In den Tagen vor meinem Abflug in die Schweiz ist im und um den Gazastreifen immer noch die Hölle los. Zehntausende Palästinenser, von der Hamas aufgestachelt und trotz drohender Lebensgefahr in die brenzlige Zone geschickt, werfen Steine, Molotowcocktails, Granaten und Brandkörper über den Grenzzaun. Auf der israelischen Seite stehen Weizenfelder, Kirschenplantagen und ganze Naturreservate in Flammen. Die randalisierenden Palästinenser fackeln den Grenzübergang ab (wo sonst lebensnotwendige Güter die Grenze passieren) und demolieren ihre eigene Stromversorgung und alles muss mit israelischen Geldern wieder aufgebaut werden. Unsere Soldaten liegen schwitzend im heissen Sand um Gaza und lassen sich mit steigender Frustration mit gefährlichen selbstgebastelten Brandobjekten bewerfen. Viele Palästinenser werden erschossen.
Auf dem Weg zur Arbeit vernehme ich aus dem Radio, dass Israel trotz der Kriegssituation Generatoren in den Gazastreifen liefert, um die lebensnotwendige Stromversorgung in den Krankenhäusern auch während den täglichen Ausfällen sicherzustellen. Weil die Generatoren von der Hamas immer wieder missbraucht und zum Graben von Terrortunnels entwendet werden, statten sie die Israelis neuerdings mit teuren HiTech-GPS-Sensoren aus, die eventuelle Bewegungen der Generatoren im Gazastreifen über Satellitenfunk anzeigen. Kein Wunder, bezahle ich fast 40% Steuern!
Die argentinische Fussballmannschaft mit Messi sagt nach Drohungen von seitens der Palästinenser in letzter Minute ein freundschaftliches Spiel in und gegen gegen Israel ab, obwohl das Spiel innert weniger Stunden bis zum letzten Platz ausverkauft war. Fussball wäre ein bisschen Normalität, aber die Israelis stecken auch diesen Schlag ein und machen weiter.
Ein weiterer versteckter Terrortunnel, der vom Gazastreifen ins Meer führt und mit missbrauchten Spendengeldern in Millionenhöhe von der Hamas für Terrorzwecke gebaut wurde, wird vom israelischen Militär entdeckt und zerstört.
In Lianne’s Schule sagt eine spanische Schulklasse den für einen Schüleraustausch geplanten Besuch ab. Haben sie Angst? Wollen sie nichts mit Israel zu tun haben? Wir wissen es nicht, aber Lianne und ihre Schulkollegen sind schwer enttäuscht.
Die Situation ist vertrackt, komplex und vollkommen absurd.
Dieses ganze infernalische Durcheinander wird von einer unerträglichen Hitzewelle untermalt. Temperaturen bis zu 40 Grad heizen die Situation noch zusätzlich ein. Das ganze Land schwelt in Hitze, Sand, Staub, Rauch und Feuer.
Nach drei Stunden Lesen und einem ungeniessbaren Flugzeugfrass treffe ich auf eine grüne und ruhige und friedliche Schweiz. Die Schweizer gehen zur Arbeit, ziehen ihre Kinder gross, pflegen ihre Freizeit, fahren aus, wandern und treiben Sport. Das schöne Sommerwetter bringt sie ganz aus dem Häuschen. Ausserdem kümmern sie sich um inner- und ausserpolitische Angelegenheiten und stimmen fast jedes Wochenende über irgend etwas mehr oder weniger Wichtiges ab. In den Zeitungen und den Nachrichten schauen sie ab und zu über die Grenzen und empören sich über das Geschehen in der Welt.
Den sanften Hügeln im Fricktal macht die Sommerhitze nichts aus, im Gegenteil, sie erscheinen kräftig grün und fruchtbar in ihrer ganzen Pracht. Nur eine kurze Radfahrt vom Haus meiner Eltern liegt der Rhein ruhig und breit an der Grenze zu Deutschland und in der friedlichen Abendstimmung ist es schwer zu glauben, dass anderswo die Erde brennt.
Mich bringt die zum Himmel schreiende Diskrepanz zwischen der verrückten Situation in Israel und dem gemächlichen Paradies Schweiz wieder einmal ziemlich aus dem Gleichgewicht. Immer wieder drängt sich mir das Bild von deutschen oder polnischen Bürgern auf, die im zweiten Weltkrieg hinter geschlossenen Fenstern und zugezogenen Gardinen einen Blick auf die in den Strassen abtransportierten Juden erhaschen. Keiner hat etwas gesehen, keiner weiss etwas.
Ja, ich weiss, man muss sich in X-tausend Kilometern Entfernung nicht darum kümmern, was in Israel los ist. Und ich weiss auch, dass es leider auf dieser Erde noch viele Kriege und Katastrophen gibt. Wir können uns nicht um alles kümmern. Und wahrscheinlich auch kaum etwas ausrichten. Und man hat ja auch genug eigene Probleme. Aber ich komme soeben aus der Hölle und das kann ich nicht verdrängen, während ich mit Bekannten und Familienmitgliedern über Belangloses rede.
Leider kann ich mit niemandem darüber sprechen, denn Viele haben keine Ahnung oder eine festgefahrene Meinung und die Meisten haben beides. Ist es denn so schwierig, die wenigen korrekten Zeitungsartikel zu lesen und nicht auf die Lügen in den Medien hereinzufallen? Den Spreu vom Weizen zu trennen? Sehen sie denn nicht, dass sie dem Rattenfänger hinterherlaufen? Und ist es in Ordnung, keine Meinung zu haben? Und dabei mit geschlossenen Augen der totalen Katastrophe entgegenzuschlittern?
Viele Schweizer vertreten die Haltung, dass „die andere Wange hinzuhalten“ Frieden bringen könne. Auch ich wuchs in diesem Glauben auf. Heute bin ich überzeugt, dass man, in die Zukunft denkend und um Frieden zu erreichen, das Böse bekämpfen muss. Die Erdenbürger sind leider nicht von Grund auf gleich und gut, so sehr man das auch glauben möchte. Mit der Politik des „die andere Wange hinhalten“ wird sehr viel Schaden angerichtet und Kriege werden auf grossem oder kleinem Feuer in Endlosschleife am Leben erhalten.
Nach einer Woche trete ich den Rückflug in die Hölle an und bin froh, wieder in Israel zu sein. Nicht nur, weil ich mich hier zu Hause fühle – ich kann nicht mehr zu dem Volk gehören, das sich ohne Meinung (im besten Fall!) hinter zugezogenen Gardinen versteckt und nichts gesehen haben will. Lieber bin ich mittendrin und gehe auch in Flammen auf.
3 Kommentare:
Was für ein kraftvoller Text. Und - leider! - wie Recht du doch hast.
Dein Beitrag hat mich betroffen gemacht... wenn du magst: https://wegwunder.ch/2018/06/23/und-waehrend-die-welt/
Liebe Grüsse
Sibylle
Liebe Sibylle,
Danke für deinen Kommentar und den Beitrag auf deinem Blog. Diesen muss ich nun noch etwas überdenken und werde dann gerne separat darauf Bezug nehmen.
Bis dann
LG
Yael
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