Mittwoch, 3. August 2022

Eine Türe weiter

Als ich kürzlich zwei neuen Bekannten erkläre, was und wo ich arbeite, reagieren sie mit offensichtlichem Mitleid und Abneigung. Die Frau, eine Künstlerin (eine richtige, nicht so eine Feierabend-Künstlerin wie ich) rümpft sogar ungeniert die Nase und kann sich ein “Oh wie schrecklich!“ nicht verkneifen. Dabei arbeite ich nicht etwa bei der städtischen Müllabfuhr. Aber – ich bin wohl das, was man sich allgemein unter einem grauen Computermäuschen vorstellt. Meine Arbeit auf dem Gebiet regulatorische Anforderungen für die Zulassung von Medikamenten lässt nur wenig Raum für individuelle Interpretationen, fordert akribisch genaues Detailwissen und konzentrierte Arbeit am Computer. Der stereotypische Beamte, der sich im stillen Kämmerlein in sisyphischer Arbeit mit Dokumentenbergen abschindet, bis er eines Tages vom Stuhl fällt – er könnte tatsächlich, wie ich, an der Zulassung von Medikamenten bei Gesundheitsbehörden gearbeitet haben.

Nun drängt mich nicht das Verlangen, dieses Stereotyp zu widerlegen oder mich zu rechtfertigen. Aber die negativen Reaktionen haben mich doch etwas erschüttert und ich frage mich, wie ICH es eigentlich ertrage, auf einem Fachgebiet zu arbeiten, das andere "schrecklich" finden. 

Tja, was kann man machen, nicht jedermann blüht auf in Zusammenarbeit mit anderen Menschen, mit Schülern, Patienten oder Kunden. Ich persönlich bin und arbeite gerne alleine. Im Alleinsein schöpfe ich meine Kraft. Soziale Kontakte brauche ich nur sehr genau dosiert. Stundenlang alleine und ungestört etwas zu werkeln, dabei Musik zu hören und den Tagträumen freien Lauf zu lassen ist für mich auch in meiner Freizeit der erfüllendste Zeitvertrieb überhaupt. 

Ich habe vielfältige Talente und Hobbys. Aber auch in meiner Kreativität bin ich, ohne mich anzustrengen, akribisch genau. Während meine Geschwister als Kinder die Freizeit in gängigen Jugendbewegungen verbrachten, baute ich meiner fünf Zentimeter grossen Puppe einen Wohnwagen aus Streichhölzern mit detailgetreuer Inneneinrichtung und spannte ein kleines Holzpferdchen vor, damit sie auf Reisen gehen konnte. Als ich vor einigen Jahren einen Töpferkurs besuchte, lachten die Kursteilnehmer über die millimetergenaue Exaktheit meiner künstlerischen Resultate. Obwohl ich meinen Händen freien Lauf gelassen hatte, behaupteten sie, ich besässe ein eingebautes Lineal. 

Der Weg zu meinem „langweiligen“ Beruf hingegen verlief eher kurvenreich. Als ich im zweitletzten Jahr das Gymnasium verlassen wollte, um Schneiderin zu lernen, legten meine Eltern ein kräftiges Veto ein. Sie wollten mir beibringen, etwas Angefangenes zu Ende zu bringen und heute verstehe ich, dass dieses Konzept manchmal seine Richtigkeit haben kann. Mein Wunsch, Schneiderin zu lernen wurde nach der Matura verdrängt von einem diffusen aber chronischen Fernweh und in meiner jugendlichen Verwirrtheit glaubte ich, dass das Studium der Ethnologie die Anwort darauf sein könnte. Ein klägliches Semester lang konnte ich das Gefühl nicht ablegen, eine ziellose und verlorene Studentin unter ziellosen und verlorenen Studenten zu sein. Dann warf ich das Konzept, alles Angefangene zu Ende bringen zu müssen, über den Haufen und beschloss, doch einen kreativen Beruf zu lernen. Aber unterdessen kam zu meinem chronischen Fernweh die Bekanntschaft mit einem jungen Mann aus Israel und schlussendlich konnte mich auch die eben bestandene Aufnahmeprüfung an die Kunstgewerbeschule nicht mehr halten.

In Israel musste ich meinen Lebensunterhalt verdienen und konnte, ohne Ausbildung, ohne Hebräischkenntnisse und ohne Arbeitsbewilligung nicht mehr wählerisch sein. Über einige grandios gescheiterte Versuche als Kellnerin erkämpfte ich mir langsam den Weg in ein geregeltes Arbeitsleben und zu einem Lohn, mit dem ich einen gleichwertigen Beitrag an unser wachsendes Familienbudget beisteuern konnte. Als mir eine Stelle als anzulernende Sachbearbeiterin in einer renommierten pharmazeutischen Firma angeboten wurde, zögerte ich keine Sekunde. Und seither baue ich in sisyphischer Kleinarbeit im stillen Kämmerlein Dokumentenberge ab… 

Nein, so traurig ist es natürlich nicht, auch wenn es so aussehen mag.

Die Jahre in der Firma waren geprägt von vielen verschiedenen Abschnitten, Änderungen und Entwicklungen. Herausfordernde Projekte lösten sich mit langweiligeren Phasen ab. Als unsere Kinder klein waren, passten mir vor allem die gleitende Arbeitszeit und das Verständnis für die Bedürfnisse einer jungen Mutter. Ab und zu brachten mich unausstehliche Mitarbeiter oder einfach der Wunsch nach Veränderung dazu, nach einer anderen Arbeit Ausschau zu halten. Meistens stellte sich dann heraus, dass ich in dem sprichwörtlichen goldenen Käfig sass, aus welchem auszubrechen man schon sehr zwingende Gründe haben musste. Dass die finanzielle Belastung unserer Familie nicht nur auf den Schultern meines Mannes lasten sollte, war und ist mir noch immer wichtig.

Zum Glück habe ich neben meiner Arbeit immer Zeit für meine Hobbys, für Sport und meine kreative Ader gefunden. Dass man mit Handarbeiten, oder überhaupt den Dingen, die einem wirklich gut tun, kein Geld machen kann, habe ich schon lange akzeptiert. Und ja, kann sein, vielleicht habe ich einfach nicht genug Courage oder künstlerischen Drang.


Einmal bin ich in einem schicken Züricher Altstadtquartier vor der kleinen Boutique einer Maßschneiderin stehengeblieben. Über die eigenwilligen, genau gearbeiteten und sehr teuren Modelle im Schaufenster erhaschte ich einen Blick auf die Fachfrau im Hintergrund und mein Herz machte einige Sekunden Pause. Das hätte ICH sein können. Genau so. Hier in Zürich. Ich hätte meine Tage mit dem Entwerfen und Schneidern schöner Kostüme verbringen können. Mit vielfältigen inspirierenden Stoffen, anstatt mit peniblen Regelungen und akribischer Computerarbeit.

Aber wie wäre der Rest meines Lebens verlaufen, wenn ich diese Türe geöffnet hätte und nicht eine andere? Ich hätte mit ziemlicher Sicherheit eine andere Familie. Vielleicht hätte ich die bereichernde Erfahrung in einem anderen Land zu leben verpasst. Vielleicht hätte ich Ärger mit dem Ladenvermieter oder mit launischen Kundinnen. Ich hätte ein anderes Leben. Ein besseres Leben? Das werde ich nie wissen. Immerhin habe ich noch Träume. Das mit der Schneiderin werde ich vielleicht verwirklichen, wenn ich pensioniert bin oder halt in einem nächsten Leben.

Doch, ich habe Grund genug, meine Arbeit zu mögen, obwohl das Fachgebiet auf den ersten Blick für viele abschreckend sein mag. Ich habe viel Freiheit, einen guten Lohn, mein Wissen und meine Erfahrung werden geachtet. Ich schätze es, dass ich mich immer wieder mit kniffligen, organisatorischen und auch mentalen Herausforderungen auseinandersetzen muss. Unterdessen leite ich ein Team und viele Projekte. Es kostet mich einige Überwindung, Angestellte zu leiten, aber auch das ist eine bereichernde Erfahrung. Es erfüllt mich mit Genugtuung, dass ich tatsächlich nützliches Fachwissen weitergeben kann und jüngere Mitarbeiter von mir lernen. Dabei bin ich immer wieder überrascht, dass – trotz wiederholter Betonung, wie wichtig in diesem Fach die Beachtung der kleinsten Details ist – mich in meiner akribischen Genauigkeit einfach keiner schlagen kann.

Die Fotos in diesem Beitrag sind einige meiner Feierabendprojekte.






1 Kommentar:

Schreibschaukel hat gesagt…

Wow - obwohl ich dich auch für deine Leistung in deinem Job bzw. deine Karriere bewundere, die du dir von niemandem kleinreden lassen solltest; ich bin nicht so sicher, ob du nicht auch mit deinen "Feierabendprodukten" Geld verdienen könntest. Aber wer weiss? In ein paar Jahren ist ja noch nicht Feierabend!
Übrigens habe ich diesen Post erst jetzt zufällig gesehen - irgendwie ist mir mein Mail-Abo abhanden gekommen ... muss mal gucken, weshalb.