen Kopf und setzt in präziser Arbeit ihre Vision um. Am Schluss ist meine Frisur immer perfekt, top modern, genau richtig in der Länge und ich fühle mich wunderschön.

Nun scheint einzutreffen, was ich befürchtet habe: Ausgerechnet für die Hochzeit meiner Tochter werde ich mich mit Coiffeur Rami in Netanya begnügen müssen, dem Meister der Improvisation.

In den vergangenen zwei Wochen hatte ich täglich die Flugangebote in die Schweiz unter dem Radar. Doch die Situation ist mit dem momentanen Aussetzen mehrerer Fluggesellschaften äußerst prekär. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass aus einem Sprung zur Coiffeuse in der Schweiz vor der Hochzeit nichts mehr wird. Und so betrat ich diese Woche mit mulmigem Gefühl Ramis Salon in Netanya, um mit ihm mein Haardesign für die Hochzeit in die Wege zu leiten.

Ein Besuch bei Rami in Netanya ist eine authentische israelische Erfahrung. In den bald 40 Jahren, in denen ich in Israel lebe, habe ich noch nicht in Erfahrung bringen können, ob es hier Usus ist, sich beim Coiffeur anzumelden oder nicht. Manchmal tue ich es, manchmal nicht - es macht überhaupt keinen Unterschied. Immer sitzen schon einige Frauen auf den wenigen Sitzgelegenheiten und warten, bis sie von einem der beiden Coiffeure, zwei Brüdern, bedient werden, und so auch ich. Rami wäscht mir die Haare so lieblos, dass mir seine Frau ernsthaft leid tut. Irgendwelche Wünsche betreffend der Frisur anzubringen, ist völlig sinnlos. Rami klopft höchstens einen flotten Spruch. Beim Frisieren vermitteln mir seine Körpersprache und sein Stil, dass er keinen Plan, keine Kontrolle und keine Übersicht hat. Er schneidet einfach drauflos, ganz nach dem Motto, irgendwie schaukeln wir das schon!

Ich habe enorme Mühe mit dieser demonstrativen Lässigkeit. Improvisation und Nonchalance mögen ja gut und schön sein, sind aber einfach nicht immer angemessen. Wenn ich mich zum Beispiel einer komplizierten Herzoperation unterziehen muss, finde ich Kompetenz und Präzision wichtiger. Ebenso bei meiner Frisur. Aber Rami fährt mir mit der Schere ins Haar, dass mir der Atem stockt. Er wirft die Schere locker von Seite zu Seite, schneidet hier ein bisschen und da ein bisschen. Unterdessen unterhält er sich mit den anderen Kundinnen, Bekannte kommen vorbei, um mit ihm zu plaudern, und zweimal beantwortet er das Telefon. Die Nachbarin des Salons bittet dringend um Hilfe, sie hat eine Eidechse in der Wohnung. Ich rechne es Rami hoch an, dass er mich nicht mit der halbfertigen Frisur zurücklässt, sondern seinen Bruder auf die Rettungsaktion schickt.

Ehrlicherweise muss ich anfügen, dass ich mit dem Resultat meistens überraschend zufrieden bin, sonst käme ich garantiert nicht mehr wieder. Als eingefleischte Schweizerin finde ich einfach das Gefühl, etwas nicht wenigstens einigermaßen unter Kontrolle zu haben, sehr beunruhigend. 

Während ich bezahle, bläue ich Rami ein, dass er sich ja meinen geplanten Besuch am Tag der Hochzeit im Terminkalender vormerken und rot einrahmen soll. Dabei suche ich die Theke verstohlen nach einem Kalender ab – aber dort liegt nichts, nicht einmal ein Kugelschreiber.

Ja, ja, sagt er, ruf mich doch einfach zwei oder drei Tage vorher an. Jetzt weiss ich, dass er gar keinen Terminkalender hat.