Dann wird am Abend vor dem Flug das verstörende Video der am 7. Oktober nach Gaza entführten Soldatinnen veröffentlicht. Der dreiminütige Clip ist nur ein kurzer Zusammenschnitt der Aufnahmen, die die mordenden Bestien mit Körperkameras selbst gefilmt haben. (Mehr darüber in der Jüdischen Allgemeinen)
Bis knapp ein Jahr vor dem 7. Oktober 2023 verrichtete unsere Tochter Lianne dieselbe Arbeit wie diese Soldatinnen, als Späherin in der Armee. Ich kenne die Arbeit und ich kenne die Geschichten der Mädchen über die Erlebnisse in den gemeinsamen Schlafräumen, über die Freundschaften und auch Problemchen zwischen den Kolleginnen. Die jungen Frauen sind fast noch Kinder, sie verlassen zum ersten Mal die gewohnte Umgebung ihrer Familie. Nach den Wochenenden zuhause rücken sie jeweils mit grossen Taschen oder Koffern wieder ein. Im Gepäck verstauen sie nebst frischgewaschenen Uniformen Unmengen an Toilettenartikeln, den Haarföhn, Naschzeug, vielleicht ein Bild oder sogar ein Plüschtier, das sie an zuhause erinnert, einige Freizeitkleider, Pyjamas.
In diesen Pyjamas wurden die 19-jährigen Mädchen in der Armeebasis Nahal Oz von den Hamas-Monstern aus den Betten gerissen, aufs brutalste misshandelt, geschändet und ermordet oder entführt.
Ich habe mir das Video nicht angesehen, aber wie schon oft den Fehler gemacht, im Netz zu surfen. Dort waren die Fotos der misshandelten Mädchen auf allen Kanälen zu finden und nicht zu übersehen. Blutverfleckte Pyjamas. Augen, aus denen nackte Todesangst schreit. Beim Anblick der Bilder stockt mir das Blut in den Adern. Die Mädchen haben soeben das Abschlachten ihrer Kolleginnen mitansehen müssen. Die verrenkten toten Körper liegen zu Dutzenden im Raum, doch das wird im kurzgeschnitten Clip nicht veröffentlicht.
Am Vorabend meines Urlaubs in der Schweiz sollte ich mich auf die Reise freuen, aber ich kann kaum noch atmen. Das ganze schreckliche Trauma des 7. Oktobers, von welchem ich mich in den vergangenen Monaten mühevoll etwas aufgerafft habe, ist schlagartig zurück. Der Schrecken schnürt mir die Luft ab, ich bin völlig kaputt.
Und warum ermesse ich mich eigentlich, so eigensüchtig über mich selbst zu jammern? Wer bin ich schon, in dieser unermesslichen Katastrophe? Ich bin eine privilegierte Randfigur.
Wie muss es den jungen Frauen gehen, die das Massaker verletzt und geschändet überlebt haben und seit 8 Monaten in Gaza von ihren Peinigern festgehalten werden? Wie muss es den Eltern gehen, deren Tochter jeden Tag die Hölle durchlebt?
Irgendwie überstehe ich die Nacht, irgendwie schaffe ich es doch, meinen Koffer zum Flughafen zu schleppen.
Einen halben Tag später bin ich in der Schweiz, einem anderen Universum. Mir scheint, die Menschen hier schweben in frühlingshafter Leichtigkeit durch die Strassen. Fröhliche Kinder, Familien, Menschen auf Fahrrädern, lockere Gespräche über alles Mögliche.
Die Diskrepanz ist absurd und unfassbar, doch die Leichtigkeit ist ansteckend. Aus 4000 Kilometern Distanz ergeben sich in meinem Kopf endlich einige freie Zonen. Gedankeninseln. Ein paar der verstörenden Gedanken, die mich in Israel rund um die Uhr foltern, lösen sich und flattern davon wie Schmetterlinge auf einer Blumenwiese.
Am Sonntag flaniere ich durch die Stadt und freue mich wie ein kleines Kind über die Schönheit dieses friedlichen Lebens. Ich spaziere am Rhein, Menschen sitzen in Cafés und erfreuen sich des sonnigen Wetters an ihrem freien Tag. Ich möchte, dass das alles nie mehr aufhört, aber ich muss weiter und gehe zum Bahnhof. Etwas rotiert in meiner Tasche, ich ziehe das Handy heraus. Auf dem Sperrbildschirm die Push-up Meldungen der Heimatfrontschutz-App: Alarm in unserem Dorf, im Sharongebiet, im ganzen Zentrum Israels. Sorgenvolle WhatsApp Meldungen der Familie. Wer ist wo? Sind alle in Sicherheit? Sonntag ist ein Arbeitstag in Israel. Eyal sucht Schutz im Treppenhaus in seinem Bürogebäude in Ramat Gan, ebenso der Schwiegersohn in spe. Lianne und ihre Erstklässler verlassen in sekundenschnelle die Sporthalle und laufen panikartig in den Schutzraum. Auch Sivan und Itay suchen irgendwo Schutz vor den Raketen aus Rafah.
Ich setze mich in den Zug und während dieser langsam den Bahnhof verlässt, habe ich mit den Reisenden hier gar nichts mehr gemeinsam. Ich bin 4000 Kilometer entfernt.