Vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten sah mein Leben noch sehr anders aus. Ich war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Alles drehte sich mehr oder weniger um mich selbst, ich stand im Zentrum meines Universums. Dann beschloss ich – aus heute schwer nachvollziehbaren Gründen – Kinder zu bekommen. Es wurden deren drei und natürlich änderte sich mein Leben schlagartig. Ab sofort war ich nur noch für andere da und musste meine Wünsche und Bedürfnisse hinten anstellen. Aber die Jahre vergingen wie im Flug. Viele verzweifelte Momente, einige schlimme Schreckmomente und sehr viele Glücksmomente später habe ich fast wieder den Ausgangszustand von vor 23 Jahren erreicht. Ich habe diese Woche sturmfreie Bude!
Jetzt trete ich am späten Nachmittag aus dem Büro und überlege zuerst einmal, wonach mir heute der Kopf steht. Ich muss niemanden bemuttern, niemanden umsorgen, niemanden bekochen, niemanden irgendwo hin fahren, niemandem zuhören. Niemand wartet auf mich. Natürlich gibt es da noch den Gatten, aber der ist ja schon erwachsen genug, um sich um sich selbst zu kümmern (sollte man denken). Ich kann in einem Café sitzen und Freundinnen treffen oder am Strand den Sonnenuntergang bestaunen. Ich kann mich ins Auto setzen und einfach ziellos irgendwo hinfahren. Ich kann mit den Klängen von "The Dark Side of the Moon" zuhause die Lautsprecher zum Zittern bringen und dazu splitternackt durch die Stube tanzen, ohne dass jemand denkt, die alte Schrulle hätte eine Schraube locker. Ich kann... Ich kann endlich wieder einfach ICH sein.
Unsere älteren Kinder sind schon länger und öfter nicht mehr zuhause. In diesen Tagen ist auch Lianne, die Sechzehnjährige, für eine Woche verreist. Sie ist zum ersten Mal ohne erwachsene Begleitung in den Urlaub gefahren. Nach Eilat, dem Touristen-Mekka Israels, zusammen mit zehn Freundinnen. Eine ganze Woche kann sie nun dort über die Stränge schlagen, tun und lassen, wonach sie gerade Lust hat, und vor allem, Unabhängigkeit und Selbständigkeit erfahren. Bestimmt geniesst sie das genau so wie ich.
Soweit wäre also alles fantastisch.
Hätte nicht eine der Mütter die hirnverbrannte Idee gehabt, eine WhatsApp-Gruppe ins Leben zu rufen, noch bevor die Mädchen abgefahren waren. Ohne um meine Meinung gefragt zu werden und bevor ich mich versah, war ich Mitglied dieser Gruppe, zusammen mit zehn anderen Müttern und allen elf Mädchen. Natürlich verlasse ich die Gruppe nicht, ich will die anderen Mütter ja nicht vor den Kopf stossen. Ich möchte auch nicht die einzige sein, die nichts davon weiss, wenn – ja, wenn was? Wenn vielleicht das grosse grüne Krümelmonster die elf Mädchen in einer Nacht- und Nebelaktion entführen sollte? Oder so ähnlich?
Kaum ist die WhatsApp-Gruppe entstanden, folgen die Nachrichten im Minutentakt, der Nachrichtenstrom reisst gar nicht mehr ab: Seid ihr schon im Bus? Seid ihr schon angekommen? Ist alles in Ordnung? Habt ihr die Zimmer schon erhalten? Sonnencrème eingestrichen? Die Lichter gelöscht? Trinkt ihr genug? Und so weiter, sorgen sich die Helikoptermütter rund um die Uhr. Anstatt Selbständigkeit hat jetzt jedes der Mädchen elf besorgte Glucken am Hals.
Arme Kinder. Wäre ich eines der Mädchen, würde ich mein Mobiltelefon in hohem Bogen aus dem Fenster werfen und dann so richtig auf den Putz hauen.
Ich selbst lernte vor vielen Jahren als junge Frau in Eilat einen netten jungen Mann kennen. Hätten mich meine Eltern damals auf Schritt und Tritt per WhatsApp verfolgt, wäre vielleicht aus diesem romantischen Treffen, mit welchem die ganze Geschichte hier ihren Anfang genommen hat, nie etwas geworden.
Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
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