Dienstag, 28. Mai 2024

4000 Kilometer

In den Tagen, bevor ich in die Schweiz fliege, geht es mir schlecht. Wie man meinem letzten Beitrag entnehmen kann, ist die Situation für mich nicht mehr auszuhalten. Ich habe eine innere Grenze erreicht, bei der es nicht mehr weiterzugehen scheint. Zu viele Katastrophen. Alles kommt zusammen, alles wird zu viel, so sehr, dass ich manchmal von dieser Welt verschwinden möchte. Nichts mehr wissen. Nichts mehr fühlen.

Dann wird am Abend vor dem Flug das verstörende Video der am 7. Oktober nach Gaza entführten Soldatinnen veröffentlicht. Der dreiminütige Clip ist nur ein kurzer Zusammenschnitt der Aufnahmen, die die mordenden Bestien mit Körperkameras selbst gefilmt haben. (Mehr darüber in der Jüdischen Allgemeinen)


Bis knapp ein Jahr vor dem 7. Oktober 2023 verrichtete unsere Tochter Lianne dieselbe Arbeit wie diese Soldatinnen, als Späherin in der Armee. Ich kenne die Arbeit und ich kenne die Geschichten der Mädchen über die Erlebnisse in den gemeinsamen Schlafräumen, über die Freundschaften und auch Problemchen zwischen den Kolleginnen. Die jungen Frauen sind fast noch Kinder, sie verlassen zum ersten Mal die gewohnte Umgebung ihrer Familie. Nach den Wochenenden zuhause rücken sie jeweils mit grossen Taschen oder Koffern wieder ein. Im Gepäck verstauen sie nebst frischgewaschenen Uniformen Unmengen an Toilettenartikeln, den Haarföhn, Naschzeug, vielleicht ein Bild oder sogar ein Plüschtier, das sie an zuhause erinnert, einige Freizeitkleider, Pyjamas.

In diesen Pyjamas wurden die 19-jährigen Mädchen in der Armeebasis Nahal Oz von den Hamas-Monstern aus den Betten gerissen, aufs brutalste misshandelt, geschändet und ermordet oder entführt.

Ich habe mir das Video nicht angesehen, aber wie schon oft den Fehler gemacht, im Netz zu surfen. Dort waren die Fotos der misshandelten Mädchen auf allen Kanälen zu finden und nicht zu übersehen. Blutverfleckte Pyjamas. Augen, aus denen nackte Todesangst schreit. Beim Anblick der Bilder stockt mir das Blut in den Adern. Die Mädchen haben soeben das Abschlachten ihrer Kolleginnen mitansehen müssen. Die verrenkten toten Körper liegen zu Dutzenden im Raum, doch das wird im kurzgeschnitten Clip nicht veröffentlicht. 

Am Vorabend meines Urlaubs in der Schweiz sollte ich mich auf die Reise freuen, aber ich kann kaum noch atmen. Das ganze schreckliche Trauma des 7. Oktobers, von welchem ich mich in den vergangenen Monaten mühevoll etwas aufgerafft habe, ist schlagartig zurück. Der Schrecken schnürt mir die Luft ab, ich bin völlig kaputt.
Und warum ermesse ich mich eigentlich, so eigensüchtig über mich selbst zu jammern? Wer bin ich schon, in dieser unermesslichen Katastrophe? Ich bin eine privilegierte Randfigur.
Wie muss es den jungen Frauen gehen, die das Massaker verletzt und geschändet überlebt haben und seit 8 Monaten in Gaza von ihren Peinigern festgehalten werden? Wie muss es den Eltern gehen, deren Tochter jeden Tag die Hölle durchlebt?

Irgendwie überstehe ich die Nacht, irgendwie schaffe ich es doch, meinen Koffer zum Flughafen zu schleppen.
Einen halben Tag später bin ich in der Schweiz, einem anderen Universum. Mir scheint, die Menschen hier schweben in frühlingshafter Leichtigkeit durch die Strassen. Fröhliche Kinder, Familien, Menschen auf Fahrrädern, lockere Gespräche über alles Mögliche.
Die Diskrepanz ist absurd und unfassbar, doch die Leichtigkeit ist ansteckend. Aus 4000 Kilometern Distanz ergeben sich in meinem Kopf endlich einige freie Zonen. Gedankeninseln. Ein paar der verstörenden Gedanken, die mich in Israel rund um die Uhr foltern, lösen sich und flattern davon wie Schmetterlinge auf einer Blumenwiese.





Am Sonntag flaniere ich durch die Stadt und freue mich wie ein kleines Kind über die Schönheit dieses friedlichen Lebens. Ich spaziere am Rhein, Menschen sitzen in Cafés und erfreuen sich des sonnigen Wetters an ihrem freien Tag. Ich möchte, dass das alles nie mehr aufhört, aber ich muss weiter und gehe zum Bahnhof. Etwas rotiert in meiner Tasche, ich ziehe das Handy heraus. Auf dem Sperrbildschirm die Push-up Meldungen der Heimatfrontschutz-App: Alarm in unserem Dorf, im Sharongebiet, im ganzen Zentrum Israels. Sorgenvolle WhatsApp Meldungen der Familie. Wer ist wo? Sind alle in Sicherheit? Sonntag ist ein Arbeitstag in Israel. Eyal sucht Schutz im Treppenhaus in seinem Bürogebäude in Ramat Gan, ebenso der Schwiegersohn in spe. Lianne und ihre Erstklässler verlassen in sekundenschnelle die Sporthalle und laufen panikartig in den Schutzraum. Auch Sivan und Itay suchen irgendwo Schutz vor den Raketen aus Rafah.

Ich setze mich in den Zug und während dieser langsam den Bahnhof verlässt, habe ich mit den Reisenden hier gar nichts mehr gemeinsam. Ich bin 4000 Kilometer entfernt.


Dienstag, 21. Mai 2024

Selbstdiagnose

Kürzlich habe ich mich doch wieder einmal etwas weiter von meiner gewohnten Umgebung Haus, Garten und Büro weg gewagt. Ich hatte einen Termin zum Röntgen, um den Grund für die monatelang anhaltenden Schmerzen im linken Knie abzuklären. Der Ausflug stand jedoch unter keinem guten Stern. Zweimal nahm ich trotz Navigations-App eine falsche Abbiegung. Als ich nach mehreren Runden im Stau und langer Suche nach einem Parkplatz in der stark frequentierten Tiefgarage des Geschäftszentrums endlich den richtigen Lift gefunden zu haben glaubte, ertönte ein markdurchdringender Alarm und ich wurde über die Lautsprecher aufgefordert, sofort das Gebäude zu verlassen, das ich gerade erst betreten hatte: Ein Brand war ausgebrochen! Vielleicht ein Fehlalarm? Ich zögerte einen Moment. Dann beschloss ich, dass es vielleicht doch besser wäre, der Aufforderung nachzukommen, wollte ich nicht Gefahr laufen, im Ernstfall das Auto für mehrere Stunden eingeschlossen zu finden. Nachdem der Wagen aus der möglichen Feuerhölle befreit war, betrat ich jedoch das Gebäude erneut und konnte dann die Röntgenaufnahmen erfolgreich durchführen. Von einem Brand war keine Rede mehr, wahrscheinlich hatte es sich um irgendeinen Aschenbecher im 24. Stock gehandelt.

Den Befund der Röntgenaufnahmen habe ich noch nicht erhalten, aber ich würde mich nicht wundern, wenn die Ursache des Schmerzes im Knie daraus nicht ersichtlich wäre. So ist das, wenn man älter wird, immer zwickt und schmerzt etwas, dabei hat man gar nichts Nachweisbares.

Ich weiss auch schon, wie meine Eigendiagnose lauten wird, falls der Arzt mir mitteilt, dass auf den Aufnahmen kein Schaden erkennbar ist: Mein Herzschmerz muss ins Knie gerutscht sein.

Es muss mein Herz sein, gebrochen am Schmerz für die geschändeten und verschleppten neunzehnjährigen Liri, Agam, Karina, Naama und Daniela, am Schmerz für die zwei Kleinkinder der Familie Bibas, für Shlomo Mansour, nur wenig jünger als mein sehr alter Vater und für all die anderen etwa 130 Frauen und Männer, die unter unerträglichen Qualen in Gaza festgehalten werden. Mein Herz, gebrochen am Schmerz für die 365 wunderbaren, hauptsächlich jungen Menschen, die am Nova-Festival niedergemetzelt und für all die anderen Hunderten Unschuldigen, die an jenem Tag brutal gejagt und ermordet worden sind. Für die Zigtausenden am Körper und an der Seele verletzten Überlebenden. Für unsere Kinder in Uniform, die seither täglich in diesem Krieg fallen. Gebrochen an der Aussichtslosigkeit der Situation. Und nicht zuletzt, gebrochen an der Erkenntnis, dass Israel zu einer Insel geworden ist, einer Insel in einem Meer von Hass, Lügen und Verleumdung.

Es ist so unerträglich viel, es grenzt an ein Wunder, dass meine Knie mich überhaupt noch tragen und dass das Röntgengerät von diesem immensen Schmerz nicht in die Luft geflogen ist.


Mittwoch, 15. Mai 2024

Siamesische Zwillinge

Der Gedenktag für die gefallenen Soldaten und die Opfer von Terrorismus (Yom Hazikaron) und der Unabhängigkeitstag (Yom Haatzmaut) sind in Israel unweigerlich miteinander verbunden. Wie siamesische Zwillinge sind die zwei Tage, die wir diese Woche begangen und gefeiert haben, miteinander verwachsen: Eigentlich zwei separate Einheiten, doch schicksalshaft miteinander verkuppelt und nichtig, wären sie allein stehend. Ohne die gefallenen Soldaten gäbe es leider keinen israelischen Staat. Der israelische Staat wird wohl für immer mit Opfern von Terror verbunden sein. Der Unabhängigkeitstag wird erst gefeiert, nachdem die Bürger Israels vierundzwanzig Stunden lang der tiefsten Trauer ins Antlitz geblickt und die Gefallenen und die Opfer geehrt haben, die die Existenz des Staates überhaupt ermöglichen.

Beide Tage dauern von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang. Um 20 Uhr des Vorabends steht alles still. Zu Beginn tönen eine Minute lang nur die Sirenen in einem markdurchdringenden Dauerton. Menschen halten inne, Autos bleiben stehen, Maschinen werden abgeschaltet. Der Gedenktag, Yom HaZikaron beginnt, die Israelis beweinen ihre Toten. In unserem relativ kleinen Dorf mit knapp 7500 Einwohnern wird der Gedenktag mit einem feierlichen Anlass im offenen Amphitheater eröffnet. Die Fahne Israels wird auf Halbmast gesetzt, die Stimmung ist gedämpft und ernst, zwischen den Vorträgen wird kein Applaus geklatscht. Zu den vierzehn in früheren Attentaten und den Kriegen Israels Gefallenen reihen sich dieses Jahr in unserem Dorf vier Opfer des Hamas-Gemetzels vom 7. Oktober. Vier junge Menschen, zwischen 26 und 28 Jahre alt, die das Nova-Musikfestival besuchten, zwei von ihnen sind ehemalige Klassenkameraden meiner Kinder. Jedes der achtzehn Opfer ist mit einem grossen Bild vertreten, die Namen werden verlesen und für jedes wird ein Kranz niedergelegt. Die Schwester der ermordeten Nitzan trägt auf der Bühne ein Lied vor. Viele der zahlreichen Anwesenden, die aufmerksam den offiziellen Ansprachen, den traurigen Liedern und den Gebeten lauschen, sind uns bekannt, wir haben in diesem Dorf in den vergangenen zwanzig Jahren unsere Kinder gemeinsam grossgezogen. Alt und Jung sitzen auf den Stühlen oder im Gras, lauschen andächtig und wischen sich die Tränen weg. Diese Erinnerungskultur gehört hier schon vom Kindesalter selbstverständlich dazu und ich finde die moralischen Werte, die an diesem Tag zum Ausdruck kommen, in höchstem Grad eindrucksvoll und bewundernswert.

Am darauffolgenden Morgen finden auf allen Friedhöfen des Landes Gedenkfeiern statt und Abertausende begleiten die Angehörigen der Opfer in diesen schweren Stunden. Auch wir finden uns auf dem kleinen Friedhof unseres Dorfes ein. Es wird gebetet, Kränze werden niedergelegt. Der Vater von Nitzan spricht, stellvertretend für die Familien der Opfer und Gefallenen, mit gebrochener Stimme das Yizkor (Erinnerungs-) Gebet.

Nach dem Anlass treffe ich zum ersten Mal seit seiner Verletzung auf Alon. Obwohl Alon im Mittelpunkt des Lebens meiner Familie steht, bei einigen von uns nur in Gedanken, bei anderen im täglichen Leben, habe ich mich auf dieser Plattform nur selten über sein Schicksal geäussert (ausser kurz hier und hier). Ich weiss nicht, ob ich je mehr Worte dafür finden werde. Erst seit einigen Wochen kann Alon das Rehazentrum ab und zu verlassen und die Wochenenden wieder mit seiner Familie in ihrem Haus hier im Dorf verbringen. Den Friedhof besucht Alon im Rollstuhl, denn mit der Prothese gehen zu lernen ist ein langwieriges Unterfangen. Wie immer ist Alon von mindestens zwei seiner besten Freunde begleitet, sie haben ihn zum Friedhof gebracht, sie karren den Rollstuhl um die Gräber herum und stützen Alon beim Singen der Hatikva, der israelischen Nationalhymne, denn er lässt es sich nicht nehmen, auf einem Bein stehend seinem Land die Ehre zu erbringen. Nach der Feier gehen wir zu ihm, er winkt uns mit seinem rechten Armstumpf zu, als wäre noch eine Hand dran, wir begrüssen und umarmen ihn. Ich sage ihm, dass ich froh bin, dass er hier ist. Man weiss nicht, was man sagen soll, niemand findet Worte. Auch meine Töchter umarmen ihn und können dabei ihre Tränen nicht zurückhalten. Es ist bestimmt äusserst verdriesslich für Alon, auf seine Mitmenschen und seine Bekannten so schockierend zu wirken, aber das wird nun Teil seines langwierigen und sehr komplexen Heilungsprozesses sein. Auch für mich, für uns alle, ist es ein schwieriger Weg. 
Gerade heute startet auch die Werbekampagne, die Alon mit einer namhaften israelischen Bekleidungsfirma ins Leben gerufen hat, um das Bewusstsein für Menschen wie ihn in der Bevölkerung zu verstärken. Er und weitere Amputierte präsentieren in Zusammenarbeit mit einigen der bekanntesten israelischen Models die Mode des Labels und sie werden bald im Netz und auf allen Werbetafeln des Landes in der Öffentlichkeit zu sehen sein. Ich weiss, dass dieses Sich-Entblössen Alon alles andere als leicht fällt. Ich persönlich bin mir über meine eigenen Gefühle noch nicht im Klaren und ich versuche seit unserem Treffen am Morgen vor allem die Kraft zu finden, mich mit all diesen tief greifenden Änderungen überhaupt auseinanderzusetzen.

Nach der Zeremonie auf dem Friedhof besuchen wir die Familie von Nitzan. Sivan und Lianne verbringen den Rest des traurigen Tages dort, mit vielen weiteren Besuchern.



Erst nach diesen zutiefst traurigen und schwer ertragbaren Stunden geht der Tag am Abend in die Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstages über. Wir rappeln uns auf, um das Entstehen und die Existenz des Staates Israel zu feiern. Sivan stellt uns vor die Tatsache, dass sie für den Abend ihre Freunde zu uns zum Barbecue eingeladen hat. Deshalb unternehmen wir kurzfristig einen Wohnungstausch: Wir bekommen für eine Nacht eine Wohnung im Herzen Tel-Avivs, sie bekommt unser Haus mit Garten und Grill.

Nach einer Nacht im fremden Bett brechen Eyal und ich früh am Morgen wieder auf, in der Hoffnung, dass unser Haus von den jungen Leuten nicht abgefackelt worden ist. Nach einem schnellen Kaffee am Dizengoff-Square setzten wir uns ins Auto, denn auch wir erwarten am Mittag Gäste zum obligaten Barbecue. Doch, schlechtes Timing: kaum haben wir den Parkplatz verlassen, versperrt uns das Reinigungsmobil der Stadt Tel-Aviv die Weiterfahrt in der engen einspurigen Strasse. Wir manövrieren unser Auto wieder in die Einfahrt eines Hauses, um das Fahrzeug vorbeizulassen. Immer zu einem Spass bereit, bedeutet Eyal dem Reinigungsmann, der das Putzfahrzeug mit dem angeschlossenen Hochdruckwasserspritzer zu Fuss begleitet, doch auch noch gleich unser Auto zu säubern. Das macht der putzfreudige Mann offensichtlich gerne, er verpasst uns spontan und gratis eine intensive Rundum-Hochdruckreinigung, auf Kosten der Tel-Aviver Stadtverwaltung. Wir verabschieden uns lachend und dankend und machen uns mit blankgeputztem Auto in der noch nassen Strasse auf nach Hause. Was für eine Stadt! Was für ein wunderbares Land! In den nächsten Stunden werden wir die Unabhängigkeit Israels feiern, sofern das in Anbetracht der Ereignisse der letzten Monate möglich ist.

Mir wird an diesen zwei Tagen mehr denn je bewusst, wie kultiviert, wertvoll und von Herzen gut die Menschen dieses Landes sind und ich bin stolz, ein Teil dieses Volkes sein zu dürfen.



Das Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (OCHA) hat die Zahl der getöteten Frauen und Kinder während des seit dem 7. Oktober 2023 andauernden Krieges zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen um fast die Hälfte reduziert (Hamas manipuliert Zahl der Kriegstoten). Es mag makaber tönen, aber ich glaube nicht, dass da überhaupt jemand zählt. Wer in den Videos vom 7. Oktober gesehen hat, wie die Hamas-Terroristen den Opfern auf ihrer eigenen Seite einfach die Waffen abnehmen, über sie hinwegsteigen und sie schwerstverletzt oder tot im Feld liegen lassen, versteht, mit Kreaturen welcher Art wir zu tun haben.

Jedes unschuldige Opfer ist eines zu viel, aber die krass schwankenden Opferzahlen machen vor allem einmal mehr klar, dass alles, was die Hamas in die Öffentlichkeit posaunt, erlogene Propaganda ist. Mögen die Menschen in Europa glauben, was sie wollen: Siedler-, Zionisten-, Landraub- und Genozid-Gefasel. Ich weiss aus tiefster Überzeugung, dass keiner der 30,134 Israelis, deren wir uns an diesem Gedenktag erinnern und keines der Opfer unserer Kriegsgegner gefallen wäre, wenn es an den Israelis läge.


Donnerstag, 9. Mai 2024

Alles wird gut

Immer nur Schrecken, Horror, Trauma, Krieg. Wer will das schon lesen? Ich sollte wieder einmal über etwas anderes schreiben, ich weiss. Aber worüber? Alles "andere" scheint belanglos. Meine früheren Blogbeiträge: belanglos. Blogs, die nicht mit dem Krieg oder unserem Trauma zu tun haben: belanglos. Etwas Lustiges vielleicht? Humor ist immer gut, in jeder Situation. Aber man muss wohl beruflich Humorist sein, um jetzt noch über irgendetwas lachen zu können. Dann vielleicht – wie wäre es mit dem Holocaust, der Shoah? In Israel wurde in dieser Woche nämlich gerade der Gedenktag an die Shoah und an jüdisches Heldentum (Yom haShoah) begangen. Dieses Thema bedeutete zwar, vom Regen in die Traufe zu kommen, wäre aber bestimmt nicht belanglos. Also schreibe ich heute über die Shoah, oder genauer, über Hoffnung.

Ich habe mich, seit ich in Israel lebe, immer sehr intensiv mit der Shoah auseinandergesetzt. Unzählige Zeugenberichte habe ich gehört und es gibt wohl keinen Film über das Thema, den ich nicht gesehen habe. Aber vor allem habe ich Hunderte Bücher gelesen, die in irgendeiner Form mit der Shoah zu tun haben. Darunter natürlich die Bücher von Primo Levi, Viktor Frankl, Imre Kertész und weiter jegliche Autobiografien und Biografien, die ich nur finden konnte, u.a. von Rabbiner Israel Meir Lau, Rudolf Vrba, Noah Klieger (von Takis Würger), Edith Eva Eger und Ralf Giordano, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Doch Bücher und Filme sind eines, persönliche Konfrontation jedoch etwas anderes. Verschiedene Gelegenheiten, zu den KZ-Gedenkstätten in Europa zu reisen, habe ich immer ausgeschlagen, ahnend, dass ich den Emotionen vor Ort nicht gewachsen sein würde. Nur schon das überraschende Erscheinen des Ortsschildes "Dachau" während einer Autofahrt in der Umgebung von München hatte mich damals völlig erschüttert (Wie kann man nur an einem Ort mit dem Namen Dachau leben?) Noch viel mehr natürlich schockierten mich die Schilderungen meiner Kinder, wenn sie mir anlässlich der obligaten Reise zu den Gedenkstätten in Europa während der Oberstufe am Telefon die Aschenberge beschrieben, oder die Gaskammern, in denen die Wände vom Giftgas blau verfärbt und von den erstickenden Opfern zerkratzt sind. Ich glaube wirklich nicht, dass ich die mentalen Kräfte aufbringen könnte, diese Stätten selbst zu besuchen.

Doch seit dem 7. Oktober-Pogrom hat die Shoah für mich eine neue Bedeutung bekommen: Ich schöpfe Hoffnung aus der Wiedergeburt und der Auferstehung dieser Generation der Überlebenden. Ihr Vermächtnis des Wiederaufbaus und der Erneuerung ist etwas vom Wenigen, das mich in der desolaten Situation bestärkt, mit der wir seit dem 7. Oktober ununterbrochen konfrontiert sind.

Deshalb zögere ich keinen Augenblick, als mein Arbeitgeber eine Reise ins Holocaustmuseum Yad Vashem anbietet. Ja, ausgerechnet jetzt, da es wahrlich an traumatischen Geschichten nicht fehlt und da meine Schmerzgrenze schon längst überschritten ist – ausgerechnet jetzt ist für mich der passende Zeitpunkt für diesen Besuch.

Wie zu erwarten war, sind die Eindrücke im Museum (das ich nicht zum ersten Mal besuche) überwältigend. Dass es überhaupt zu dieser teuflischen Katastrophe kommen konnte und die ungeheuerlichen Ausmasse, das wird nie nachvollziehbar sein. Was das Hoffnung schöpfen anbetrifft, komme ich jedoch voll auf meine Kosten.

Der Überlebende Avigdor Neuman erzählt seine Geschichte. Nur schon der Gedanke an die Hölle, aus welcher der kleine alte Mann hervorgegangen ist, der hier persönlich vor mir steht, lässt mich ehrfurchtgebietend erschauern. Sein Bericht ist überwältigend. Avigdor kam als Zwölfjähriger, nach einer mehrtägigen Reise in den berüchtigten Viehwaggons, mit seiner gesamten achtköpfigen Familie nach Auschwitz-Birkenau. Sofort nach der Ankunft wurden Frauen und Kinder vergast. Der flinke Junge entkam der ersten Selektion durch den Lagerarzt Mengele, indem er sein Alter nach oben mogelte und dreist behauptete, er sei Mechaniker. Nach Monaten in der Hölle, Aufenthalten in mehreren Lagern und zwei Todesmärschen war Avigdor im Alter von knapp 14 Jahren wieder "draussen". Alleine.

Avigdor beschreibt sehr eindrücklich, dass die Tage und Monate in den Lagern hauptsächlich vom Kampf ums Überleben geprägt waren. Doch den Moment, in welchem er als knapp Vierzehnjähriger plötzlich alleine auf der Welt war und nicht die geringste Ahnung hatte, was er nun mit sich und seinem Leben anfangen sollte, umschreibt er als ebenso herausfordernd. Kurze Zeit nach der Befreiung fand Avigdor seine einzige überlebende siebzehnjährige Schwester. Sie übernimmt die Verantwortung und beschliesst, dass sie nach Palästina reisen werden. Diese Odyssee dauert weitere etwa eineinhalb Jahre.

Noch nicht einmal 18 Jahre alt, konnte sich Avigdor, der vor kurzem noch Ungeziefer zu Füssen der Nazis war, mit grossem Stolz die Uniform der israelischen Armee überziehen und im Unabhängigkeitskrieg und später in den weiteren Kriegen sein eigenes, neu gegründetes Land verteidigen. Heute hat der 93-jährige zwei Kinder, sieben Enkel und einundvierzig Urenkel.

Als Avigdor seinen einstündigen Vortrag mit den Worten abschliesst: Verzagt nicht! Alles wird gut! Wir können alles überwinden, wir können alles besiegen!, springen die 240 Zuhörer im Saal von ihren Sitzen und klatschen minutenlang stehend Beifall.

Verzagt nicht! Alles wird gut! Genau diese Worte aus dem Mund von Avigdor, der die Erneuerung aus der grössten aller Niederlagen heraus verkörpert, brauche ich jetzt so sehr. Sie bestärken meine brennende Hoffnung, dass Wiedergeburt und Unsterblichkeit des Guten, sowie Wahrheit und Freiheit stärker sind als alles andere. Für diese Worte habe ich die beschwerliche Reise ins Yad Vashem Museum (und mehr als zwei Stunden im Stau auf der Rückreise) auf mich genommen.


Am Ende des zutiefst bedrückenden Ausstellungskorridors öffnet sich der Blick auf die Umgebung Jerusalems


Abschliessend noch einige Worte von Rabbiner Jonathan Sacks, die in der heutigen Zeit erschreckend aktuell sind:

Ich werde oft gefragt: Wo war Gott in Auschwitz? Ich weiss es nicht, aber aus jüdischer Sicht ist das die falsche Frage. Die richtige Frage ist, wo war die Menschheit, als der Massenmord in Auschwitz "stattfand"? Gott hat nie gesagt, er würde uns davon abhalten, einander zu schaden. Er hat uns einen Moralkodex gegeben. In Stein gemeißelte Befehle, die uns lehren, wie wir uns selbst stoppen können. Wo war die Menschlichkeit, als alte Männer und Frauen ermordet wurden, als Millionen vergast wurden, als Kinder noch lebendig in die Flammen geworfen wurden? Die eigentliche Frage, die so schmerzlich ist, dass wir sie kaum stellen können, lautet nicht: Wo war Gott, als wir ihn anriefen, sondern, Wo waren wir, als er uns anrief? Wenn das menschliche Leben nicht mehr heilig ist, dann wird Auschwitz möglich.


Freitag, 3. Mai 2024

Wo der Schrecken an die Türe klopft




Meine Welt ist klein geworden. Büro, Haus, Garten. Einkaufen vielleicht noch. Sonst kann man und mag ich nirgendwo hin. Im Norden sind aus Sicherheitsgründen viele Orte nicht zugänglich. Im Süden ist es jetzt schon zu heiss. In Tel-Aviv kann man keinen Meter gehen, ohne an die Geiseln und die Ermordeten erinnert zu werden. Ich habe auch keine Lust auf mehr. Es fällt schwer, sich zu vergnügen, wenn man so viele traurige Geschichten im Kopf hat. Büro, Haus und Garten, das reicht. Die Welt weiter draussen ist nicht mehr zu ertragen.

In der Kommentarspalte auf Instagram, in der ich mich gegen Dieter Hallervordens "Lied" geäussert habe, antwortet mir jemand aus Deutschland: "in Gaza sind 12,300 Kinder ermordet worden. Bitte mach deine Augen auf!"
Mach die Augen auf – schreibt man mir aus Deutschland, als wäre es hier in Israel überhaupt möglich, die Augen auch nur einen Augenblick vor all dem übermächtigen Elend und den Tragödien zu verschliessen.

Mit meinen leider sehr weit geöffneten Augen sehe ich vor allem 133 Brüder und Schwestern, die in Gaza festgehalten werden und unendlich viele unfassbar tragische Schicksale von zerstörten Familien.
In der vergangenen Woche ist der Tod von zwei weiteren jungen Menschen bestätigt worden, die seit dem 7. Oktober vermisst waren. Immer wieder offenbart sich der abgrundtiefe Schrecken des Massakers. Junge Menschen wurden beim Besuch eines Musikfestivals von den Terroristen verkohlt, sodass fast keine Überreste der Leichen übrig blieben. Mehr als ein halbes Jahr waren die Angehörigen in Ungewissheit über das Verbleiben ihrer Kinder und erst jetzt konnte der Tod dieser zwei Menschen, deren unkenntliche Reste fälschlicherweise mit anderen Leichen begraben wurden, bestätigt werden.

Gestern wurde auch der Tod einer weiteren Geisel belegt, Dror Or, der Vater der Kinder Noam und Alma, die vor einigen Monaten nach 51 Tagen Gefangenschaft aus der Terror-Hölle freikamen. Das Haus der Familie im Kibbutz Be'eri wurde am 7. Oktober in Brand gesteckt, worauf die Familie mit den zwei Kindern gezwungen war, den Schutzraum zu verlassen. Die Mutter Yonat wurde wenige Tage später ermordet aufgefunden. Die entführten Kinder wussten während ihrer Gefangenschaft nicht, dass ihre Mutter nicht mehr lebt. Eine weitere Tochter war an dem schicksalsträchtigen Tag nicht zu Hause und entkam dem Massaker. Da es vom Vater Dror kein Lebenszeichen gab, hofften die drei Geschwister und die Angehörigen bis gestern, dass er lebend unter den Entführten sei. Nun hat ein Expertenkomitee bestätigt, dass auch er am 7. Oktober ermordet wurde und seine Leiche nach Gaza entführt.

Besonders erschüttert mich die Nachricht über das von der Hamas vor einer Woche veröffentlichte Propagandavideo des verschleppten Hersh Goldberg-Polin. In dem Clip sieht man den 24-Jährigen mit geschorenem Kopf, er ist leichenblass, da er vermutlich seit seiner Entführung kein Tageslicht gesehen hat. Am linken Arm fehlt die Hand. Es war das erste Lebenszeichen von Hersh seit 201 Tagen.
Am Tag des Erscheinens des Videos telefoniere ich mit meinem neunzigjährigen Vater in der Schweiz. Er erzählt von seinen gesundheitlichen Gebrechen, welche, seinem Alter entsprechend, mannigfaltig und wirklich nicht angenehm sind. Aber ich kann nur an eines denken:

Wenn du nicht ein Kind hast –

das mit Freunden ein Festival besucht und dann ein halbes Jahr verschollen ist, du von Augenzeugen hörst, dass es an dem Massaker schwer verletzt wurde, aber nicht weisst, ob es lebt oder nicht und es dann nach 201 endlosen Tagen endlich auf einem Video aus der Hölle siehst, mit verstümmeltem Arm, und du dir nicht vorstellen magst, wie es ihm mit den Verletzungen, dem Trauma und der Todesangst in Gefangenschaft geht und ob du es je wieder in die Arme nehmen wirst

– dann hast du gar nichts.

Es tut mir leid. Was hat dieses nicht endende Grauen mit mir gemacht? Mein Mitleid ist erschöpft. Ich bin abgestumpft. Ich muss mir diesen Panzer aufsetzen. Ich kann einfach nicht mehr.

So folgen bei uns die Schläge, Tag auf Tag, schon 209 Tage.

Was die "12,300 ermordeten Kinder" in Gaza anbetrifft – niemand weiss, wie viele Tote es in Gaza wirklich gibt. Die Zahlen sind gelogene Angaben der Hamas. Wie dem auch sei, seien es 50, 500, 5'000 oder 50'000 Tote: Wer eine Bande von skrupellosen Mördern und Terroristen als Regierung wählt, sollte sich nicht wundern, wenn der Schrecken eines Tages nicht nur bei den Nachbarn, sondern auch an die eigene Tür klopft.