Sonntag, 25. August 2024

Krieg und zwei platte Reifen

Auch wenn es heute früh einige Stunden anders ausgesehen hat, uns geht es immer noch – doch, ich sage "gut". Man kann unseren Alltag im Ausnahmezustand kaum beschreiben, weder mit einem, noch mit vielen Worten. Doch wieder ist für uns, an unserem Wohnort, ein Tag ohne Alarm vergangen. Wir müssen nicht in den Schutzraum rennen, wir bewegen uns frei in einem bestimmten Umkreis, wir gehen zur Arbeit und vergnügen uns, soweit es geht. Wir (meine Familie) sind einigermassen in Sicherheit. Wenn man das Mikro betrachtet und nicht das Makro, geht es uns also immer noch gut. Anderswo ist das nicht so, wie man zum Beispiel bei Lila lesen kann.

Um uns herum herrscht Chaos und die Situation wird jeden Tag schlimmer. Vor zwei Wochen versetzten mich die Nachrichten über den unmittelbar bevorstehenden Angriff aus dem Iran einige Tage in Panik. Unterdessen habe ich mich beruhigt und würde nun meinen Gemütszustand eher als zutiefst frustriert beschreiben. Ich versuche, mir eine "mir ist alles egal" Haltung zu eigen zu machen. Ich gebe mir grösste Mühe, die kleinen guten Momente zu geniessen und Schlimmeres möglichst von mir fernzuhalten. Fernsehen schaue ich seit Jahren nicht mehr, schon gar keine Nachrichten. Nun stelle ich auch bewusst  beim Autofahren das Radio leise, wenn es Zeit für Nachrichten ist. Auf Instagram und Facebook scrolle ich bei unerfreulichen Nachrichten schnell weiter. Es ist so viel los - ich will nicht mehr rund um die Uhr mit Katastrophen konfrontiert werden. Ich will einfach nichts mehr hören und wissen.

Doch ich lebe nicht auf einer einsamen Insel und weiss natürlich trotzdem, dass die israelische Armee vergangene Woche sechs Entführte tot geborgen hat, nachdem diese am 7. Oktober lebend nach Gaza verschleppt, wochen- oder monatelang gefoltert und schlussendlich von ihren Hamas-Bewächtern ermordet worden sind. Ich weiss auch, dass die entführte Agam Berger vor vier Tagen in Hamas-Geiselhaft 20 Jahre alt geworden ist, dass überhaupt bald alle entführten Israelis in Geiselhaft mindestens einmal Geburtstag hatten. Ich weiss, dass am Wochenende wieder fünf oder sechs Soldaten gefallen sind.

 Passionsfrüchte aus unserem Garten. Ich zelebriere und geniesse jede Einzelne.



Letzte Woche verbrachte Lianne einige Tage im Spital. Eine Riesenzyste hatte sich gebildet, die mit intravenöser Medikamentenabgabe behandelt werden musste. Zum Glück sprach Lianne auf die Medikamente gut an und wurde vor dem Wochenende wieder nach Hause entlassen. Sie muss jedoch noch weiter viele Medikamente einnehmen. Leider ist sie als Folge auf die Krankheit ihre zwei Jobs als Tagesmutter erst einmal los, denn bei solchen Gelegenheitsarbeiten kann man es sich nicht leisten, zwei oder drei Wochen krank zu sein.

Die Stunden in der Notaufnahme waren nicht gerade ein grosser Spass. Viele kranke oder verunfallte Menschen, Junge und Alte, das ist schwer mitanzusehen. Am Schlimmsten war jedoch mein Kopfkino. Mir drängten sich Gedanken an ein Mega-Attentat auf und ich konnte die Bilder von Dutzenden, ja Hunderten blutender Schwerstverletzten, welche die Notaufnahme wie ein Tsunami überschwemmten, einfach nicht loswerden. So war es am 7. Oktober, das erzählten uns die Freunde von Yotam. Sie entkamen den Hamas-Terroristen mit Splittern am ganzen Körper, wurden jedoch im südlichen Soroka-Spital in der ganzen Aufregung nicht einmal beachtet.

An einem gewöhnlichen Montag verläuft hier jedoch alles einigermassen ruhig und nach drei Stunden Aufnahmeprozedur bekam Lianne ein Bett mit Aussicht im 6. Stock. Für uns bedeuteten diese Tage täglich mühsame Fahrten nach Tel-Aviv, lange Besuche in der stinkenden Abteilung (bitte entschuldigt, aber Dermatologie ist schrecklich) und vor allem viele Sorgen um Lianne und ihre Gesundheit.

Nach einem sehr ruhigen Wochenende, an welchem wir uns erst einmal von dem ganzen Spitaltumult erholen mussten, lagen Eyal und ich heute früh beide um vier Uhr morgens wach. Warum rumorte die Klimaanlage plötzlich so? Ich drehte mich lange im Bett und konnte mein Gedankenkarusell erst mit etwas Lesen beruhigen. Kurz nachdem ich endlich wieder eingeschlafen war, zog Eyal, schon frisch geduscht, um 6 Uhr dreissig an der Decke und weckte mich auf, um mir mitzuteilen, dass die IDF vor Kurzem im Norden eine Präventivoperation geflogen hat (unsere Klimaanlage ist also doch in Ordnung!) und nun die Hisbollah ihre Raketen und Drohnenangriffe sowohl in der Zahl als auch in der Reichweite ausweitete. Die Raketen kamen heute morgen schon bis nach Akko, das ist nur 80 Kilometer von uns entfernt. Eyal musste  trotz allem ins Büro, doch ich würde im Heimoffice arbeiten und meine Schwiegermutter zu uns holen.

Später schien sich die Lage zu beruhigen, oder sich immerhin im Moment nicht mehr auszuweiten. Durch die Präventivoperation konnte die IDF den von der Hisbollah und dem Iran für fünf Uhr morgens geplanten Grossangriff auf das Zentrum Israels verhindern. Im Laufe des Tages und nachdem sie innert Stunden einige Hundert Raketen nach Israel abgefeuert hatten, gaben dann sowohl die Hisbollah als auch der Iran bekannt, dass das für heute alles wäre.

Lianne, unsere Realitätsverdrängungskünstlerin, verschlief wieder einmal alles. Erst gegen zehn stand sie auf und sagte, noch schläfrig "Ich versteh nichts mehr. Haben wir Krieg oder was? Kann ich mit meiner Freundin in die Shoppingmall fahren?"

Was sollte ich sagen? Ja, wir haben Krieg, aber im Moment kommt er nur bis 80 Kilometer von hier. Du kannst also fahren. Wir machen weiter, so lange es geht. Was in ein paar Stunden sein wird, weiss keiner.

Im Nachhinein hätte Lianne vielleicht doch zu Hause bleiben sollen, denn die Shoppingtour endete mit zwei platten Reifen, da sie den Parkplatz (mit meinem Auto!) in die Gegenrichtung verliess und dabei die Krallen übersah.

Alltag eben!




Mittwoch, 14. August 2024

Wir bleiben hier

Ob der morgige Gipfel in Katar einen Durchbruch bei der Geiselfrage bringen wird? Ich bin skeptisch. Die Hamas will ja gar keine Verhandlungen. Und das trifft sich bestens. Ich nämlich auch nicht.

Die europäischen Medien geben sich grösste Mühe, Israel und die Hamas als gleichermassen schuldige Partner darzustellen, doch diese Kriegsparteien – eine genozidale Terrormaschinerie und eine liberale Demokratie – und ihre Ziele könnten nicht gegensätzlicher sein. Auch den "Geiseldeal" im November stellte der Grossteil der europäischen Medien dar, als gehe es um einen Austausch von auf beiden Seiten aus verschiedenen, mehr oder weniger lauteren Gründen inhaftierten Gefangenen. Dass es sich in Wahrheit um rechtmässig verurteilte palästinensische Straftäter im "Deal" gegen brutalst gejagte, verletzte, gegen ihren Willen in unmenschlichsten Bedingungen in Gaza festgehaltene unschuldige Zivilisten, darunter Kinder und junge Frauen handelte, blieb viel zu oft unerwähnt.

Einer der überführten palästinensischen Straftäter, der im November im Austausch gegen israelische Geiseln auf freien Fuss gesetzt wurde, war der kaum 18-jährige Palästinenser Tarek Daus. Nach seiner Freilassung verpasste der von Hass indoktrinierte Tarek keine Gelegenheit, sich weiter mit terroristischen Tätigkeiten zu befassen. Diese Woche sah er seine grosse Chance gekommen, als ein 60-jähriger jüdischer Mann die Stadt Qalqilya betrat. Der junge Palästinenser eröffnete das Feuer auf ihn und verletzte den Israeli schwer. Zwei weitere Palästinenser wurden bei dem Attentat ebenfalls verletzt. Das Auto des israelischen Mannes wurde vom palästinensischen Mob in Brand gesetzt. Der 18-jährige Schütze floh vom Tatort und wurde am Ende der Verfolgungsjagd von der IDF getötet.


Der im November freigelassene 18-jährige Palästinenser Tarek Ziad Abd al-Rahim Daus


(Zweifellos sollte man sich als nicht-arabischer Israeli in diesen Zeiten nicht in die arabischen Städte in Israel begeben, wenn man an seinem Leben hängt. Während es jedoch für Juden lebensgefährlich ist, arabische Orte zu betreten, besteht die israelische Bevölkerung weiterhin aus 20 Prozent Arabern, die im Kernland Israel leben und sich sicher und frei bewegen können. Sie haben die gleichen Rechte wie ihre jüdischen oder andersgläubigen israelischen Mitbürger. Auch an meinem Arbeitsplatz und in meinem gesamten Umfeld ist jeder fünfte Mensch, der mir begegnet und mit dem ich zu tun habe, Araber/in.)

In deutschen Medien ist über den vorgenannten Vorfall unter anderem zu lesen ("die Zeit", 12.8.2024):
"Palästinenser melden einen Toten nach israelischem Militäreinsatz im Westjordanland. Bei einem Einsatz der israelischen Armee im Westjordanland ist nach palästinensischen Angaben ein 18-jähriger Palästinenser getötet worden". 

Was entnimmt der gutgläubige Leser diesen Zeilen? Wer ist der Schuldige? Wer das Opfer? Offensichtlich, so suggeriert der Newsticker, sind einige Israelis an einem heiteren Montagmorgen aufgestanden, haben sich aus Langeweile Uniformen angezogen und sich gesagt "Na, was machen wir heute? Gehen wir doch ins Westjordanland und erschiessen wir in einem Militäreinsatz (sprich: nach Lust und Laune) einige Palästinenser."
Hat man irgendwo nachlesen können, dass dem Militäreinsatz ein von einem Palästinenser verübtes Attentat vorausging? Ist vielleicht mit einem Wort erwähnt worden, dass Tarek anlässlich des Geiseldeals im November freikam, weil er als Minderjähriger zu den zu Unrecht inhaftierten palästinensischen Kindern gezählt wurde? Natürlich nicht, es passt ja schliesslich nicht ins gängige Narrativ.

Ich bringe diesen Vorfall hier auf um zu zeigen, wie komplex die Situation ist. Ich, wir, alle Israelis, wollen vor allem und an erster Stelle die in Gaza festgehaltenen Geiseln wieder bei ihren Familien wissen. Wenn möglich, ohne dabei irgendjemandem zu schaden. Klar, wenn ich die Mutter einer der Geiseln wäre, wäre ich bereit, Hunderttausend Terroristen für mein Kind freizugeben. Die ganze Welt würde ich opfern für mein Kind. Zum Glück bin ich das aber nicht, meine Kinder sind einigermassen sicher zu Hause. Dort möchte ich sie auch weiterhin wissen und ich habe, offen gestanden, grosse Zweifel an irgendeinem Abkommen mit der Hamas und ihrer Verbündeten. Unter anderem, weil ich riesengrosse Angst habe vor "palästinensischen Kindern", die in einem Deal auf freien Fuss kommen sollten.


In meinem letzten Blogbeitrag habe ich über unser Dilemma betreffend einer Flucht aus Israel geschrieben. Am Dienstag Tischa B'Av, dem Tag, an dem die Chancen auf den iranischen Angriff am Grössten zu sein schienen, war der gewünschte Flug spontan da. Wie ein Wink Gottes erschien ein (zugegeben sehr spontaner, für den Abend desselben Tages) Schnäppchenflug nach Basel, zu einem mehr als erschwinglichen Preis. 

Nach einigen Minuten Nachdenkens liess ich das Angebot verfallen. Ich kann nicht behaupten, dass meine Wahl sonnenklar wäre, es gibt immer wieder Momente grosser Zerrissenheit. Aber ich habe gewählt: Ich werde am kommenden Samstag mit meinen Töchtern die Theatervorstellung in Tel-Aviv besuchen, für welche wir schon vor Wochen Karten besorgt haben. Ich werde am Sonntag mit meiner Familie den Geburtstag meines Sohnes feiern. Hier in Israel. Vielleicht riskieren wir dabei unser Leben. Doch könnte ich es ertragen, meine Freunde und Angehörigen in der Ferne in Gefahr zu wissen?

Ganz klar ist mir vor allem, was ich in Europa sicherlich nicht ertragen könnte: die anti-israelische Lügenpresse. Das Obengenannte ist nur ein winziges Beispiel für die unzähligen kleinen "Updates": Scheinbar ausgewogene Nachrichten, die die Meinung der Weltöffentlichkeit formen. Mit dieser Lügenpresse, die Hamaspropaganda ohne zu hinterfragen übernimmt und damit den Terroristen in die Hände spielt, möchte ich nicht leben. Sie ist in Europa der aktuelle Trend (nett ausgedrückt), doch – wenn man die Fakten aus erster Hand kennt – immer aufs Neue schockierend und unerträglich. Auch mit einer Gesellschaft, die von nichts wissen will und einfach inbrünstig hofft, dass der Lärm der grossen Welt die Stille im eigenen lieben Dörfchen nicht stören möge, hätte ich grösste Mühe.

Den Schnäppchenflug vom Dienstag habe ich aus diesen Gründen verschmäht. Bis zum nächsten Mal, wer weiss!





Montag, 5. August 2024

Tausend Tode

Donnerstag, 25. Juli

Wir erwachen mit der Nachricht über die Tötung von Ismail Hanyieh und anderen Terror-Schlüsselfiguren.

Sonntag, 28. Juli

Iran und seine Verbündeten beginnen, mit den Säbeln zu rasseln. Laut den Medien ist nun ein Vergeltungsschlag des Irans unvermeidlich.

Montag, 29. Juli

Nach dem Anhören der höchst unheilvollen Achtuhr-Nachrichten und noch energiegeladen vom Morgentraining fasse ich einen Entschluss: Wir müssen gehen. Es ist so weit. Ich werde mit den Kindern reden und Flüge buchen. Wenigstens meine Töchter sollten mit mir kommen. Das ist nicht gerade feministisch, ich weiss, aber bei den Männern der Familie ist es aus verschiedenen Gründen gerade etwas schwierig. Immerhin, der Entschluss ist gefasst und ich spreche zuerst mit Sivan. Überraschenderweise sagt sie sofort zu. Sie ist dabei, obwohl sie ihren Verlobten zurücklassen wird. In ihrer Wohnung in Tel-Aviv schläft sie seit einigen Tagen mit neben dem Bett bereitliegenden Kleidern, für alle Fälle. Auch sie hält diese Anspannung nicht mehr aus.

Ich beginne, Flüge zu suchen. Das sieht schlecht aus. Die Preise für einen El Al Flug nach Zürich sind auf mindestens 1300 Dollar gestiegen – und es gibt keine Plätze.

Dienstag, 30. Juli


Ich spreche mit Itay und informiere ihn über unser Vorhaben, abzuhauen. Er will auch mit und das macht die Sache jetzt um einiges komplizierter. Er hat seit dem 7. Oktober nicht mehr gearbeitet und nun endlich gerade in diesen Tagen einen Kurs abgeschlossen und eine neue Arbeit angefangen. Ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, ihn davon wegzureissen. 
Und wer soll all diese überteuerten Flugtickets bezahlen?

Ich kann mich nicht auf die Arbeit konzentrieren, verbringe den ganzen Tag auf verschiedenen Webseiten und Apps, die Flüge anbieten – aber keines der Angebote ist wirklich angemessen.

Mittwoch, 31. Juli

Ausgerechnet mit Lianne, der Jüngsten, habe ich keinen Erfolg. Sie ist eine Meisterin im Verdrängen. Sie lebt in einer perfekten Welt mit schönen Menschen auf TikTok und Instagram. Krieg? Bedrohung? Davon will sie nichts wissen. Ausserdem hat sie gerade zwei neue Babysitterjobs, die sie viel mehr beschäftigen, als irgendwelche höchstwahrscheinlich unrealistischen und völlig übertriebenen Kriegsfantasien. Ich komme mit meiner Panikmache nicht zu ihr durch. Ich suche trotzdem weiter Flüge, finde aber nichts Passendes. Dass ich nicht weiss, wie viele Passagiere wir sein werden, macht die Sache nicht einfacher.

Donnerstag, 1. August

In der Schweiz feiert man den Nationalfeiertag, wir bezeichnen 300 Tage Fernbleiben unserer Entführten in Gaza.

Eyal wird in Israel bleiben. Er zieht es offensichtlich vor, arbeitend vor dem PC zugrunde zu gehen. Na ja, jedem das seine. Ausserdem ist er abgehärtet, schliesslich hat er schon den Sechstage-Krieg miterlebt, den Jom-Kippur-Krieg, den Golfkrieg, die Libanonkriege...

Einen passenden Flug habe ich sowieso noch nicht gefunden. Dann kommt mir auch noch in den Sinn, dass ich am Sonntag einen Termin beim Zahnarzt habe. Eine gebrochene Zahnbrücke muss vor der Flucht unbedingt noch ersetzt werden. Ich teile den Kindern mit, dass die Abreise auf Montag verschoben wird.

Das Flugangebot wird immer prekärer. Delta und United Airlines streichen ihre Flüge nach Israel. Gemäss der Flug-Schnäppchen-App gibt es noch Charterflüge nach Athen, Belgrad, Zagreb, Bari, Verona – aber ob die dann auch wirklich fliegen werden? Mein Plan ist jetzt, dass wir spätestens am Sonntagnachmittag mit gepackten Koffern bereit sein und dann spontan den nächstbesten Flug nach Europa nehmen werden.

Freitag, 2. August

Die Familie von Nitzan feiert Nitzans Geburtstag. Nitzan wäre 29 geworden, aber sie wird für immer 28 bleiben. Sivan geht mit einer Freundin an den surrealistischen Anlass. Zum Geburtstagsfest einer ermordeten Freundin. Dass meine Kinder so etwas erleben müssen.

Itay und Sivan und ihr Verlobter kommen zum Schabbatessen. Wenn man den Medien Glauben schenkt, steht der Angriff unweigerlich bevor.

Vor dem Schlafengehen bitte ich Eyal, die Pistole aus dem Safe zu holen. Wozu? meint er, der Angriff aus dem Iran wird kein Frontalangriff von Terroristen sein. Ich weiss, erwidere ich, aber wenn sie eine Atombombe abwerfen und wir nicht alle getötet werden, dann musst du das tun. Mit diesen Aussichten gehen wir schlafen.

Samstag, 3. August

Ein weiterer Morgen, an dem wir uns wundern, dass wir unbehelligt erwachen. 

Sivan und Lianne hätten heute mit ihrer Cousine und ihren Kindern einen Wasservergnügungspark besuchen sollen, aber die Cousine sagt ab. Die Lage...

Wir räumen endlich den Schutzraum auf. 

Ich suche weiter nach Flügen, aber es ist aussichtslos, es gibt keine Plätze mehr. 

Am Abend mähe ich den Rasen, säubere die Kanten, reche Laub. Die Mangos sind alle gepflückt, mein Garten ist parat, die Iraner können kommen!

Sonntag, 4. August

Wieder erwachen wir staunend, dass der Angriff noch nicht stattgefunden hat. 

In meine Mailbox flattern mehrere E-Mails meines Arbeitgebers mit Anweisungen für den Ernstfall. Auf den beigelegten Grundrissplänen sind die Schutzräume und die kürzesten Fluchtwege rot gekennzeichnet. Ausserdem werden ausgebildete Fachleute für eine freiwillige medizinische Notfallgruppe gesucht. Dann noch eine Meldung für den Fall, dass der Alarm beim Mittagessen in der Kantine losgeht.

Ein Ausschlag an meiner linken Hand wird immer schlimmer und ich kratze mich nachts wund.

Mir wird klar, dass ich gut daran täte, mich mit der Situation abzufinden: Wir fliegen nirgendwo hin. Wir bleiben hier. Ich treibe mich in den Wahnsinn mit unrealistischen Fluchtgedanken.

Beim Zahnarzt wird die gebrochene Brücke ersetzt. Jetzt wäre ich bereit...

Montag, 5. August

Immer noch kein Angriff. Heute, oder sicher innerhalb der nächsten 24 Stunden geht es los! behaupten die Medien jeden Tag aufs Neue, seit einer Woche. Unterdessen bin ich schon Tausend Tode gestorben.

Ich finde mich damit ab, dass wir nicht fliegen werden, aber vielleicht sollte ich mit unserem Freund Avi, dem Skipper sprechen?

Die in Gaza festgehaltenen Ariel Bibas und Karina Ariev haben heute Geburtstag. Ariel wird fünf Jahre alt, Karina zwanzig. Ich weiss nicht, was mehr schmerzt: Die Aussicht auf einen grossen Krieg oder die Tatsache, dass wegen der neuen Bedrohung aus dem Iran die Befreiung der Geiseln in den Hintergrund gerückt zu sein scheint. In nur 60 Tagen ist es ein Jahr. Werden wir sie je wiedersehen?

Im Büro erzeugt die Klimaanlage in unserem Stockwerk ein dumpf brummendes Geräusch. Ich versuche zu arbeiten, aber immer wieder muss ich genauer hinhören, um mich zu vergewissern, dass es eben nur die Klimaanlage ist und nicht der Lärm von Kampfflugzeugen.

2 3 4 Einatmen
2 3 4 Luft anhalten
2 3 4 5 6 7 Ausatmen
Wiederholen, am besten den ganzen Tag



Sonntag, 4. August 2024

Freude und Leid

Oren Smadja


Der israelische Judoka Oren Smadja gewann 1992 die olympische Bronzemedaille, drei Jahre später belegte er bei den Weltmeisterschaften den zweiten Platz. Dass sich Oren bei den Israelis auch jetzt noch, viele Jahre nach diesen sportlichen Errungenschaften, großer Beliebtheit erfreut, liegt wohl vor allem an seiner angenehmen und sportlichen Persönlichkeit. Oren ist einfach rundum sympathisch, er ist aufrecht und mutig, verkörpert Gemeinschaftssinn und Solidarität, doch vor allem ist er bescheiden und einer von uns.

Seit 2010 trainiert Oren die israelischen Judoka, darunter Or Sasson, Gewinner der Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen 2016 und Sagi Muki, der bei den Judo-Europaspielen 2015 und bei den Weltmeisterschaften 2019 in Tokio Goldmedaillen gewann.

Wie alle Israelis hat auch Oren nebst seinem Beruf eine weitere wichtige Aufgabe: Er ist oder war einst Soldat der IDF und er ist Vater, Onkel und Bruder von Soldaten. Als am 20. Juni, ausgerechnet an Orens Geburtstag, sein 25-jähriger Sohn Omer im Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen durch Mörserbeschuss getötet wurde, weinte das ganze Land mit dem berühmten Vater und seiner Familie. Doch als echter Sportler und Judoka lässt sich Oren nicht unterkriegen. Nach Ende der dreissigtägigen Trauerzeit gab er bekannt, dass er das israelische Nationalteam an die olympischen Spiele in Paris begleiten würde.

Wie nahe Freude und Leid zusammenliegen, zeigen die aufwühlenden Momente in Paris, in denen der israelische Judoka Peter Paltchik und sein Trainer Oren nach dem Sieg, der die Medaille einbrachte, unter Tränen ihrer Freude und ihrem Schmerz Ausdruck verleihen (im Video ab ca. 01:30 bis 02:30). Zuschauer, die die Sprache nicht verstehen und den Hintergrund nicht kennen, mögen denken, Paltchik sei einfach gerührt über die ausserordentliche Errungenschaft. Doch vielmehr weint er bittere Tränen für sein Volk Israel, er weint vor Schmerz über die Freunde, die nicht mehr wiederkommen werden und vor allem über das persönliche Leid seines Trainers Oren. Das Video braucht keine Übersetzung, ich finde, es ist eindrücklich genug, die beiden starken Männer weinen zu sehen.

Sechs Medaillen in verschiedenen Disziplinen hat das kleine Land Israel, welches seine zahlreichen Feinde gerne von den olympischen Spielen ausgeschlossen gesehen hätten, in Paris gewonnen. Ein anderes Video übersetze ich doch, denn Oren hat eine Botschaft, die mich persönlich sehr berührt und in diesen Tagen, da wir uns an jeden Strohhalm klammern, ermutigt: "Wir werden diese Krise überstehen, wir werden gedeihen, wir werden vereint Erfolge verzeichnen. Wir werden dieses Land weiter ausbauen, dieses Land, das nur das Allerbeste verdient. Sie (unsere Feinde und Missgönner aller Sorten - eigene Anmerkung) werden an ihren Orten leben und zusehen, wie wir wachsen und gedeihen, und das ist unsere Rache. Am Israel Chai!"