Donnerstag, 19. Dezember 2019

Achtzehn

Als ich mich heute nach dem Morgensport und der Dusche in der Firma anziehe, fische ich mit Schrecken eine Jeans meiner Tochter aus der am Vorabend gepackten Sporttasche. Keine Ahnung, wie das Stück in meinen Schrank gelangt ist, aber nun bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als es anzuziehen. Die Jeans passt mir zwar in der Grösse, aber – auf dem rechten Knie prangt ein grosses ausgefranstes Loch! Nun ist eine helle Jeans an sich schon nicht mit dem Büro-Knigge vereinbar, aber eine Löcherjeans ist ein absolutes No Go! Ich ziehe die Jeans ungläubig an. Zum Glück habe ich in meiner Handtasche einen Notfallfaden und Nadel. Damit werde ich später das Loch aufs Ärgste zusammenschnürpfen. 

Dann wird im Radio, als ich vom Gebäude, in welcher sich die Dusche befindet, zum Hauptparkplatz fahre, das Lied „Just the two of us“ von Grover Washington Jr. abgespielt. Das passt zur Jeans! Heute will mich mein Schicksal jung halten. Ich drehe sofort die Lautstärke auf und fange im Sitzen an zu tanzen. Ich liebe diesen Song und er wird für immer Erinnerungen an geschwänzte Französisch-Stunden während meiner Gymi-Zeit hervorrufen. Unser Fussweg vom Bahnhof zum Gymnasium führte in Basel am Atlantis vorbei und die Versuchung, dort am Morgen bei einem Kaffee noch etwas zu verweilen und mit dem Kellner zu schäkern, anstatt beim Franz-Unterricht mit dem Schlaf zu kämpfen, war oft zu gross. Das Lokal stank am Morgen zwar nach abgestandenem Rauch, aber das war uns egal: Kaffee, ein Gipfeli, eine Münze in die Jukebox und immer dasselbe Lied: Just the two of us, we can make it if we try.... Der Französischlehrer konnte uns erst mal für eine Weile gestohlen bleiben.

Ich habe den Parkplatz schon lange erreicht, bleibe aber sitzen und geniesse die Musik. Ich lasse mein blankes Knie frech aus der Löcherjeans blitzen, schliesse die Augen und bin für einige Minuten wieder achtzehn Jahre alt.

Dann stehe ich auf, ziehe die Jeans über dem Knie notdürftigst zusammen, schüttle die jugendliche Aura ab und schreite mit ernster Miene auf das Bürogebäude zu, um dort den heutigen Tag in Angriff zu nehmen.


3 Kommentare:

wegwunder hat gesagt…

Noch bevor ich den verlinkten Song gesehen habe, bin ich schon auf Youtube... voller Neugier. Denn, ich kann mich überhaupt nicht an diesen Song erinnern. Auch jetzt nicht, wo ich ihn höre. Hm. Woran das liegt? Ich muss wohl zu jung sein... hahaha ;-) ;-)
Liebe Grüsse Sibylle

Yael Levy hat gesagt…

Zu jung - oder nicht genug Unterricht geschwänzt?

Schreibschaukel hat gesagt…

Mir gefällt vor allem die Perspektive, hihi.