Keine Sorge, liebe Leser, hier erwartet sie nicht ein weiterer Vorschlag für ein Heimtraining bei Ausgangssperre. Viel mehr geht es um Sport im Fernunterricht und um die Bewältigung einer Abschlussprüfung in skurrilen Zeiten. Und ja, der Beitrag ist etwas länger, aber bestimmt müssen sie ja in den nächsten Stunden nirgendwo hin, es sei denn, sie seien Arzt, Pflegepersonal oder arbeiten an der Entwicklung eines Impfstoffs.
Sport ist an den israelischen Oberstufen ein offizielles Abschlussprüfungsfach. Für das „Bagrut“ (Abitur) müssen die Schüler nebst anderen Disziplinen auch drei Kilometer Laufen. Lianne ist aber keine sportliche Person – ihr Körper befindet sich in einem Ruhemoment, das nur schwer in Bewegung zu bringen ist. Deshalb beschäftigt sie die Frage, wie diese Lauf-Nuss zu knacken ist, schon seit geraumer Zeit. Eigentlich schon seit Anfang Oberstufe taucht das Thema bei uns zu Hause sporadisch auf – nur um dann schnellstens wieder unter den Teppich gewischt zu werden. Einst noch zuversichtlich, entwarf ich für Lianne ein grosszügiges zweijähriges Trainingsprogramm, später dann ein etwas intensiveres für einige Monate. Aber all das Gerede fruchtete nichts und eines Tages stand das befürchtete Prüfungsdatum – der 25. März – unmittelbar bevor.
Wenige Wochen vor dem Termin sah Lianne nun doch noch ein, dass sich das unliebsame Thema durch Verdrängen wohl nicht beseitigen lassen würde und raffte sich widerwillig dazu auf, etwas für ihre Fitness zu tun. Sie zog sich sportlich-modisch an, stimmte die Farbe des Laufshirts auf die Socken ab, schminkte sich sorgfältig und als das Outfit perfekt war, zog sie los. Aber schon nach wenigen Hundert Metern ging ihr die Puste aus und sie fand bestätigt, was sie schon lange wusste: dass Hopfen und Malz verloren ist. Nach Luft ringend verfluchte sie die Lehrerin, die Schule und den Sport im Allgemeinen. Sie kann, will und wird nicht laufen! Eher lernt ein Elefant Seiltanzen, als dass ein unverbesserlicher Stubenhocker in drei knappen Wochen zum Läufer wird.
Nun ist Lianne gerade volljährig geworden und somit selbständig krankenversichert (das bedeutet, dass wir, ihre Eltern, keinen Zugriff mehr auf ihre Daten haben, aber weiterhin die Versicherungsraten berappen müssen, solange sie noch zur Schule geht).
Die erste grandiose Aktivität, die sich Lianne als selbständiges Krankenkassenmitglied leistete, war das Erlügen einer Achillessehnenentzündung und das Erbetteln eines Attests von unserem Familienarzt. Der Arzt stellte das gewünschte Schreiben grosszügig aus, ohne die Patientin zu begutachten. Zwar hatte die Beglaubigung einen Haken, denn sie war auf einen Monat befristet, aber immerhin befreite sie Lianne vom ersten Prüfungstermin. Für den Wiederholungstermin, der einen Monat später drohte, würde sie sich rechtzeitig auch noch etwas einfallen lassen. Kommt Zeit, kommt Rat!
Kommt Corona! Zwar wird die Erde nicht kurz vor der Prüfung von einem Meteoriten aus der Bahn geworfen, wie sich das Lianne insgeheim gewünscht hatte – aber ein fast so fatales Virus zwingt uns momentan, sämtliche Pläne und Aktivitäten aufs Abstellgleis zu stellen. Die Zukunft ist bis auf Weiteres storniert. Somit auch alle Abschlussprüfungen. Hurra! Endlich darf Lianne offiziell faulenzen, bis sie nach Verwesung stinkt. Ja, natürlich ist die ganze Situation nicht gerade rosig und dass sie ihre Freunde nicht mehr treffen kann und eigentlich so schnell wie möglich die Schule hinter sich lassen und die Welt entdecken wollte, weicht nun einer abgrundtiefen Enttäuschung. Aber immerhin, die Laufprüfung scheint erst einmal aus der Welt geschafft zu sein. Halleluja!
Ab sofort brilliert Lianne in der Disziplin „Auf-dem-Sofa-liegen“. Diese unterbricht sie nur ab und zu, um Knabbernachschub aus der Küche zu besorgen. Für kurze Zeit ist ihr Leben fast perfekt.
Aber nach wenigen Tagen im Schockzustand rauft sich die Lehrerschaft zusammen und richtet sich für den Fernunterricht ein. Und sie nehmen es ernst: Nach zwei Tagen Fernunterricht beklagt sich Lianne, dass sie in den letzten 48 Stunden mehr Arbeiten geschrieben habe als in den vergangenen drei Monaten! Dann schiesst die Sportlehrerin mit einer besonders unverschämten Idee den Vogel ab: Sie schickt Lianne ein detailliertes einmonatiges Trainingsprogramm und fordert sie auf, ihr die mit der Fitness-App Strava aufgezeichneten Laufübungen online zur Kontrolle zu schicken. Was für eine Hexe! Ist es nicht genug, dass uns dieses verflixte Virus das Leben zur Hölle macht? Nicht einmal auf dem eigenen Sofa lassen einen die Lehrer in Ruhe!
Zusätzlich soll Lianne als Strafaufgabe für drei im Januar geschwänzte Sportstunden zwanzig Burpees (Liegestützsprünge) machen und eine Vidoaufnahme davon der Lehrerin schicken. Ach, wenn es nur das ist – kein Problem! Gegen ein angemessenes Entgelt ist die sportliche Schwester bereit, die Aufgabe für sie auszuführen. Immerhin ist Sivan gleich gross und hat ähnliches Haar. Dass sie einiges dünner ist, wird mit drei übereinander angezogenen dicken Trainingsanzügen ausgeglichen. Ihre Burpees sind perfekt. Sie wird nur von hinten gefilmt und hopp, schon ist das Filmchen im Kasten.
Was die Aufzeichnungen des Lauftrainings anbetrifft – was läge näher als mich dafür einzuspannen? Schliesslich gehe ich eh dreimal in der Woche laufen und es wäre doch unverzeihlich, diesen Heimvorteil nicht zu nutzen. Meine vehemente Absage akzeptiert Lianne zwar enttäuscht aber vielleicht auch etwas erleichtert, denn der Gedanke, sich mehrere Male von ihrem Handy trennen zu müssen, lag ihr eh schwer auf dem Magen.
Endlich schafft es eine Freundin, Lianne zum ersten Training zu motivieren. Aber die Laufrunde wird – wie nicht anders zu erwarten – eine Katastrophe. Irgendwie vermasselt Lianne die Aufzeichnung mit der App und obwohl sie mindestens zwanzig Minuten mit der Freundin in der Nachbarschaft umher schlurft, werden davon nur acht Minuten aufgezeichnet. Sie ist am Boden zerstört! Wie konnte es nur passieren, dass sich wertvolle Trainingsminuten im Nichts auflösten?! So konnte es nicht weitergehen! Eine handfestere Lösung musste her.
Not macht bekanntlich erfinderisch. Lianne hat zwar müde Beine, aber ein kluges Köpfchen. Für das zweite Training steigt sie mit Handy ins Auto, stellt die FitnessApp an – und fährt mit 8 km pro Stunde einmal ums Quartier. Ha! Das perfekte Training ist in der Tasche! So scheint es immerhin, aber bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass die Aufzeichnung eine seltsame Zickzackform hat. Hmm, ob die Lehrerin das merken würde?
Die Rettung kommt vom Himmel, denn in diesen Zeiten ist auf höhere Gewalt Verlass: Eine Ausgangssperre! Ab sofort dürfen wir uns nur noch in einem Radius von 100 Metern von der eigenen Wohnung bewegen. Wenn das nicht eine göttliche Eingebung ist! Mit den neuen Massnahmen scheint die Sportprüfung endlich in unerreichbare Ferne zu rücken.
Lianne liegt wieder auf dem Sofa. Aber mir scheint, dass diese Prüfung nicht totzukriegen ist. Wenn eine Sehnenentzündung und ein Corona-Virus ihr noch nicht den Garaus gemacht haben, vermute ich, dass sie demnächst in irgendeiner Form wieder den Kopf heben wird. Ich bin gespannt...
Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
Donnerstag, 26. März 2020
Mittwoch, 18. März 2020
Prosit!
Entgegen aller dringlichsten Empfehlungen fahre ich heute wieder ins Büro. Die Verbindung und die Ausrüstung im Heimbüro waren gestern katastrophal. Ich habe eine komplizierte Arbeit zu erledigen, für welche ich meine beiden grossen Bildschirme und akzeptable Netzverbindung benötige.
Die Strassen sind auch zur Hauptverkehrszeit wie ausgestorben. Auch die Büros sind menschenleer. Ich geniesse die Ruhe und weiss nun sogar meine graue Büroeinrichtung zu schätzen! Nur das Reinigungspersonal ist noch da und putzt in Scharen und als ginge es um Leben und Tod. Eine der Frauen wedelt auch um mich herum und reibt meine direkte Umgebung mit Unmengen von antiseptischen Feuchttüchern ab. Sie erledigt ihre Arbeit so eifrig, dass sie sogar den gebotenen Zwei-Meter-Abstand vergisst.
Zum Mittagessen lasse ich mir vom Asiaten Sushi liefern, obwohl ich mich beim letzten mal gewaltig über den extremen Abfallberg geärgert und mir vorgenommen habe, nur noch unverpackte Mahlzeiten zu essen. Die Sushi-Mahlzeit ist auch heute wieder in unzählige Kartonschächtelchen mit Plastikdeckeln verpackt und der hinterlassene Abfallberg ist mindestens dreimal so umfangreich wie das Essen, das ich zu mir nehme. Aber leider gibt es auch in der Kantine nur noch umweltschädlich abgepacktes Essen.
In der verwaisten Kaffeeküche finde ich eine angebrochene Flasche Roséwein. Der wird ja auch nicht frischer, denke ich, und genehmige mir einige Tropfen. In einem Plastikbecher, wohlgemerkt, etwas anderes finde ich gerade nicht. Aber das macht ja jetzt alles nichts mehr aus, schliesslich müssen wir nur noch irgendwie überleben.
Nach einem Becher Rosé sieht die Welt aus dem Bürofenster fast schon aus, als wäre alles beim Alten. Prosit! Nach uns die Sintflut!
Die Strassen sind auch zur Hauptverkehrszeit wie ausgestorben. Auch die Büros sind menschenleer. Ich geniesse die Ruhe und weiss nun sogar meine graue Büroeinrichtung zu schätzen! Nur das Reinigungspersonal ist noch da und putzt in Scharen und als ginge es um Leben und Tod. Eine der Frauen wedelt auch um mich herum und reibt meine direkte Umgebung mit Unmengen von antiseptischen Feuchttüchern ab. Sie erledigt ihre Arbeit so eifrig, dass sie sogar den gebotenen Zwei-Meter-Abstand vergisst.
Zum Mittagessen lasse ich mir vom Asiaten Sushi liefern, obwohl ich mich beim letzten mal gewaltig über den extremen Abfallberg geärgert und mir vorgenommen habe, nur noch unverpackte Mahlzeiten zu essen. Die Sushi-Mahlzeit ist auch heute wieder in unzählige Kartonschächtelchen mit Plastikdeckeln verpackt und der hinterlassene Abfallberg ist mindestens dreimal so umfangreich wie das Essen, das ich zu mir nehme. Aber leider gibt es auch in der Kantine nur noch umweltschädlich abgepacktes Essen.
In der verwaisten Kaffeeküche finde ich eine angebrochene Flasche Roséwein. Der wird ja auch nicht frischer, denke ich, und genehmige mir einige Tropfen. In einem Plastikbecher, wohlgemerkt, etwas anderes finde ich gerade nicht. Aber das macht ja jetzt alles nichts mehr aus, schliesslich müssen wir nur noch irgendwie überleben.
Nach einem Becher Rosé sieht die Welt aus dem Bürofenster fast schon aus, als wäre alles beim Alten. Prosit! Nach uns die Sintflut!
Sonntag, 15. März 2020
Surreale Szenen
Im Restaurant, in welchem meine Tochter arbeitet(e), werden heute die Waren verteilt oder weggeschmissen. Dann werden die Türen bis auf Weiteres verriegelt. Sie ist ganz froh, dass sie nicht mehr arbeiten muss, denn sie zieht gerade um und braucht die freien Tage. Womit sie ihre Miete bezahlen wird? Es ist wahrlich ein Segen, wenn man nicht mehr als drei Tage vorausdenken kann!
In unserer Kantine (ja, ich bin heute noch zur Arbeit gefahren, denn die Anweisungen des Arbeitgebers sind eher unklar) gibt es ab sofort in Aluschalen abgepackte Mahlzeiten, dazu Einweg-Plastikbesteck. Soviel zu meinem letzten Beitrag betreffend Plastikmüll. Im Kampf ums Überleben verpassen wir der Erde den Todesstoss.
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Abfall. Einst lebten wir in Saus und Braus |
Am Eingang zur Kantine zählt der Kantinenchef die Besucher, damit sich zu keinem Zeitpunkt mehr als sieben Personen in der 200 Menschen fassenden Halle befinden. Die drei Angestellten an der Ausgabe tragen Gesichtsmasken und Plastik-Handschuhe. Über allem liegt ein starker Duft von Desinfektionsmitteln. Die Tische sind in möglichst grossen Abständen nach draussen auf den Kunstrasen gestellt worden. An jedem Tisch stochert eine einzelne Person in ihrem Essen herum. Viele tragen ihre weissen Laborkittel, einige haben ihre Labor-Schutzbrillen in die Stirne geschoben. Wie ich aus der Ferne einschätzen kann, gibt es plastikweissen Reis, Antibiotika-Poulet und genmanipulierte Erbsen. Die Szene ist so surreal, dass ich so schnell wie möglich weg muss. Danke, mir ist der Appetit vergangen!
In diesen Zeiten schreibt man am besten gar nichts mehr für die Öffentlichkeit. Was heute stimmt, wird morgen widerrufen und ist übermorgen peinlich.
Ich werde Tagebuch für mich selbst schreiben, dafür umso öfter. In einigen Jahren werden wir bestimmt darüber staunen. Falls Sie unter den Überlebenden sein sollten – die Word-Datei befindet sich in meinem PC unter C:\Privat\Geschreibsel\MeinCoronaTagebuch.docx.
Donnerstag, 5. März 2020
Ein Weckruf
Die Sonne ist eben erst aufgegangen. Die Vögel zwitschern. Blühende wilde Iris und Veilchen säumen meinen Weg, bevor ich die Klippen zum Meer hinuntersteige. Es riecht nach Frühling...
So fangen unzählige meiner Blogbeiträge an. Aber etwas ist anders. Ich kann keine lustigen oder unterhaltsamen Beiträge mehr schreiben. Die Katastrophen nehmen in diesen Tagen ein Ausmass an, das es nicht mehr erlaubt, unbesorgt wegzuschauen. Der Aufstieg despotischer und terroristischer Gruppierungen, Kriege, Flüchtlingskatastrophen, Heuschreckenplagen, Pandemien.
Die Ausbreitung des Corona-Virus, aber noch viel mehr die Massnahmen der Gesundheitsbehörden und die daraus resultierende Massenpanik, machen Angst. Schulen, Universitäten, Industrien und der Luftverkehr sind lahmgelegt. Es ist ungewiss, wohin sich das in den nächsten Wochen oder Monaten noch entwickeln wird. Aber während die Corona-Hysterie mir trotz allem noch wie ein völlig unwirkliches Massenspektakel vorkommt, offenbart sich mir beim Laufen am Strand auch heute wieder der wahre ökologische Super-Gau: mit Plastikabfällen überfüllte Strände. Es ist ein absolut apokalyptisches Bild an einem menschenleeren Strand um sieben Uhr morgens: Plastikfässer, Plastikmöbel, Plastikflaschen, Plastikdeckel, Plastikbeutel, Plastikgeschirr und Plastikdosen. Plastikteile und -partikel in allen Grössen und Formen, vom stürmischen Meer in den Wintermonaten tonnenweise an die Strände gespült und liegengeblieben. Die Strandabschnitte, die ich kilometerweise joggend hinter mich bringe, liegen unter hohen Klippen geschützt und werden selten von Menschen besucht. Die Abfälle stammen ohne Zweifel aus dem Meer. Nun sind dreckige Strände im Winter für mich kein neues Bild. Aber heute entdecke ich überrascht zwei Putzleute, die nun, zum Ende der stürmischen Jahreszeit, damit beauftragt sind, die Katastrophe wegzuräumen. Die grösseren Plastikteile laden sie direkt auf ein Geländefahrzeug mit übervollem Anhänger, die kleineren klauben sie umständlich zwischen Steinchen und Sand hervor und sammeln sie in unzähligen Abfallsäcken ein. Die Verschmutzung ist so horrend, dass die beiden Angestellten wohl kaum einen halben Kilometer pro Tag schaffen. Aber sie scheinen es nicht eilig zu haben, vermutlich haben sie für ihre sisyphische Kleinstarbeit den ganzen Sommer über Zeit. Bis im Winter. Dann wird uns das von stürmischen Winden aufgepeitschte Meer erneut Plastikabfälle vor die Füsse speien. Und die Arbeit kann von vorne beginnen.
Das Mittelmeer ist zugemüllt. Plastik ist kaum abbaubar und er verschwindet nicht einfach. Wir können ihn wegtragen, aber der von uns produzierte Abfall kommt unweigerlich zu uns zurück. Können sie sich erinnern, dass sie in der Schule vom Kreislauf des Wassers gelernt haben? Vom Wasser auf der Erde, das verdunstet, sich zu Wolken bildet und wieder hinunterregnet? Genau so scheint es sich nun mit dem Plastik zu verhalten. Wir schmeissen ihn irgendwo weg und dann liegt er unverschämterweise an einem anderen Ort wieder da.
Der Gedanke, dass es zwischen den verschiedenen Katastrophen einen Zusammenhang geben könnte, lässt sich nicht mehr verdrängen. Ich betrachte die Männer, die hier in stoischer Ruhe Berge von unvernichtbarem Abfall wegtragen, während sich ein tückischer und destruktiver Massendefekt ausbreitet und alles Leben lahmlegt. Die Pandemie als skandalöse Wiederkehr der Natur. Mein Kopf brummt, dabei sollte er doch beim Laufen zur Ruhe kommen. Liegt vor uns die umfassende ökologische Katastrophe? Der Zusammenbruch der Zivilisation? Oder immerhin eine heimtückische Selektion? Aber sicherlich wenigstens ein Weckruf, dass wir nicht mehr hemmungslos weiterfeiern und weiterkonsumieren können, als gäbe es kein Morgen.
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Trügerische Idylle... |
Mittwoch, 26. Februar 2020
Abnabelung
Dass ich meiner Achtzehnjährigen immer noch Pausenbrote für die Schule zubereite, ist dumm und überflüssig. Das ist mir klar. Ich bin da hineingeschlittert. Wann wäre der ideale Zeitpunkt gewesen, damit aufzuhören? Als sie Sieben war? Zehn? Fünfzehn? Ich weiss es nicht, aber ich habe ihn offensichtlich verpasst. Mit dummen Gewohnheiten aufzuhören wird immer schwieriger, je länger man sie festfahren lässt. Ja, ich werde es nun dabei belassen. In wenigen Monaten muss die junge Dame für einige Jahre ins Militär und wird eh den Schock ihres Lebens davontragen. Da kommt es auf ein paar Pausenbrote mehr oder weniger auch nicht mehr an.
Wo genau liegt der goldene Mittelweg zwischen bedingungsloser Elternliebe und unnötigem Verwöhnen? Kleine Liebesbeweise im Alltag sind wunderbar, aber wann übertreten wir die Grenze zu sinnloser Übernahme von Verantwortung? Diese Fragen sind für mich auch jetzt, da die Kinder schon erwachsen sind, aktueller denn je.
Sivan, die ältere Tochter, ist im Januar ausgezogen. Als ich kurz danach unseren Wocheneinkauf erledigte, besorgte ich auch für sie noch zwei oder drei Sachen, von denen ich wusste, dass sie sie brauchen würde. Sie wohnte zwar nicht mehr bei uns, aber sollte ich jetzt deswegen Nullkommaplötzlich meine Liebesbeweise einstellen? Ausserdem studiert sie ja noch und wir müssen sie eh finanziell unterstützen. Warum sollte das nicht in Materialien stattfinden? Zuhause legte ich die Einkäufe in eine Tasche und als Sivan uns besuchen kam, nahm sie sie erfreut und dankend mit.
Wenige Wochen später erreichte mich per WhatsApp ohne Vorwarnung eine Einkaufsliste: Toilettenpapier. Cornflakes. Kaffee. Thunfisch in Dosen. Ketchup. Honig. Beim nächsten Einkauf zu erledigen. Danke. Sivan
Da hatte ich nun den Brei. Das dürfte auf keinen Fall zur Gewohnheit werden! Aber ich antwortete nicht. Ich lasse mich auf keine WhatsApp-Diskussionen ein und diese Frechheit musste ich erst einmal verarbeiten. Ich würde ihr bei Gelegenheit klipp und klar sagen, dass ich kein Online-Shopping-Unternehmen bin.
Irgendwann erledigte ich wieder unseren Wocheneinkauf. Ich suchte Früchte, Gemüse, Milchprodukte und einiges mehr zusammen, dann warf ich einen kurzen Blick auf die WhatsApp-Meldungen der letzten Tage. Und ehe ich mich versah, lagen Toilettenpapier, Cornflakes, Kaffee, Thunfisch in Dosen, Ketchup und Honig im Einkaufswagen. Nun wirklich – warum eigentlich nicht? Ich war eh ja schon am Einkaufen. Und Sivans Wohnung liegt an meinem Weg nach Hause, da lag es doch auf der Hand, dass ich ihr die Sachen vorbeibringen konnte. Und ausserdem studiert sie ja noch, wir müssen sie eh finanziell unterstützen...
Aber wie lange sollte ich Einkäufe für sie erledigen? Bis sie 25 war? Dreissig? Vierzig? Fünfzig? Und wie lange sollte eigentlich dieser Prozess der Abnabelung noch dauern, der mit dem Durchtrennen der Nabelschnur nach der Geburt erst seinen Anfang nimmt? Vielleicht können mir meine über Achtzigjährigen Eltern etwas dazu sagen...
Wo genau liegt der goldene Mittelweg zwischen bedingungsloser Elternliebe und unnötigem Verwöhnen? Kleine Liebesbeweise im Alltag sind wunderbar, aber wann übertreten wir die Grenze zu sinnloser Übernahme von Verantwortung? Diese Fragen sind für mich auch jetzt, da die Kinder schon erwachsen sind, aktueller denn je.
Sivan, die ältere Tochter, ist im Januar ausgezogen. Als ich kurz danach unseren Wocheneinkauf erledigte, besorgte ich auch für sie noch zwei oder drei Sachen, von denen ich wusste, dass sie sie brauchen würde. Sie wohnte zwar nicht mehr bei uns, aber sollte ich jetzt deswegen Nullkommaplötzlich meine Liebesbeweise einstellen? Ausserdem studiert sie ja noch und wir müssen sie eh finanziell unterstützen. Warum sollte das nicht in Materialien stattfinden? Zuhause legte ich die Einkäufe in eine Tasche und als Sivan uns besuchen kam, nahm sie sie erfreut und dankend mit.
Wenige Wochen später erreichte mich per WhatsApp ohne Vorwarnung eine Einkaufsliste: Toilettenpapier. Cornflakes. Kaffee. Thunfisch in Dosen. Ketchup. Honig. Beim nächsten Einkauf zu erledigen. Danke. Sivan
Da hatte ich nun den Brei. Das dürfte auf keinen Fall zur Gewohnheit werden! Aber ich antwortete nicht. Ich lasse mich auf keine WhatsApp-Diskussionen ein und diese Frechheit musste ich erst einmal verarbeiten. Ich würde ihr bei Gelegenheit klipp und klar sagen, dass ich kein Online-Shopping-Unternehmen bin.
Irgendwann erledigte ich wieder unseren Wocheneinkauf. Ich suchte Früchte, Gemüse, Milchprodukte und einiges mehr zusammen, dann warf ich einen kurzen Blick auf die WhatsApp-Meldungen der letzten Tage. Und ehe ich mich versah, lagen Toilettenpapier, Cornflakes, Kaffee, Thunfisch in Dosen, Ketchup und Honig im Einkaufswagen. Nun wirklich – warum eigentlich nicht? Ich war eh ja schon am Einkaufen. Und Sivans Wohnung liegt an meinem Weg nach Hause, da lag es doch auf der Hand, dass ich ihr die Sachen vorbeibringen konnte. Und ausserdem studiert sie ja noch, wir müssen sie eh finanziell unterstützen...
Aber wie lange sollte ich Einkäufe für sie erledigen? Bis sie 25 war? Dreissig? Vierzig? Fünfzig? Und wie lange sollte eigentlich dieser Prozess der Abnabelung noch dauern, der mit dem Durchtrennen der Nabelschnur nach der Geburt erst seinen Anfang nimmt? Vielleicht können mir meine über Achtzigjährigen Eltern etwas dazu sagen...
Es ist falsch! Das wusste ich schon im ersten Augenblick. Dann legte ich die von ihr angeforderten Waren wieder zurück in die Regale und begab mich zur Kasse.
Bei ihrem nächsten Besuch erklärte ich Sivan, dass wir sie gerne unterstützen, wo immer wir können, dass aber Für-sich-selbst-Sorgen zum Unabhängigsein gehört. Sie schien etwas enttäuscht, dass der geniale Trick nicht geklappt hatte. Später stellte ich fest, dass sogar das angebrochene Paket Toilettenpapier noch da war, das ich ihr angeboten hatte und ich fragte sie auf WhatsApp weshalb. „Weil du recht hast“, schrieb sie. „Ich möchte das für mich selbst erledigen.“
Bei ihrem nächsten Besuch erklärte ich Sivan, dass wir sie gerne unterstützen, wo immer wir können, dass aber Für-sich-selbst-Sorgen zum Unabhängigsein gehört. Sie schien etwas enttäuscht, dass der geniale Trick nicht geklappt hatte. Später stellte ich fest, dass sogar das angebrochene Paket Toilettenpapier noch da war, das ich ihr angeboten hatte und ich fragte sie auf WhatsApp weshalb. „Weil du recht hast“, schrieb sie. „Ich möchte das für mich selbst erledigen.“
Mittwoch, 19. Februar 2020
Strickpause
Als ich noch jung war, liebte ich es, zu stricken und ich entwickelte mich zu einer echten Strickexpertin. Ich strickte zu Hause vor dem Fernseher oder am Radio, ich strickte im Zug, ich strickte im Unterricht unter dem Pult, ich strickte jahrelang einfach immer, wohl Hunderte von Jacken und Pullovern, Mützen, Handschuhen und Socken. Wenn ich knapp bei Kasse war, löste ich alte Pullover auf und verwendete die Wolle ein zweites mal. Ich kann mich sogar noch an einen Abend erinnern, als ein junger Mann bei mir zuhause neben mir sass und mich wohl gerne küssen wollte. Er hatte keinen Erfolg – schliesslich musste ich unbedingt diese paar Reihen fertigstricken...
Eine seltsame Beschäftigung für eine junge Frau, würde man heute wohl denken. Aber das war ja auch in einem anderen Jahrhundert. Und einen Mann, für den ich die Strickarbeit zur Seite legte, habe ich dann doch noch gefunden.
Als ich nach Israel zog, machte das Stricken nicht mehr viel Sinn. Es war zu warm und es gab keine anständige Wolle. Ich besorgte mir eine Nähmaschine und begann zu nähen. Irgendwann lockten mich die Nadeln wieder und ich häkelte einige Bikinis. Meine Töchter waren begeistert davon – bis sie sich zum ersten mal damit ins Wasser wagten...
Als mich kürzlich eine Freundin darum bat, einen Mantel für sie zu stricken, war ich sofort Feuer und Flamme. Sie lieferte die Wolle und ich strickte bald in jeder freien Minute. Nicht mehr im Zug (heute fahre ich Auto) und auch nicht mehr im Unterricht. Auch nicht an der Arbeit – obwohl ich gestehen muss, dass mir der wahnwitzige Gedanken durch den Kopf gegangen ist. Nein, ich stricke hautpsächlich zu Hause auf dem Sofa, wann immer es die Zeit erlaubt. Meistens höre ich dabei über Kopfhörer Audio-Bücher von der Onleihe Bibliothek, während die Nadeln dahinfliegen. Nach "Liebe zukünftige Lieblingsfrau" von Michalis Pantelouris (etwas leichtere Kost) höre ich nun "Bronsteins Kinder" von Jurek Becker (faszinierend und etwas anspruchsvoller). Es ist das perfekte Abkapseln von Alltagssorgen, ärgerlichen Familienmitgliedern und deprimierenden Nachrichten.
Ich schaffte zweieinhalb Pulloverteile (in kürzester Zeit!) dann stieg meine Schulter aus und ich musste den Strickmarathon unterbrechen. Schon drei Tage ruht nun die Arbeit, weil ich meinen rechten Arm kaum noch bewegen kann. Nun sitze ich abends von Schmerzmitteln betäubt auf dem Sofa, geniesse weiterhin das Buch über die Kopfhörer, aber die Hände ruhen im Schoss. Nur manchmal, wenn ich auf die Wolle blicke, zucken die Finger.
Als ich nach Israel zog, machte das Stricken nicht mehr viel Sinn. Es war zu warm und es gab keine anständige Wolle. Ich besorgte mir eine Nähmaschine und begann zu nähen. Irgendwann lockten mich die Nadeln wieder und ich häkelte einige Bikinis. Meine Töchter waren begeistert davon – bis sie sich zum ersten mal damit ins Wasser wagten...
Als mich kürzlich eine Freundin darum bat, einen Mantel für sie zu stricken, war ich sofort Feuer und Flamme. Sie lieferte die Wolle und ich strickte bald in jeder freien Minute. Nicht mehr im Zug (heute fahre ich Auto) und auch nicht mehr im Unterricht. Auch nicht an der Arbeit – obwohl ich gestehen muss, dass mir der wahnwitzige Gedanken durch den Kopf gegangen ist. Nein, ich stricke hautpsächlich zu Hause auf dem Sofa, wann immer es die Zeit erlaubt. Meistens höre ich dabei über Kopfhörer Audio-Bücher von der Onleihe Bibliothek, während die Nadeln dahinfliegen. Nach "Liebe zukünftige Lieblingsfrau" von Michalis Pantelouris (etwas leichtere Kost) höre ich nun "Bronsteins Kinder" von Jurek Becker (faszinierend und etwas anspruchsvoller). Es ist das perfekte Abkapseln von Alltagssorgen, ärgerlichen Familienmitgliedern und deprimierenden Nachrichten.
Ich schaffte zweieinhalb Pulloverteile (in kürzester Zeit!) dann stieg meine Schulter aus und ich musste den Strickmarathon unterbrechen. Schon drei Tage ruht nun die Arbeit, weil ich meinen rechten Arm kaum noch bewegen kann. Nun sitze ich abends von Schmerzmitteln betäubt auf dem Sofa, geniesse weiterhin das Buch über die Kopfhörer, aber die Hände ruhen im Schoss. Nur manchmal, wenn ich auf die Wolle blicke, zucken die Finger.
Donnerstag, 6. Februar 2020
Im goldenen Käfig
Immer wenn ich denke, dass es nun wirklich an der Zeit wäre, aus dem goldenen Käfig auszubrechen und endlich den Traum von etwas mehr Sinn und Abwechslung in meinem (immer schneller dahinschmelzenden Rest-)Leben zu verwirklichen, werden von oben die goldenen Gitterstäbe wieder festgezurrt.
Ob wohl mein Arbeitgeber nicht nur Zugriff auf meine Computertätigkeit sondern auch auf meine Gedanken hat?
Anlässlich eines Gespräches erwähnt die Chefin, dass sie für mich eine Beförderung beantragt hat und diese bewilligt worden sei. An irgendwelche internen Karrieremöglichkeiten habe ich in den letzten Jahren vor lauter Ausbruchsgedanken gar nicht mehr gedacht. Aber bitte, warum eigentlich nicht?
Beim Mittagessen erfahre ich, dass das firmeninterne Sportangebot, welches vor zwei Jahren aus Kostengründen gestrichen worden ist, erneuert wird. Das Angebot an kostenlosen Kursen in zahlreichen Sportarten ist verführerisch. Ich schwanke noch zwischen Yoga und Funktionstraining.
Dann trifft ganz unerwartet eine Mail ein, in welcher ich aufgefordert werde, ein neues Handy (das neueste Modell, mit der fantastischen Doppelkamera!) vom Sekretariat abzuholen. Ich starre die überraschende Nachricht einige Sekunden ungläubig an, dann hole ich das funkelnagelneue Gerät sofort ab – und schiebe den Ausbruch aus dem goldenen Käfig wieder einmal für einige Wochen auf. Einige Tage mehr oder weniger, darauf kommt es nach zwanzig Jahren ja auch nicht mehr an. Und wenn ich mir das genau überlege geht es mir doch gar nicht so schlecht hier. Immerhin darf ich mich ziemlich frei bewegen. Die Verwirklichung meiner Träume wird eben weiterhin vor acht Uhr morgens und nach fünf Uhr abends stattfinden müssen.
Ob wohl mein Arbeitgeber nicht nur Zugriff auf meine Computertätigkeit sondern auch auf meine Gedanken hat?
Anlässlich eines Gespräches erwähnt die Chefin, dass sie für mich eine Beförderung beantragt hat und diese bewilligt worden sei. An irgendwelche internen Karrieremöglichkeiten habe ich in den letzten Jahren vor lauter Ausbruchsgedanken gar nicht mehr gedacht. Aber bitte, warum eigentlich nicht?
Beim Mittagessen erfahre ich, dass das firmeninterne Sportangebot, welches vor zwei Jahren aus Kostengründen gestrichen worden ist, erneuert wird. Das Angebot an kostenlosen Kursen in zahlreichen Sportarten ist verführerisch. Ich schwanke noch zwischen Yoga und Funktionstraining.
Dann trifft ganz unerwartet eine Mail ein, in welcher ich aufgefordert werde, ein neues Handy (das neueste Modell, mit der fantastischen Doppelkamera!) vom Sekretariat abzuholen. Ich starre die überraschende Nachricht einige Sekunden ungläubig an, dann hole ich das funkelnagelneue Gerät sofort ab – und schiebe den Ausbruch aus dem goldenen Käfig wieder einmal für einige Wochen auf. Einige Tage mehr oder weniger, darauf kommt es nach zwanzig Jahren ja auch nicht mehr an. Und wenn ich mir das genau überlege geht es mir doch gar nicht so schlecht hier. Immerhin darf ich mich ziemlich frei bewegen. Die Verwirklichung meiner Träume wird eben weiterhin vor acht Uhr morgens und nach fünf Uhr abends stattfinden müssen.
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Habe ich eigentlich die exzellente Kaffeemaschine in der Büroküche schon erwähnt? |
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