Mittwoch, 26. Februar 2020

Abnabelung

Dass ich meiner Achtzehnjährigen immer noch Pausenbrote für die Schule zubereite, ist dumm und überflüssig. Das ist mir klar. Ich bin da hineingeschlittert. Wann wäre der ideale Zeitpunkt gewesen, damit aufzuhören? Als sie Sieben war? Zehn? Fünfzehn? Ich weiss es nicht, aber ich habe ihn offensichtlich verpasst. Mit dummen Gewohnheiten aufzuhören wird immer schwieriger, je länger man sie festfahren lässt. Ja, ich werde es nun dabei belassen. In wenigen Monaten muss die junge Dame für einige Jahre ins Militär und wird eh den Schock ihres Lebens davontragen. Da kommt es auf ein paar Pausenbrote mehr oder weniger auch nicht mehr an.

Wo genau liegt der goldene Mittelweg zwischen bedingungsloser Elternliebe und unnötigem Verwöhnen? Kleine Liebesbeweise im Alltag sind wunderbar, aber wann  übertreten wir die Grenze zu sinnloser Übernahme von Verantwortung? Diese Fragen sind für mich auch jetzt, da die Kinder schon erwachsen sind, aktueller denn je.

Sivan, die ältere Tochter, ist im Januar ausgezogen. Als ich kurz danach unseren Wocheneinkauf erledigte, besorgte ich auch für sie noch zwei oder drei Sachen, von denen ich wusste, dass sie sie brauchen würde. Sie wohnte zwar nicht mehr bei uns, aber sollte ich jetzt deswegen Nullkommaplötzlich meine Liebesbeweise einstellen? Ausserdem studiert sie ja noch und wir müssen sie eh finanziell unterstützen. Warum sollte das nicht in Materialien stattfinden? Zuhause legte ich die Einkäufe in eine Tasche und als Sivan uns besuchen kam, nahm sie sie erfreut und dankend mit.

Wenige Wochen später erreichte mich per WhatsApp ohne Vorwarnung eine Einkaufsliste: Toilettenpapier. Cornflakes. Kaffee. Thunfisch in Dosen. Ketchup. Honig. Beim nächsten Einkauf zu erledigen. Danke. Sivan

Da hatte ich nun den Brei. Das dürfte auf keinen Fall zur Gewohnheit werden! Aber ich antwortete nicht. Ich lasse mich auf keine WhatsApp-Diskussionen ein und diese Frechheit musste ich erst einmal verarbeiten. Ich würde ihr bei Gelegenheit klipp und klar sagen, dass ich kein Online-Shopping-Unternehmen bin.

Irgendwann erledigte ich wieder unseren Wocheneinkauf. Ich suchte Früchte, Gemüse, Milchprodukte und einiges mehr zusammen, dann warf ich einen kurzen Blick auf die WhatsApp-Meldungen der letzten Tage. Und ehe ich mich versah, lagen Toilettenpapier, Cornflakes, Kaffee, Thunfisch in Dosen, Ketchup und Honig im Einkaufswagen. Nun wirklich  warum eigentlich nicht? Ich war eh ja schon am Einkaufen. Und Sivans Wohnung liegt an meinem Weg nach Hause, da lag es doch auf der Hand, dass ich ihr die Sachen vorbeibringen konnte. Und ausserdem studiert sie ja noch, wir müssen sie eh finanziell unterstützen...

Aber wie lange sollte ich Einkäufe für sie erledigen? Bis sie 25 war? Dreissig? Vierzig? Fünfzig? Und wie lange sollte eigentlich dieser Prozess der Abnabelung noch dauern, der mit dem Durchtrennen der Nabelschnur nach der Geburt erst seinen Anfang nimmt? Vielleicht können mir meine über Achtzigjährigen Eltern etwas dazu sagen...

Es ist falsch! Das wusste ich schon im ersten Augenblick. Dann legte ich die von ihr angeforderten Waren wieder zurück in die Regale und begab mich zur Kasse.

Bei ihrem nächsten Besuch erklärte ich Sivan, dass wir sie gerne unterstützen, wo immer wir können, dass aber Für-sich-selbst-Sorgen zum Unabhängigsein gehört. Sie schien etwas enttäuscht, dass der geniale Trick nicht geklappt hatte. Später stellte ich fest, dass sogar das angebrochene Paket Toilettenpapier noch da war, das ich ihr angeboten hatte und ich fragte sie auf WhatsApp weshalb. „Weil du recht hast“, schrieb sie. „Ich möchte das für mich selbst erledigen.“

Mittwoch, 19. Februar 2020

Strickpause

Als ich noch jung war, liebte ich es, zu stricken und ich entwickelte mich zu einer echten Strickexpertin. Ich strickte zu Hause vor dem Fernseher oder am Radio, ich strickte im Zug, ich strickte im Unterricht unter dem Pult, ich strickte jahrelang einfach immer, wohl Hunderte von Jacken und Pullovern, Mützen, Handschuhen und Socken. Wenn ich knapp bei Kasse war, löste ich alte Pullover auf und verwendete die Wolle ein zweites mal. Ich kann mich sogar noch an einen Abend erinnern, als ein junger Mann bei mir zuhause neben mir sass und mich wohl gerne küssen wollte. Er hatte keinen Erfolg – schliesslich musste ich unbedingt diese paar Reihen fertigstricken...

Eine seltsame Beschäftigung für eine junge Frau, würde man heute wohl denken. Aber das war ja auch in einem anderen Jahrhundert. Und einen Mann, für den ich die Strickarbeit zur Seite legte, habe ich dann doch noch gefunden.

Als ich nach Israel zog, machte das Stricken nicht mehr viel Sinn. Es war zu warm und es gab keine anständige Wolle. Ich besorgte mir eine Nähmaschine und begann zu nähen. Irgendwann lockten mich die Nadeln wieder und ich häkelte einige Bikinis. Meine Töchter waren begeistert davon – bis sie sich zum ersten mal damit ins Wasser wagten...

Als mich kürzlich eine Freundin darum bat, einen Mantel für sie zu stricken, war ich sofort Feuer und Flamme. Sie lieferte die Wolle und ich strickte bald in jeder freien Minute. Nicht mehr im Zug (heute fahre ich Auto) und auch nicht mehr im Unterricht. Auch nicht an der Arbeit – obwohl ich gestehen muss, dass mir der wahnwitzige Gedanken durch den Kopf gegangen ist. Nein, ich stricke hautpsächlich zu Hause auf dem Sofa, wann immer es die Zeit erlaubt. Meistens höre ich dabei über Kopfhörer Audio-Bücher von der Onleihe Bibliothek, während die Nadeln dahinfliegen. Nach "Liebe zukünftige Lieblingsfrau" von Michalis Pantelouris (etwas leichtere Kost) höre ich nun "Bronsteins Kinder" von Jurek Becker (faszinierend und etwas anspruchsvoller). Es ist das perfekte Abkapseln von Alltagssorgen, ärgerlichen Familienmitgliedern und deprimierenden Nachrichten.

Ich schaffte zweieinhalb Pulloverteile (in kürzester Zeit!) dann stieg meine Schulter aus und ich musste den Strickmarathon unterbrechen. Schon drei Tage ruht nun die Arbeit, weil ich meinen rechten Arm kaum noch bewegen kann. Nun sitze ich abends von Schmerzmitteln betäubt auf dem Sofa, geniesse weiterhin das Buch über die Kopfhörer, aber die Hände ruhen im Schoss. Nur manchmal, wenn ich auf die Wolle blicke, zucken die Finger.

Donnerstag, 6. Februar 2020

Im goldenen Käfig

Immer wenn ich denke, dass es nun wirklich an der Zeit wäre, aus dem goldenen Käfig auszubrechen und endlich den Traum von etwas mehr Sinn und Abwechslung in meinem (immer schneller dahinschmelzenden Rest-)Leben zu verwirklichen, werden von oben die goldenen Gitterstäbe wieder festgezurrt.

Ob wohl mein Arbeitgeber nicht nur Zugriff auf meine Computertätigkeit sondern auch auf meine Gedanken hat?

Anlässlich eines Gespräches erwähnt die Chefin, dass sie für mich eine Beförderung beantragt hat und diese bewilligt worden sei. An irgendwelche internen Karrieremöglichkeiten habe ich in den letzten Jahren vor lauter Ausbruchsgedanken gar nicht mehr gedacht. Aber bitte, warum eigentlich nicht?

Beim Mittagessen erfahre ich, dass das firmeninterne Sportangebot, welches vor zwei Jahren aus Kostengründen gestrichen worden ist, erneuert wird. Das Angebot an kostenlosen Kursen in zahlreichen Sportarten ist verführerisch. Ich schwanke noch zwischen Yoga und Funktionstraining.

Dann trifft ganz unerwartet eine Mail ein, in welcher ich aufgefordert werde, ein neues Handy (das neueste Modell, mit der fantastischen Doppelkamera!) vom Sekretariat abzuholen. Ich starre die überraschende Nachricht einige Sekunden ungläubig an, dann hole ich das funkelnagelneue Gerät sofort ab  und schiebe den Ausbruch aus dem goldenen Käfig wieder einmal für einige Wochen auf. Einige Tage mehr oder weniger, darauf kommt es nach zwanzig Jahren ja auch nicht mehr an. Und wenn ich mir das genau überlege geht es mir doch gar nicht so schlecht hier. Immerhin darf ich mich ziemlich frei bewegen. Die Verwirklichung meiner Träume wird eben weiterhin vor acht Uhr morgens und nach fünf Uhr abends stattfinden müssen.

Habe ich eigentlich die exzellente Kaffeemaschine in der Büroküche schon erwähnt?