Und ich, mittendrin.
Dann heben wir ab. Ich bestelle einen Orangensaft und lehne mich zurück, in der Gewissheit auf den Beginn einer neuen politischen Realität im Nahen Osten.
Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
In meinem Beitrag "die Kindertränen-Show" schrieb ich vor einigen Tagen, dass auch in Israel erschütternde und verzweifelte Schicksale existieren. Geschichten, die in deutschen Talkshows nicht erzählt werden, weil sie nicht in das gängige Narrativ passen.
Einer von ihnen war Roee Shalev, ein junger Mann im Alter von Sivan, aus einem Dorf in unserer Gegend, ein Überlebender des Nova-Festivals. Am Morgen des 7. Oktobers suchten Roee, seine Partnerin Agam und ihre Freundin Hili auf dem Festival-Gelände unter zwei Autos Schutz vor dem Kugelhagel. Neben ihm wurden Agam und Hili aus nächster Nähe erschossen. Roee überlebte mit mehreren Schusswunden, nach langen Stunden, in denen er hilflos neben den zwei Ermordeten lag. Gefangen in einen Albtraum, der kein Ende fand. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr nahm sich seine Mutter Rafaela das Leben, sie konnte den Schmerz ihres Sohnes und die Bilder des Grauens nicht ertragen. Und nun, zwei Jahre später, hat auch Roee am Freitag seinem Leben ein Ende gesetzt. „Ich halte diesen Schmerz nicht mehr aus, ich verbrenne innerlich“, schrieb er in seinem Abschiedspost.
Es gibt in Israel unzählige solcher Geschichten. Sie bleiben in Europa ungehört, denn sie passen nicht in die politische Debatte. Stattdessen zeigt man Bilder palästinensischer Kinder und fragt hinterlistig nach Verhältnissmässigkeit. Als wäre Leid vergleich- oder messbar. Als gänge es den Israelis um Rache.
Am Montag sollen alle Geiseln – Tote wie Lebende – freikommen. Ganz Israel hält den Atem an, zwischen vorsichtiger Euphorie und banger Erwartung. Wenn alles gelingt, könnte dieser Montag einer der grössten Freudentage der letzten Jahre werden.
Einer der Geiseln ist Bar Kupperstein, ein aufrichtiger, fleissiger junger Mann, der als Sicherheitsmann beim Nova-Festival arbeitete. Mit seinem Einkommen unterstützte er seine Eltern, von denen der Vater nach einem Unfall schwerbehindert ist. Viele Israelis kennen ihre Gesichter: der Vater im Rollstuhl sitzend, unter grosser Anstrengung artikulierend und nur schwer verständlich, die Mutter erschöpft von der Last, die Familie mit den besonderen Bedürfnissen durchzubringen.
Auf einem der Videos, die die Terroristen am 7. Oktober verbreiteten, sieht man Bar am Boden liegen, die Hände gefesselt. Als er bemerkt, dass die Mörder filmen, nennt er geistesgegenwärtig seinen Namen, in der Hoffnung, jemand möge ihn erkennen.
Zwei Jahre! Zwei Jahre voller Ungewissheit, Schmerz und unfassbarem Leid.
Auch ich wünsche mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass diese Unschuldigen endlich freigelassen werden. Dass der Montag ein Tag der Freudentränen wird.
Doch bei aller Euphorie – ich komme nicht umhin, zu denken – wie viel einfacher wäre alles gewesen, wie viel Leid wäre vermeidbar gewesen, hätte man diese Menschen gar nicht erst verschleppt.
Über den 7. Oktober 2023, der alles verändert hat.
Über zwei Jahre täglicher Kampf mit dem Trauma.
Über den heutigen Gedenktag.
Über einen Krieg, der nicht am 7. Oktober begann – aber seit diesem Tag jede Grenze sprengt.
Über das ständige Ringen mit dieser unerträglichen neuen Realität.
Über die Geiseln, die seit zwei Jahren in Gaza festgehalten werden.
Ich habe mir in diesen Tagen die ZDF-Diskussionssendung von Martin Lanz vom 30. September über den Krieg in Israel und Gaza und den neuen „20-Punkte-Plan“ angesehen. Schade, dass ich nicht zu der Diskussion eingeladen war. Ich hätte sehr Grundlegendes beitragen können.
Immerhin, die souveräne Melody Sucharewicz liess sich von den drei voreingenommenen Diskussionspartnern nicht kleinkriegen. Sie stellte mit Nachdruck anti-israelische Positionen infrage und wies ihre Kontrahenten mit schlagkräftigen Beispielen und pointierten Argumenten in die Schranken. Auf einer ganz anderen Ebene fand ich auch ihre gewaltige blonde Lockenpracht hinreissend.
Wer hingegen das anti-israelische Narrativ bedient, fand vermutlich Daniel Gerlach, Chefredakteur des Nahost-Magazins „zenith“ überzeugend.
Ebenfalls auf dem Podium war Katrin Glatz-Brubakk, eine Kinderpsychologin von Ärzte ohne Grenzen. Sie berichtete eindringlich von ihrer Arbeit im Gazastreifen, von den fast unmöglichen Bedingungen der humanitären Hilfe und von zutiefst erschütternden Schicksalen verletzter und traumatisierter Kinder. Bilder von einigen der Kinder wurden gross im Hintergrund eingeblendet. Das kann keinen kalt lassen. Das Engagement von Frau Glatz-Brubakk ist zweifellos bewundernswert. Unter grossem persönlichen Risiko gibt sie ihren Mitmenschen und ihrem eigenen Leben Sinn. Ich nehme an, dass sie auch politische Meinungen hat, in dieser Talkshow sprach sie aber nicht darüber.
Dass es für Kinderpsychologen auch in Israel viel Arbeit gäbe, ist ein anderes Thema. Mit den am 7. Oktober ermordeten Kindern könnte zwar auch Glatz-Brubakk nicht mehr arbeiten, aber mit den Traumatisierten schon. Wo sind die Ärzte ohne Grenzen für die Kinder von Sabine Taasse, für Avigail, Michael und Amalia aus Kfar Aza, für Ariel aus Nir Oz, um nur einige Beispiele zu nennen? Wo bleibt die internationale Unterstützung für die Hunderttausenden israelischer Kinder, deren Alltag von nächtlichen Fluchten in Schutzräume geprägt ist?
Aber das interessiert in Europa keinen. In Israel wächst schliesslich das Geld auf den Bäumen und demzufolge können sich die Israelis um sich selbst kümmern. Ausserdem haben sie den Iron Dome, das Abwehrsystem – das dort auch vom Himmel zu fallen scheint.
Ob nun diese oder jene Argumente Propaganda sind, diese oder jene angeführten Beispiele der Wahrheit entsprechen – darum sollte es jedoch gar nicht gehen. Der ganze Diskurs verläuft in eine komplett falsche Richtung. Es geht um etwas viel Grundsätzlicheres.
Auch vor dem Samichlaus hatte ich damals schlotternde Knie |
„Sehr geehrtes Fräulein S.,
gestatten Sie mir, dass ich mich Ihnen vorstelle? ....
... Ich möchte Sie nun höflich einladen, an das Sommernachtsfest vom nächsten Samstag....
Darf ich Ihren angenehmen Bericht erwarten?
Ich grüsse Sie hochachtungsvoll.“
Es fällt mir zunehmend schwer, diesen Blog weiterzuführen. Angesichts des Ausmasses anti-israelischer Stimmung und Ereignisse in Europa gehen mir die Worte aus. Es war erfrischend, zwischendurch einmal über eine gelungene Wanderung zu schreiben – doch das ist nicht das, was mich im Alltag beschäftigt.
Auch heute Morgen habe ich mich nach einem kurzen Blick in die deutsche Medienlandschaft frustriert gleich wieder ausgeklinkt. Seither versuche ich, meinen Ärger über ein Interview in „Die Zeit“ mit Nimrod Sheffer herunterzuschlucken.
Nimrod Sheffer, ein pensionierter General der IDF, eignet sich mit seiner klaren Gegnerschaft zur Politik Netanyahus hervorragend für das in Europa gängige Narrativ. Stimmen aus anderen politischen Lagern wären leicht zu finden, doch sie würden das eingefahrene Weltbild der Leserschaft nur stören.
Da ist ein beruhigender Bericht über die Herstellung von Pflaumenmarmelade gerade sehr willkommen.
"Es gibt keinen Zweifel, dass Nachrichten, die erklären oder implizieren, Israel begehe Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermord, das ist, was die Mehrheit der 2,4 Milliarden Christen und 2 Milliarden Muslime in den sozialen Medien lesen, hören oder auf dem Fernsehschirm sehen wollen. Es ist ein rund um die Uhr andauernder Angriff auf Israel, begangen von der weit überwiegenden Mehrheit der Nachrichtenmedien der Welt. Es handelt sich um eine Hass-Kampagne auf Grundlage von 2.000 Jahren christlicher Ritualmordlügen gegen Juden und einer islamistischen Ansicht zu muslimischer Weltherrschaft. Ob die Nachrichten wahr oder falsch sind, hat absolut keine Bedeutung. Israel ist schuldig, egal, was Israel macht."
Immerhin empfangen uns die Sonnenblumen am Eingang zum Dorf meiner Eltern einladend und wohlgesinnt. |