Donnerstag, 10. April 2025

Nichts ist wie es war

Auf Sabine Ta'asa's Geschichte bin ich im Britischen Bericht gestossen. Aus persönlichen Gründen konnte ich nicht einfach weiterlesen, ich musste mehr über die Frau und ihre Familie aus Netiv HaAsara erfahren. Hier ist ihre Geschichte vom 7. Oktober 2023:

Or Ta'asa (17) war in den frühen Morgenstunden mit Freunden am nahegelegenen Strand Zikim, unmittelbar nördlich der Grenze zwischen Gaza und Israel. In einer ersten Welle schafften es acht Terroristen, über das Wasser aus Gaza nach Israel einzudringen (einige wurden abgewehrt). Or, vier weitere Jugendliche und ein Erwachsener versteckten sich in den öffentlichen Toiletten am Strand. Die Terroristen fanden die Flüchtenden und ermordeten alle kaltblütig. Kurz nach 06:30 Uhr telefonierte seine Mutter Sabine noch mit Or, sie hörte dabei schon das Schiessen im Hintergrund. Wenige Minuten später wurde Or von den Terroristen mit sechs (!) Kopfschüssen in der Toilettenkabine hingerichtet, kurz bevor sie die weiteren Jugendlichen in den anderen Kabinen niederstreckten. Das Ganze streamten die Terroristen life auf Telegram.

Etwa zeitgleich drangen weitere Terroristen in das Haus der Familie Ta'asa in Netiv HaAsara ein, wie von den Überwachungskameras detailliert aufgezeichnet wurde. Sabine Ta'asa schloss sich mit dem 15-jährigen Sohn Zohar im Schutzraum des Hauses ein. Die Aufnahmen zeigen, wie Gil Ta'asa, der Ehemann von Sabine, mit den zwei jüngeren Söhnen, Shay und Koren, alle erst gerade aufgewacht und deshalb noch in Unterwäsche, in einen anderen Schutzraum auf der Rückseite des Hauses eilten. Während Gil die 12- und 9-Jahre alten Jungen in den Bunker schob, warf einer der Terroristen eine Granate in Richtung des Bunkers. Gil stürzte sich auf die Granate, er wurde zerfetzt und rettete damit seine Söhne. Die Angreifer schossen Gil in den Kopf, um sicherzustellen, dass er tot war und führten dann die beiden verletzten, blutüberströmten und panischen Kinder in die Küche. Einer der Terroristen öffnete den Kühlschrank der Familie, trank aus einer Colaflasche und fragte die Kinder, ob sie Wasser wollen. Ein weiterer Terrorist benutzte das Telefon des älteren Jungen, um auf Facebook die Ermordung des Vaters zu posten. Dann zogen sie weiter und liessen die vollkommen schockierten Jungen in der Küche zurück, dem Jüngeren war einer der Augäpfel aus der Höhle gesprungen. Kurz darauf flohen die Ta'asa-Jungen aus dem Nebenhaus und rannten zum Haus ihrer Mutter. Sabine, die nicht wissen konnte, ob die Terroristen noch im Haus waren, öffnete unter Lebensgefahr die Türe des Schutzraumes, um ihre zwei verletzten Söhne zu sich zu holen. Von ihnen erfuhr sie, dass ihr Mann tot ist. Sabine versuchte aus dem Schutzraum auf allen nur erdenklichen Wegen irgendwelche Hilfe zu erhalten, der verletzte Sohn schien im Sterben zu liegen. Doch erst viel später konnten sie gerettet und evakuiert werden. Dass der ältere Sohn Or ebenfalls ermordet worden war, wussten sie damals noch nicht.




Auf YouTube gibt es ein längeres Video, in welchem Sabine über die detaillierten Abläufe dieser Stunden berichtet. Ich höre mir das Video an, ich bin paralysiert dabei, mein Herz rast und ich habe noch lange danach starkes Herzklopfen.

Sabine und ihre drei überlebenden Söhne leben zur Zeit in Netanya, also ganz in meiner Nähe. Es geht ihnen schlecht. Wie alle Bewohner der Kibbutzim in der Umgebung des Gazastreifens haben sie ihre gewohnte Umgebung, ihre Bekannten und Freunde verloren oder verlassen müssen, der jüngere Sohn ist auf einem Auge blind und sie sind alle stark traumatisiert.

Sabine Ta'asa kämpft heute nicht nur für die Genesung ihrer Söhne, sondern auch um internationale Anerkennung und Unterstützung für die israelischen Opfer, vor allem die Kinder. Ein Jahr nach dem Massaker sprach sie vor dem UNO-Gremium für Kinderrechte und drängte darauf, sich auf die israelische Jugend zu konzentrieren, nicht nur auf die aus dem Gazastreifen.

Diese Geschichte – eine von Vielen – lässt mich aufgewühlt und betroffen zurück. Während Sabine erregt erzählt, fiebere ich mit. Und dann – bin ich einfach nur schockiert, dass wir uns schon wieder im Alltagsmodus befinden. Mir wird bewusst, wie leicht es ist, eineinhalb Jahre danach die Opfer des Massakers aus den Augen zu verlieren.

Tausende Israelis sind am 7. Oktober durch die Hölle gegangen, sie haben alles verloren und kämpfen seither mit den Verletzungen, den Verlusten und dem Trauma. Wir hingegen – wie schnell wir in unsere alten Leben zurückgefunden haben. Wie schnell wir unseren Alltag, unsere Leichtigkeit und Selbstzufriedenheit wieder aufgenommen haben. Das ist nicht zu fassen. Dabei ist doch rein gar überhaupt nichts, wie es einst war. 



Gegen das Vergessen kann man unter anderem Details über alle Ereignisse auf dem digitalen Gedenkprojekt von KAN 7.10.360 nachlesen. Der Angriff auf die Ta'asa Familie ist hier ausführlich beschrieben.





Freitag, 4. April 2025

Die verhexte Pastamaschine



Im Rhythmus der Musik, mal schnell, dann wieder langsamer, verknete ich das Mehl und die Eier mit Hingabe zu einem geschmeidigen Teig. Dann, nachdem er unter einer heiss ausgespülten Schüssel geruht hat, walle ich ihn aus und verarbeite ihn liebevoll in bissgerechten Portionen Stück für Stück zu Farfalle, Ravioli, Fettuccine oder Pappardelle. Manchmal genehmige ich mir dazu einen Drink, der zusätzlich den Appetit anregt und mir einen leichten Kopf beschert. So kann ich mich stundenlang beschäftigen, frische Pasta zuzubereiten hat für mich therapeutischen Effekt. Äusserst wichtig dabei: Die Musik darf auf keinen Fall weggelassen werden. Ohne Musik wird Kochen zu einer rein industriellen Tätigkeit und das Essen wird fad und langweilig.

Am 6. Oktober 2023, dem letzten Tag einer anderen Epoche, bekam ich eine Pastamaschine geschenkt, die alles etwas einfacher machen und die Produktion steigern sollte. Natürlich musste ich das glänzende Wunderding gleich ausprobieren, und so verbrachte ich den Morgen des 7. Oktobers mit der Herstellung von Nudeln. Doch es war wie verflixt an diesem Morgen. Der Teig klebte, an der Maschine, an meinen Händen, die Nudeln klebten aneinander, und als ich versuchte, sie ein zweites Mal zu verarbeiten, lief die Angelegenheit vollkommen aus dem Ruder. Auch das Radio mit meiner geliebten Musik war verhext: Kein einziges Lied wurde zu Ende gespielt, alle paar Sekunden unterbrachen Raketenalarme aus dem Süden des Landes die Melodien. Aus der beruhigenden Beschäftigungstherapie wurde ein höchst ärgerlicher, klebriger Kampf. Ich verfluchte die Nudeln, die neue Pastamaschine und das Radio und zu guter Letzt artete alles in einem Fiasko aus und der klebrige Teighaufen landete im Abfallkübel.

Erst gegen elf Uhr begann ich aufgrund der Nachrichten und Whatsapp-Meldungen zu ahnen, dass nicht nur in meiner Küche etwas nicht so lief wie es sollte. Gegen Mittag fuhr Eyal höchst besorgt nach Tel-Aviv, um die dort wohnenden Kinder zu uns zu holen.

Unterdessen sind dieser Morgen und die darauffolgenden Tage Geschichte.


Im "7 October Parliamentary Commission Report" wird in den ersten Kapiteln der Ablauf der Angriffe auf die Kibbutzim an der Grenze zum Gazastreifen minutiös beschrieben. Wenn ich heute an diesen Morgen denke, bin ich absolut schockiert darüber, wie ahnunglos (aber vielleicht doch mit irgendeiner unerklärlichen Tiefensensibilität) ich damals in meiner Küche werkelte, während fast im ganzen Land alle Alarmsirenen schrillten und viele Menschen, vor allem junge, verzweifelte letzte Meldungen an ihre Angehörigen schickten. Der Bericht führt aus, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene gejagt und kaltblütig niedergestreckt wurden, aber er erzählt auch von vielen haarsträubenden Heldentaten und dokumentiert ausführlich, wie Menschen ohne zu zögern, mutig und selbstlos um die Leben ihrer Familien, von Mitbewohnern und sogar von Unbekannten kämpften. Sagit Levi Gelfarb, die Verantwortliche für Notfälle im Kibbutz Erez, sagt heute darüber: "Es waren 30 Stunden Hölle auf Erden, die nun in Geschichten erzählt werden. Und jede kleinste Geschichte innerhalb der Geschichten ist eine Welt voller Angst, Fügung und Schmerz."


Meine Pastamaschine ist natürlich auf ewig verflucht. Ich habe sie ab und zu gebraucht seit jenem Morgen, jedoch nie ohne daran zu denken, was anderswo vielleicht gerade geschieht, während wir uns nichtsahnend mit etwas ganz anderem beschäftigen.



Mittwoch, 2. April 2025

Eine neue alte Welt




Einige Gedanken und Fakten über Musik in meinem Leben:

Als ich ein Kind war, wurden in meiner siebenköpfigen Familie folgende Instrumente gespielt: Orgel, Klavier, Cembalo, Quer-, Sopran- und Altflöte, Saxophon, Klarinette und Geige. Habe ich etwas vergessen?

Ich selbst spielte einige Jahre Geige, mochte es aber nie. Am Tag, an dem meine Eltern mir erlaubten, mit dem Musizieren aufzuhören, verschwand die Geige aus meinem Leben.

Das Schicksal, die Natur, oder Gott - wer immer dafür verantwortlich ist - hat mir viele Talente in den Schoss gelegt. Ein musikalisches Gehör oder Musizieren scheinen nicht dazuzugehören.

Mein Vater spielte Flöte, Klavier und Orgel, er sang und war Dirigent (in Vergangenheitsform, weil er nicht mehr musiziert).

Meine Mutter erzählt, dass sie als Kind einmal etwas Sackgeld in eine Flötenstunde investierte. Als mein Grossvater davon erfuhr, bestrafte er sie für die unverantwortliche Zeit- und Geldverschwendung mit einer Ohrfeige.

Einige Jahre diente mein Vater in der Kirche unseres Dorfes als Organist. Wir Kinder durften manchmal die Messe auf der Empore verbringen. Dort staunten wir über die Orgelpfeifen in allen Grössen, die unendlich vielen Schalter, Hebel und Knöpfe der Orgel, die Fusspedale, Vaters Orgelfinken und den Rückspiegel, über den er mit dem Pfarrer kommunizierte. Ein Organist setzt zum Betreiben der Orgel den gesamten Körper ein und das Musizieren erfordert fast übernatürliche Koordination aller vier Extremitäten, die alle eine (oder sogar mehrere) Aufgaben haben. Mein Vater konnte zusätzlich dazu noch mit einem Auge uns Kinder überwachen.

In den Geigenstunden verlangte meine Lehrerin, dass ich meine Fingernägel mit einer riesigen Schere kürze, wenn sie zu lange waren. Es ist heute nicht mehr nachweisbar, aber in meiner traumatischen Erinnerung ist die Schere auch noch rostig.

Vor etwa einem Jahr habe ich beschlossen, meine musikalische "Karriere" wieder aufzunehmen und mir selbst das Flötespielen beizubringen. Unterdessen spiele ich schon ein ganz passables Sammelsurium an Liedern, zum Beispiel "Hatikva" (die israelische Nationalhymne), "Maos Zur", "Det äne am Bärgli", "Stille Nacht" und weitere.

Als ich vor einiger Zeit beschloss, mein neues Hobby zu vertiefen und Flötenunterricht zu nehmen, war die erste Stunde aufgrund eines sehr peinlichen Missverständnisses nach wenigen Sekunden schon zu Ende. Es stellte sich nämlich heraus, dass das hebräische "Chalil" (=Flöte) eher für Querflöte verwendet wird, während die Sopranflöte "Chalilit" (=Verkleinerungsform von Flöte) genannt wird. Die Querflötenlehrerin machte grosse Augen, als ich meine Sopranflöte auspackte. Dann lachten wir beide und grüssten uns freundlich auf Nimmerwiedersehen. Sprachschnitzer sind leider auch nach bald vierzig Jahren in Israel noch möglich.

Diese Woche bin ich dann doch noch in den Genuss einer ersten Unterrichtsstunde bei einer Sopranflötenlehrerin gekommen. Sie scheint keine Schere zu haben und hat mich auch sonst nicht geplagt. Im Gegenteil, der Unterricht hat mir Spass gemacht. Ich habe das Gefühl, ein Tor zu einer vollkommen neuen Welt aufgestossen zu haben und ich bin sehr neugierig, sie zu erkunden.







Sonntag, 30. März 2025

Inspirierend

Leser, die meinen Blog regelmässig verfolgen, wissen, wer Alon und was er für uns ist. Wer nachlesen möchte, was ich über seinen Weg seit seiner Verletzung am 14. Oktober 2023 geschrieben habe, kann einfach "Alon" in der Suchfunktion des Blogs eingeben.

Unterdessen ist Alon zu einer bekannten Persönlichkeit geworden. Er hat eine Modenschau für Amputierte initiiert und daran teilgenommen, er hält Vorträge und wird zu Talkshows eingeladen, er ist auf verschiedenen Ebenen aktiv und engagiert und er hatte sogar die Ehre einer Audienz beim Papst. Seinem Instagram-Account (alonkaminer1) folgen mehrere Tausend Follower. Alon ist ein bewundernswerter Mensch, offen, witzig und inspirierend. Er mag mehrere Extremitäten verloren haben, doch seine Lebensfreude, seine Tiefsinnigkeit und sein herausragender Humor sind ihm geblieben. Seine Geschichte ist eine Geschichte von unvorstellbarem Mut, Widerstandskraft und Hoffnung. Alon zu kennen ist eine echte Bereicherung und ich bin unendlich dankbar, dass er den Freundeskreis meiner Kinder prägt.

Seit einigen Wochen weilt Alon in den USA, wo ihm verschiedene Prothesen angepasst und für ihn produziert werden. Zwischen diesen Terminen reist Alon herum, geniesst das Leben als Tourist und hält Vorträge.

Dieses auf englisch abgehaltene Interview auf Youtube sollte man sich ansehen. Alon ist ein begabter, humorvoller, intelligenter und charismatischer Redner. 



Für diejenigen, die keine Lust haben, sich das einstündige Interview anzuhören (obwohl man die Reklamen oder weniger interessante Stellen überspringen kann), habe ich die inspirierendsten Aussagen mitgeschrieben und übersetzt.

34:30 Minuten:
Fragesteller: "Wenn du die Uhr zurückdrehen und diesen Tag ändern könntest, würdest du das tun?"

Alon: "Nein.
Mein Cousin hat mich das gefragt, als die Verletzung acht Monate zurücklag, und weisst du, meine Verletzungen sind sehr, sehr schwer, aber man kann sie in einen Rahmen einordnen, den man Bewegungseinschränkung nennt. Es ist schwer für mich, mich zu bewegen und bestimmte Dinge zu tun. Aber das ist natürlich die Kehrseite der Medaille. Auf der Habenseite steht die Tatsache, dass ich jetzt weiß, wie viele gute Freunde ich habe, was für eine wunderbare Familie ich habe, wie stark ich bin und wie stark ich sein kann, wenn es nötig ist. Ich habe die Macht, Dinge zu verändern und Veränderungen in die Welt zu bringen. Die Veränderung, die ich sehen will. Weil die Menschen jetzt zuhören und meine Geschichte andere Menschen inspiriert. Also ist es für mich ein guter Deal. Ich sage nicht, dass es einfach ist.
Natürlich hat die Frage auch heikle Aspekte. Wäre es nicht ich, wer dann? 
Oder gäbe es einen Deal, der alle einschliesst, so dass niemandem schlimme Dinge passieren würden? Das würde ich natürlich sofort annehmen.
Aber ich habe meinen Cousin gefragt: Könnte ich meine Erinnerungen behalten? Und er sagte: Nein, du würdest nicht wissen, dass es passieren könnte. Du würdest einfach dein vorheriges Leben leben. Ich antwortete: Nein, ich will meine Erinnerungen nicht verlieren. Denn jetzt weiß ich bestimmte Dinge und ich habe eine bessere Perspektive auf das Leben: auf Gut und Böse, Familie und Freunde, was ich mit meinem Leben anfangen will. In diesem Nebel herumzulaufen, nicht zu wissen, wohin man geht und was wirklich wichtig für einen ist – das ist es, was wir jetzt in der Welt sehen, richtig? Man lebt in seiner Filterblase mit lauter Fehlinformationen und jeder ist verwirrt und weiß nicht einmal, was er tun will. Was mich betrifft, so lebe ich jetzt jede Sekunde das Leben, das ich will. Ich tue nichts, das ich nicht will. Ich tue nichts, das ich nicht tun will."


53:30 Minuten
Alon: "Scheiss auf die Motivation! Disziplin ist die höchste Form der Selbstliebe. Wenn du einen bestimmten Ort oder Punkt in deinem Leben erreichen willst, musst du diszipliniert sein. Manchmal hat man Motivation, manchmal nicht. Aber entscheide dich vorher, wohin du gehen willst, und arbeite diszipliniert daran, denn es kommt nicht jeden Tag vor, dass du motiviert bist. Und die andere Sache, und ich denke, das ist für mich eine der wichtigsten Lektionen: Dinge brauchen Zeit. Alle haben mir das immer gesagt, aber glaube mir, die Dinge brauchen Zeit, länger als du vielleicht willst, aber auch weniger als du erwartest. Es wird irgendwo in der Mitte liegen. Du musst anfangen zu verstehen, dass die Veränderungen kommen werden, aber sie brauchen Zeit. Einige werden gar nicht kommen, und du musst einen Weg finden, sie zu überwinden. Das Wesentliche zu finden, das man im Leben will, und es sich zu holen, weißt du. Vielleicht sieht es nicht so aus, wie du es dir vorgestellt hast, aber lass mich dir ein Geheimnis verraten: Nichts wird so aussehen, wie du es dir vorgestellt hast, nicht ein einziges Mal in deinem Leben. Lass dich also nicht von deinen Vorstellungen leiten, sondern nimm dir Zeit, denke über das Wesentliche nach, übe Disziplin und erreiche deine Ziele, Schritt für Schritt."


58:00 Minuten:
Fragesteller: "Inspiration, das ist einfach, aber was macht man damit danach? Ich glaube, Leute werden sehr inspiriert sein, wenn sie dir zuhören, aber danach? Was sollen sie damit tun?"

Alon: "Nutze diese Energie - um eine Masse in eine andere Richtung zu bewegen, braucht man eine Menge Energie - nutze diese Energie aus der Inspiration, die du gerade erhalten hast, um eine Liste von Gründen zu schreiben, WOZU du bestimmte Veränderungen in deinem Leben willst. Wenn du die Gründe hast, lege die Liste neben neben dein Bett, damit du sie siehst, wenn du aufwachst und wenn du schlafen gehst. Gründe! Motivation und Inspiration kommen und gehen, aber Gründe bleiben, und wenn du keine Kraft hast, denke an die Gründe. Nicht WAS tue ich, sondern WOZU tue ich es. Wenn du dein WOZU hast, wirst du das WIE finden."

Samstag, 29. März 2025

Die Stadtmaus und die Feldmaus





Schon lange träume ich von einer Wohnung mit grossem Balkon in Tel-Aviv. Unser Einfamilienhaus in einem ruhigen Dorf, hinter der Schule und gleich neben einem Kinderspielplatz, entsprach unseren Bedürfnissen, als wir kleine Kinder hatten. Jetzt erwartet mich nach der Arbeit ein zu ruhiges Dorf, ein leeres Haus – und ein gähnendes "und was jetzt?". Das kulturelle Angebot im Dorf ist mickrig, ein Café oder Restaurant gibt es nur im hässlichen kleinen Handelszentrum des Dorfes und auch dort ist am Shabbat alles geschlossen. Das Meer und die nächste – ziemlich menschenleere – Strandpromenade liegen eine zwanzigminütige Autofahrt entfernt. Ich habe viele Interessengebiete und kann mich bestens selbst beschäftigen, langweilig wird mir nie. Und doch – wie wunderbar wäre es, nur vor die Türe zu treten und mich mitten in Tel-Aviv, dieser quirligen Stadt der Fröhlichkeit und der Lässigkeit wiederzufinden. Ich liebe die Metropole am Mittelmeer, mit den vielfältigen Menschen in meist luftigem Look, den zahlreichen Cafés, den kleinen Läden, den Märkten, dem breitgefächerten Angebot an Aufführungen aller Art und natürlich der eindrücklichen Strandpromenade, die es leicht mit der Copacabana aufnehmen kann. Das Gras des Nachbarn scheint so viel grüner als das eigene und es lockt: Der Traum von einer Wohnung in einer lebhafteren und unterhaltsameren Gegend lässt mich nicht los. 

Öfter hinzufahren ist leider keine gute Option, da die Stadt sowohl mit dem Auto (immer verstopft und keine Parkplätze) als auch mit dem öffentlichen Verkehr (sehr beschwerlich und am Shabbat gar nicht vorhanden) nur mit grossem Aufwand zu erreichen ist.




Am Wochenende laufe ich über die Felder und durch das Wäldchen, das zwischen unserem und den Nachbardörfern liegt. Dabei schweift mein Blick über die sattgrünen, noch taufrischen Wiesen, die kleinen Dörfer und die Hügel bis zum Horizont. Die Gegend liegt ruhig und besinnlich an diesem bewölkten Morgen, nur einige freundliche Läufer, Spaziergänger und Radfahrer kommen mir entgegen. Berauschender Duft von regengetränkten Wiesen und überreifen Erdbeeren beflügelt mich beim Laufen. Die Wiesen strahlen in frühlingshaftem Gelb, unterbrochen von leuchtend roten und violetten Punkten. Es sind Blumen, deren Namen ich mir auf Hebräisch noch nie habe merken können und die ich in meiner Muttersprache nicht mehr kenne. So bleibt mir nichts anderes übrig, als mich einfach über die namenlose Pracht zu freuen. Ein besonders gut gelaunter Radfahrer überholt mich, dreht sich nach mir um, wünscht mir laut einen guten Morgen und schiebt ein "alle Achtung!" hinterher. 
In diesen Momenten weiss ich: Solange ich laufen kann, möchte ich diese Gegend um nichts auf der Welt gegen irgendeine Stadtwohnung tauschen.


Mittwoch, 26. März 2025

Zwischen den Zeilen

Seit einigen Tagen lese ich den "7 October Parliamentary Commission Report". Abschnitt um Abschnitt, Seite um Seite, arbeite ich mich durch.

Schon die ersten Kapitel, die frühere Zyklen von Konflikten und Waffenstillständen, Ziele, Pläne, Waffen und Ausrüstung der Hamas beschreiben, versetzten mich in komplette Fassunglosigkeit über die Ausmasse, die Präzision und die Professionalität, mit denen die Terrororganisation seit Jahren ihr Ziel verfolgt. Dabei war das Massaker vom Oktober 2023 nur eine Teil-Errungenschaft, nur ein Schritt zum Gesamtsieg. 

Aller Aufwand der Hamas, ja ihre gesamte Existenz hat von Kern auf rein gar nichts anderes zum Ziel, als die Vernichtung Israels. Vieles davon habe ich gewusst, schon vor dem 7. Oktober-Pogrom, doch alle Details konzentriert in einem Bericht nachzulesen, schockiert. Wie konnten wir nur so blind, überheblich und dumm sein, diese Satane jahrelang mit unablässiger Konsequenz arbeiten zu lassen? Und, was die Weltgemeinschaft anbetrifft, sie auch noch zu unterstützen, sei es absichtlich oder aus Naivität. Warum zögern wir weiterhin, sie zu vernichten? Warum mussten Tausende Menschen geopfert werden, um (einigen von) uns die Augen zu öffnen?

Es fällt mir schwer, meine Eindrücke, Gefühle und Gedanken in Worte zu fassen. Deshalb schreibe ich über Spargeln, Liebeslieder und Mimosen.

Ich finde, der Bericht sollte Pflichtlektüre für jedermann sein. Ich hoffe, dass er möglichst bald auf Deutsch übersetzt wird, damit niemand meiner Bekannten in Europa sagen kann, sie wüssten nicht, worum es geht. Es geht um purste Bosheit. Niemand soll auch nur den leisesten Gedanken im Hinterkopf haben, Hamas, die jahrelange Planung des Angriffs, das von ihnen durchgeführte Pogrom, oder ihre weitere Existenz, könnten irgendeine Berechtigung haben.


Hier noch ein weiterer Mimosenstrauch. Danke für die Aufmerksamkeit!



Montag, 24. März 2025

Mimosen



Meine erste Bekanntschaft mit Mimosen machte ich als Jugendliche an der Basler Fasnacht. Damals, wie auch noch heute, werden die gelb-blonden Zweige des Mimosenstrauchs zusammen mit Räppli, Orangen, Süssigkeiten und verschiedenem Gemüse am "Cortège" von den Wagen in die Menschenmenge geworfen. Warum ausgerechnet Mimosen? Das wissen nicht einmal die Hardcore-Fasnächtler. Vielleicht schlicht und einfach, weil die «drey scheenste Dääg» in die Blütezeit der Mimose fallen? Oder vielleicht auch, weil ihre Farbe so gut zum Gelb der Waggisperücken passt?

Über die Herkunft der Mimosenzweige machte ich mir in Basel nie Gedanken. Vielleicht aus Frankreich, oder Italien, lese ich auf Wikipedia.

Heute kenne ich die Mimosensträuche in Israel, wo sie gerade jetzt zur Blütezeit als wahrer Mimosendschungel das ganze Sharongebiet in leuchtendes Gelb tauchen. Die Pflanze soll in Israel aber gar nicht heimisch sein, sondern invasiv, lese ich. 

Aber das ist mir egal, ich freue mich einfach über das sonnige Gelb, das am Morgen auf dem Weg zur Arbeit die Strasse säumt und so wunderbar zum jetzt im Frühling noch tiefblauen Himmel passt. Was für eine Blüten- und Farbenpracht! Fast immer denke ich bei diesem Anblick an die vereinzelten Zweige, die zur dieser Jahreszeit an der Basler Fasnacht das düstere Nebelgrau überstrahlen.


Sonntag, 23. März 2025

Liebeslieder

Den Samstagnachmittag verbringen wir nach einem guten Essen und einigen Gläsern Wein damit, zusammen mit dem jungen Paar DAS Lied für die näher rückende Hochzeit zu suchen. In einer Lautstärke, die jegliches Gespräch unmöglich und unnötig macht, hören wir uns Liebeslieder in allen Sprachen an. Wir übertreffen uns mit Ideen und Vorschlägen, die von Elvis Presley (can't help falling in love with you), die Beatles (Something), über die gängigen, neueren und älteren israelischen Lieder und sogar bis hin zu Ewigi Liäbi von Mash (das ausser mir niemand versteht) reichen. Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns mit der Suche nach einem Lied für die Hochzeit vergnügen – und wie immer bleibt auch heute die Wahl offen.

Gibt es eine erfreulichere Beschäftigung für einen Samstagnachmittag?



Samstag, 22. März 2025

Winterernte




Beim Pflücken der wilden Spargeln habe ich einen sehr verbissenen Konkurrenten. Leider kenne ich nur einen einzigen Busch dieser geschätzten Pflanze, den ich zu Fuss von zu Hause aus erreichen kann. Er wuchert an der Grenze unseres Nachbardorfes zwischen den Büschen, die als natürliche Hecke die Erdbeerfelder vor ungewünschten Besuchern verstecken. Meistens richte ich meine Laufstrecke während der Spargelsaison so aus, dass ich früh am Samstagmorgen dort vorbeikomme. Manchmal habe ich Glück und finde einen oder zwei besonders fleischige Stängel, die mein Rivale übersehen hat. Bin ich aber nicht sehr früh unterwegs, ist mir mein Konkurrent meistens schon zuvorgekommen. Wann macht er nur seine Ernterunde? Nachts? Ich scheine indes einen Grössenvorteil zu haben. Wenn ich mich recht strecke und die darunter liegenden kratzenden Büsche nicht scheue, ergattere ich meist hoch oben doch noch ein paar Spitzen. Zur Belohnung knabbere ich jeweils einige davon gleich roh und frisch ab Strauch auf dem Heimweg.

Mit Erbeerenstibitzen war heute leider nichts. Die Planen, die sie überdecken, werden nur an sonnigen Tagen zurückgeschlagen. An einem bewölkten und nassen Tag wie heute bleiben die Früchte unter den Planen geschützt im Trockenen. Bevor ich wieder zu Hause ankomme, pflücke ich jedoch noch drei betörend riechende Zitronen.

Bald ist die nasse Saison zu Ende, dann verschwinden sowohl die Spargelsträuche als auch die Erdbeeren wieder bis zum nächsten Winter.



Freitag, 21. März 2025

Der britische Bericht

Gabriel Strenger schreibt auf seiner Facebookseite:

"Manche meiner muslimischen Freunde, mit denen ich noch bis vor einem Jahr im interreligiösen Dialog stand, publizieren Kritiken an Israels Vorgehen in Gaza. Euch möchte ich nun folgendes sagen:
Wäre ich Muslim, würde ich mich angesichts der Ungeheuerlichkeit des Hamas-Massakers – welches laut Meinungsumfragen in Gaza von der Mehrheit der Palästinenser bis heute befürwortet wird – in Grund und Boden schämen. Vor allem würde ich schweigen – insbesondere im heiligen Monat Ramadan. Ganz gewiss aber würde ich den jüdischen Staat nicht dafür kritisieren, wie er die Hamas-Terroristen, die sich jetzt feige hinter palästinensischen Frauen und Kindern in Gaza verstecken, zur Rechenschaft zieht.
Hier der neueste Bericht, verfasst von britischen Forschern, über die palästinensischen Verbrechen vom 7. Oktober:Achtung – es ist ein schrecklicher Bericht! Er erzählt im Detail, wie die Palästinenser – ja, unter ihnen auch ganz gewöhnliche Zivilisten – Jüdinnen und Juden vergewaltigten, zerstückelten und verbrannten, wie sie Kinder vor den Augen ihrer Eltern folterten und Vätern vor den Augen ihrer Kinder die Genitalien abhackten. Während ihrer Schandtaten ließen sie es sich des öfteren nicht nehmen, immer wieder Allahu Akbar zu rufen.
Wie gesagt: Wer als Muslim selber nicht den Mut hat, die Bestrafung dieser abscheulichen Verbrecher in den eigenen Reihen zu fordern, sollte doch wenigstens den Mund halten."


Ich habe mir den Bericht auf meinen Kindle geladen Nur schon beim Anblick des Titelbildes stockt mir das Blut in den Adern. Doch ich werde ihn lesen.













Donnerstag, 20. März 2025

Abschiedspost

Fast wäre hier ein Abschiedspost gestanden. Den ersten grossen Schock des Krieges scheine ich verarbeitet zu haben, der Krieg verläuft für mich zwar unheimlich und allgegenwärtig, aber im Hintergrund. Über Alltägliches zu berichten, scheint belanglos.

Doch dann habe ich mich für das Gegenteil entschieden. Ich werde versuchen, wieder jeden oder wenigstens alle paar Tage einige kurze Gedankenanstösse zu veröffentlichen. Vielleicht Alltägliches, vielleicht Belangloses, vielleicht auch ab und zu etwas über den Krieg.

Bis bald!

Erntebeute beim Spaziergang: Erdbeeren frisch vom Feld und wilder Spargel







Mittwoch, 26. Februar 2025

Vier schwarze Särge

Die gelbe Schleife, das Zeichen der Entführten, an Israels Himmel


Im Moment müssen wir keine weitreichenden Raketenangriffe mehr befürchten. Die Luftschutzsirenen sind seit Wochen ungenützt, in den Schutzräumen sammelt sich wieder Staub und Gerümpel. Dem Anschein nach ist es ruhig geworden. Der grosse Lärm ist verhallt, doch unter der vermeintlichen Ruhe tosen und überschlagen sich die Ereignisse. 

Eli, Or, Yarden, Gadi, Karina, Naama, Liri, Agam, Omer. Diese Namen und ihre Schicksale jagen sich in meinen Gedanken, wenn ich abends im Dunkeln liege und vergeblich den Schlaf suche. Das Drama um die Geiseln, welches das Abkommen mit der Hamas, dieser Pakt mit dem Teufel, mit sich bringt, hält die Bevölkerung in Israel in Atem, so auch mich. Wie zu erwarten war, ist dieser Handel mit unschuldigen Menschen Nährboden für unvorstellbare Perversitäten seitens der Hamas. Seit Mitte Januar fiebern wir ununterbrochen in einer Mischung aus Euphorie und entsetzlicher Panik den Wochenenden entgegen. Und immer wenn man denkt, die Barbarei sei nicht mehr zu übertreffen, wird es doch noch schlimmer.

In wiederkehrenden zynischen Spektakeln übergibt die Hamas Israel an den Wochenenden abgemagerte und geschundene Überlebende. Mit surrealistisch anmutenden Prozessionen demonstrieren sie unverfroren, was sie mit uns machen, wenn sie uns nur in die Hände kriegen. Einmal übergeben sie vier schwarze Särge. Ich stürze mich in meine Arbeit. Ich lasse die Gedanken an die Zurückkehrenden, deren Familien teilweise grausamst ausgelöscht worden sind, nicht an mich heran. Die Ermordung mit blossen Händen der zwei rothaarigen Kleinkinder und ihrer Mutter und die Schicksale der Überlebenden und der Zurückgebliebenen gehören in den Bereich des Unfassbaren, des Unaussprechlichen. Irgendwann werden die Nachrichten schon bei mir ankommen und durchsickern, doch jetzt gerade ist es zu früh, zu viel, zu mächtig.

Dass die fünf Späherinnen aus der Basis Nahal Oz wieder lebend zu ihren Familien zurückgekehrt sind, freut mich wahnsinnig. Die Gedanken an die jungen Frauen, die das Massaker verletzt und geschändet überlebt haben und dann monatelang in Gaza von ihren Peinigern festgehalten wurden, haben mich unablässig verfolgt. Auch die Freude über Gadi Moses' Freilassung, der Vater eines Mitarbeiters, ist gross. Ganz besonders habe ich jedoch Omer Shem Tov's Rückkehr entgegengefiebert, ist er doch ein Bekannter von Lianne aus ihrem gemeinsamen Militärdienst in Eilat. Lianne spricht nie über die Verluste, doch die Ermordung ihrer Freundinnen Shir und Nitzan am 7. Oktober-Pogrom sind schon mehr, als ein junger Mensch verarbeiten kann.

Heute werden Shiri Bibas und ihre Kinder zu Grabe getragen. Kfir und Ariel waren bei ihrer Entführung vier Jahre alt und neun Monate alt. Der Trauerzug dauert den ganzen Morgen, die Särge werden von Ramat Gan aus über Rischon Lezion, Yavne, Aschdod und Aschkelon nach Sha’ar HaNegev zum Kibbuz Nir Oz gefahren. Zehntausende Israelis säumen die Straßen, um Shiri, Kfir und Ariel auf ihrem letzten Weg zu begleiten. 

Daneben verläuft mein Alltag so ordentlich und ruhig, dass es nicht zu fassen ist. Keine Alarme, keine Raketen. Kein Rennen um unser Leben. Es ist einfach viel zu ruhig. Nur in mir drinnen schrillen die Sirenen weiterhin rund um die Uhr. 


Donnerstag, 23. Januar 2025

Wahnsinn

In einem WhatsApp-Gruppengespräch mit meinen Geschwistern in der Schweiz diskutieren wir, wie es mit unseren sehr alten Eltern (in der Schweiz) weitergehen soll. Diese Gespräche holen mich per Video jeweils für eine kurze Zeit in die Schweiz, wenn auch nicht gerade aus erfreulichen Gründen.
"Ein Attentat in Nahalat-Benjamin in Tel Aviv!", erscheint eine beunruhigende Popup-Meldung am oberen Rand des Handys.
"Sind alle in Sicherheit?"
Die Meldungen in der israelischen Familiengruppe katapultieren mich umgehend nach Israel zurück.
"Sivan ist doch gerade dort", schreibt jemand. Jetzt verliere ich endgültig den Fokus auf das Gespräch über die Eltern und sorge mich um die Kinder. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich Sivan, die in Tel-Aviv lebt und arbeitet, in gefährlicher Nähe eines Attentats befindet.
Wenige Minuten später gibt Sivan selbst Entwarnung. "Ich bin in Ordnung", schreibt sie. Ich atme auf. Das Familiengespräch auf schweizerdeutsch über die Sorgen in der Schweiz kann weitergehen.

Der islamistische Attentäter marokkanischer Herkunft war ein eigens für das Attentat aus Amerika hergereister 28-jähriger Tourist. Auf einer Überwachungskamera ist festgehalten, wie er sich in der beliebten und stets stark bevölkerten Nahalat-Benjamin Fussgängerzone eine Pizza zu Gemüte führte. Danach machte er sich auf, einige Juden abzustechen. Für diese Bestimmung nahm er seinen garantierten Tod in den Kauf. Er wurde niedergestreckt, nachdem er vier Personen verletzt hatte und bevor er Schlimmeres anrichten konnte.
Das alles sind haarsträubende Tatsachen. Am schwersten erträglich ist für mich jedoch das Wissen, dass unsere Kinder – auch meine eigenen – durch diese Umstände gezwungen werden, Waffen zu tragen, immer für den Ernstfall bereit zu sein und Dinge zu tun, mit denen kein vernünftiger Mensch konfrontiert werden sollte.
Kurz nach dem Attentat machte eine Meldung im Netz die Runde, dass eine israelische Soldatin auf Urlaub aus der Einheit Grenzwache den Attentäter erschossen hätte. Das wäre eine vielleicht zwanzigjährige Frau! Ich schiele zu meiner nur wenig älteren Tochter, die hier im rosa Pyjama auf dem Sofa sitzt. Laut Medienberichten am nächsten Tag war es ein Panzeroffizier der IDF, der im vergangenen Jahr bei Kämpfen im Gazastreifen eine Hand verloren hatte, der den Attentäter neutralisierte. Ich weiss nicht, welche Version stimmt. Wahnsinn ist es allemal.



Sonntag, 19. Januar 2025

Dicke Haut

Ich schreibe nicht mehr viel hier. Die Vorfälle überschlagen sich und in mir ist eine grosse Leere. Um anhaltende Trauer, Schrecken und Schock über die Ereignisse von mir fernzuhalten, habe ich mir im Laufe der Zeit eine dicke Haut zugelegt. Ermordet aufgefundene Geiseln, gefallene Soldaten, Opfer von Attentaten, Dutzende nur in den letzten zwei Wochen. Ich scrolle beim Lesen der Nachrichten nur noch schnell weiter, ohne mit der Schulter zu zucken. Alle Gefühle sind einer tiefen Frustration gewichen. Frustration über die weiterhin ausweglose Situation, über unsere Unfähigkeit, etwas zu ändern, über die offensichtliche Unfähigkeit des Staates Israel, die Dinge in bessere Richtungen zu leiten, über die fehlenden Partner, um die Dinge in bessere Richtungen zu leiten, über das weltweite Unverständnis oder Nicht-verstehen-wollen, über die haltlosen Anschuldigungen, über den aus allen Löchern hervortretenden und den vorherrschenden Normen entsprechenden Israel- und Judenhass, über das ernüchternde Isoliertsein.

Doch vor den kommenden Monaten bangt mir, trotz dicker Haut. Auch wenn es scheint, es könne nicht mehr schlimmer werden, befürchte ich, dass uns doch noch viel Schlimmeres bevorsteht. Das Abkommen mit der Hamas, dieser Pakt mit dem Teufel, wird eine Flut von schrecklichen Nachrichten in den Medien zur Folge haben. Eine sechs Wochen dauernde Höllentortur wird uns im Tröpfchen-Verfahren tote Geiseln, ermordete Geiseln, lebende Geiseln, missbrauchte und geschändete Geiseln bescheren. Was werden sie berichten? Was werden die an die Öffentlichkeit gelangenden Gräueltaten bei den Familien bewirken, die unterdessen in unvorstellbarer Angespanntheit auf Neuigkeiten warten? Was, wenn das Abkommen nach Freigabe der ersten Geiseln abgebrochen wird? Was wird mit den verbleibenden fast 70 Geiseln sein, die nicht in diesem Abkommen mit eingeschlossen sind? Wie viele weitere Monate und vielleicht Jahre werden sie in der Hölle schmoren müssen, bis sich jemand ihrer erbarmt?

Was immer sein wird, gut und schön wird es nicht sein. Ich will diese Schreckensnachrichten von mir fernhalten, aber wird das möglich sein? Ich befürchte, dass mich keine noch so dicke Haut wird schützen können. Die Nachrichten werden ihren Weg finden, durchzusickern.

Am Samstagmorgen heulen im Zentrum Israels die Luftschutzalarme aufgrund grossflächiger Raketensalven. Die Handy-App ziept und zurrt, denn ich habe sie unter anderem auf Tel-Aviv eingestellt, wo Sivan wohnt. Im Radio, aus welchem ich mich am Samstagmorgen von Musik berieseln lasse, folgen zeitgleich die Warnungen für alle anderen Orte in Israel. Die Bewohner werden dringlich aufgefordert, die Schutzräume aufzusuchen. Es ist Samstagmorgen, 10 Uhr 30, die Liste der betroffenen Orte ist lang und wird im Radio von einem wiederholten, unüberhörbaren, markerschütternden Geräusch untermalt. Es erinnert mich an einen anderen Samstagmorgen, den 7. Oktober 2023, als etwa um diese Zeit die Alarme gar nicht mehr abbrachen und die ersten Videos der Hamas-Terroristen in den Medien auftauchten, die in ihren schwarzen Uniformen und den grünen Stirnbändern auf weissen Pick-Ups schwer bewaffnet und mordend durch die israelische Ortschaft Sderot kurvten.

"Guten Morgen", schreibe ich Sivan, um zu ermitteln, ob sie in Ordnung ist. "Alarmmorgen", schreibt sie kurz angebunden zurück.

Am Nachmittag dieses Samstags sticht ein 19-jähriger palästinensischer Attentäter in Tel-Aviv mit einem Messer auf Passanten ein und verletzt mehrere. Das Attentat ereignet sich in der Levontinstrasse, wo ich selbst am Donnerstagabend in einem hervorragenden japanischen Restaurant gegessen habe. Der Attentäter wird schnell erschossen, denn Waffen zur Selbstverteidigung sind unter Israelis – aus Gründen – weitverbeitet. Auch in meiner Familie tragen viele der Männer Waffen, um uns im Notfall zu schützen. Der Videoclip des Attentats, welchen mir Lianne am Abend unter die Nase hält, zeigt junge Leute im Alter meiner Kinder, die abgestochen werden oder Waffen zücken. Wie traurig, dass unsere Kinder gezwungen sind, Waffen zu gebrauchen.

Am Abend schaue ich auf Netflix den Film "die letzten Tage", in welchem fünf ungarische Juden, Überlebende des Holocaust, ihre Geschichten erzählen. Ich erkenne viele Parallelen zu der heutigen weltweiten Situation. Mein Empfinden beim Betrachten des Filmes schliesst an den Eröffnungsabschnitt dieses Beitrags an: das weltweite Unverständnis, das Nicht-sehen-wollen, die haltlosen Anschuldigungen, der den vorherrschenden Normen entsprechende Judenhass, das Isoliertsein, sie sind dieselben. Wie ist das nur möglich, nur achtzig Jahre danach?

Am Sonntagmorgen zieht die israelische Armee aus dem Gazastreifen grösstenteils ab. Das erklärte Ziel, die Hamas zu vernichten, ist nicht erreicht. Nachdem sich die Terroristen eineinhalb Jahre in ziviler Kleidung unter die palästinensischen "Zivilisten" gemischt haben, tragen sie schon kurz nach Abzug der Armee wieder ihre schwarzen Uniformen und die Stirnbänder, kurven in Siegespose auf ihren weissen Pick-ups durch Gaza und skandieren den ewigen heiligen Krieg und Tod den Juden. Die Menschen in den Strassen, die vor kurzem noch Zetermordio geschrien haben, jubeln ihnen zu. 

Mit einiger Verspätung geben die Teufel die Namen der ersten drei Frauen bekannt, die heute in diesem Pakt freikommen sollen. Die 19-jährige israelische Frau auf dem Bild (Bildausschnitt aus einem Video vom 7.Oktober 2023) ist nicht dabei.




Mittwoch, 1. Januar 2025

Kinder, von 0 bis 35

Den unbestrittenen Mittelpunkt unserer Familien-Chanukkafeier bildeten Enkelkinder Nummer 5 und 6 meines Schwagers, die sieben Wochen alten Zwillinge. Anlässlich des Beschneidungsfestes vor wenigen Wochen konnte ich zwar schon einen Blick auf die beiden Neugeborenen erhaschen, sie hatten an jenem Tag aber ein schicksalsträchtigeres Programm, als ihre Grosstante kennenzulernen. Das habe ich jetzt endlich nachholen können, ich durfte sie sogar in den Armen halten. Fazit: Zwei vier Kilogramm schwere, vollkommene Wesen, mit neugierigem Blick, bereit, zu wachsen und zu gedeihen. Ein Wunder der Schöpfung, immer wieder!

Abgesehen vom Staunen über die Babys beeindruckte mich besonders die Mutter der Zwillinge. Meine Nichte hat sehnsüchtig auf Kinder gewartet und nun, da ihr grösster Wunsch in Erfüllung gegangen ist, strahlt sie vor Glück und Liebe wie die Sonne am Himmel. Das ist in Anbetracht der noch recht bescheidenen Talente und intellektuellen Fähigkeiten und dem nicht gerade umwerfenden Aussehen der noch etwas schrumpligen kleinen Würmchen für Aussenstehende nur schwer nachvollziehbar. Auch der Vater scheint sich in seiner neuen Rolle noch nicht so recht zu finden. Er klammert sich vor allem an die Anweisungen seiner Frau, wirkt aber recht verloren und das wird wohl so bleiben, bis er mit den Bengeln wird Fussball spielen können. Doch die Mutter ist unbeirrt, sie interpretiert jedes Zucken in den zarten Gesichtern als liebevolles Lächeln, strahlt ihrerseits die Kinder an und schmust sie ununterbrochen ab.

"Küsse sie nur, solange sie das noch zulassen", lacht die Urgrossmutter, meine Schwiegermutter. "Natürlich werde ich sie küssen, auf den Mund sogar, mindestens bis sie 35 sind oder heiraten, was immer vorher kommt!" lacht die bis über beide Ohren verknallte Mutter zurück.
Es ist ein Wunder der Schöpfung und die Mutterliebe ist – in den meisten Fällen – ein Teil des Gesamtpaketes.





Ich weiss, wovon ich spreche. Mein eigenes kleines "Würmchen", demnächst 23, weilt seit zwei Wochen in Thailand im Urlaub. Um genauer zu sein, befindet sie sich gerade auf dem Rückflug. Aber erst, nachdem sie diesen gegen Mittag beinahe verpasst und wir beide einige schweisstreibende Stressmomente durchgestanden haben. Ja, sie haben richtig gelesen, wir beide, sowohl sie als auch ich – dank der völlig überflüssigen App "Wo ist?". Mit dieser App kann ich nämlich auf meinem Handy jederzeit nachverfolgen, wo mein Töchterchen sich befindet, sogar in siebentausend Kilometern Entfernung. Und nein, das ist keine gute Einrichtung, vor allem keine beruhigende. Natürlich haben wir die App, die nur mit Einwilligung des zu ortenden Handy-Besitzers funktioniert, nur für den Notfall eingerichtet. Zum Beispiel, falls das Handy gestohlen, oder für den schlimmeren Fall, dass das Handy zusammen mit der Besitzerin gestohlen werden sollte – das soll es ja geben. Ob es sehr hilfreich wäre, dass ich in einem dieser Fälle einen Punkt auf einem fernen Kontinent in einer App nachverfolgen könnte, sei dahingestellt.

Leider konnte ich es mir nicht verkneifen, instinktiv einen Blick auf die App zu werfen, als ich erwartete, Lianne am sicheren Gate des Bangkoker Flughafens vorzufinden. Ich hoffte, nach zwei Wochen gefährlicher Fahrten auf allerlei improvisierten Mofas und morschen Fähren, Besuchen von Voll- und Halbmond-Partys und in schmutzigen Tattoo- und Massagesalons endlich aufatmen zu können. Entgegen meiner Erwartung bewegte sich der Punkt in der App jedoch zermürbend langsam irgendwo in Downtown Bangkok in eine dem Flughafen entgegensetzte Richtung – zwei Stunden vor dem Abflug! Oh Gott, sie wird den Flug verpassen! Mein Mutterinstinkt schlug sofort Alarm. Jetzt konnte ich den Punkt in den nächsten 40 nervenaufreibenden Minuten erst recht nicht mehr aus den Augen lassen. Doch der Punkt bewegte sich zunächst in die falsche Richtung, dann nicht vom Fleck. Als er sich endlich im Schneckentempo in Richtung des Flughafens in Bewegung zu setzen schien, versuchte ich die verbleibende Fahrzeit anhand der geschätzten Distanz und der über den Daumen gepeilten Reisegeschwindigkeit zu berechnen. Das war jedoch, so sehr ich mir auch alle je erlernten mathematischen Formeln in Erinnerung rief, ein unmögliches Verfangen. Die Ankunftszeit war nicht absehbar und mir blieb nichts anderes übrig, als mit blank liegenden Nerven meine Augen auf einen Punkt zu heften, der sich auf einer Karte nördlich des Golfs von Thailand im Schneckentempo in östliche Richtung bewegte – und abzuwarten.

Wie ich schon vorweggenommen habe, der Punkt, das Pünktchen, mein Würmchen, sitzt, während ich diese Zeilen schreibe, im Flugzeug und sollte demnächst in Tel-Aviv ankommen. Schlussendlich ist wieder einmal alles gut gegangen.

Meiner Nichte wünsche ich viel Freude mit ihrem Mutterglück, und – mit aller Liebe – vor allem viel Gelassenheit.




Und sonst? Sivan lädt ein Video auf Instagram hoch, in welchem sie in ihrer dampfvernebelten Dusche lachend die Huthis verflucht, während durch das leicht geöffnete Fenster deutlich der auf- und abschwellende Heulton der Luftschutzsirenen zu vernehmen ist. Unser Kriegsalltag.
Auch aus Gaza wird Israel im Süden weiterhin beschossen, gerade auch letzte Nacht. Ich verstehe wirklich nicht, wie die Hamas immer noch dazu in der Lage ist, 15 Monate nach Kriegsausbruch und während auf der ganzen Welt berichtet wird, Gaza läge in Schutt und Asche.
Wo sind die 100 Geiseln, unsere Brüder und Schwestern? Seit 15 Monaten werden sie von der Hamas und palästinensischen "Zivilisten" gefangen gehalten. Ihre Angehörigen haben keine "Wo ist?" App und sie hätte ihnen auch nichts genützt. Sie wissen seit 453 Tagen nicht einmal, ob ihre Liebsten noch am Leben sind.

Für das neue Jahr hoffe ich vor allem auf gute Nachrichten. Möge diese unsägliche Höllentortur endlich schnell ein möglichst gutes Ende haben.
Mögen alle im neuen Jahr geborenen Kinder sicher und in Frieden aufwachsen!