Donnerstag, 18. Dezember 2025

Hundert mal 100

Bei meinem letzten Besuch in der Schweiz fragte mich eine Bekannte, wie es mir – oder uns – in Israel gehe. Die Schlagzeilen über den Krieg waren abgeflaut. Die Realität und unseren Alltag in Israel kann man sich von der Schweiz aus kaum vorstellen. Ihr Interesse an unserer Situation war aufrichtig. Ich wand mich und wusste nicht was ich antworten sollte.
Seitdem frage ich mich immer wieder: Wie geht es uns wirklich?


Der Rapper Jimbo J hat starke Worte für die Antwort auf die Frage nach unserem Befinden gefunden. In seinem neuen Lied „Wir haben hundert Mal 100 angerufen“ umschreibt er unsere absurde Realität in Metaphern, die jedem Israeli unter die Haut gehen.

Jimbo J, mit bürgerlichem Namen Omer Havron aus Rehovot, lebt heute im Kibbutz Or HaNer in der Grenzregion zum Gazastreifen.

Der Liedtext schildert die Perspektive des Erzählers, der durch die Grenzregion am Gazastreifen fährt und dabei die Dissonanz sichtbar macht, die mehr als zwei Jahre nach dem Massaker vom 7. Oktober über dem Alltag der Region liegt.

Mein eigener Wohnort liegt mehr als hundert Kilometer von der beschriebenen Grenzregion entfernt. Doch Israel ist ein kleines Land, in dem jeder jeden kennt. Auf unterschiedliche, direkte oder indirekte Weise ist jeder Einzelne von uns vom 7. Oktober und vom Krieg gezeichnet. In diesem Sinne sprechen die Worte des Liedes uns allen aus dem Herzen. Und sie treffen uns tief in unseren verwundeten Seelen. 

Ich habe den Text des Liedes auf Deutsch übersetzt und darunter einige Erklärungen hinzugefügt.




[Strophe A]

Noch ein sonniger Tag, ich steig’ wieder ins Auto

Für eine Runde durch eine Region, die ein einziges Pulverfass ist

Hier ist die Traurigkeit eingezogen

Es gab kein Geld für ein „Willkommen im Negev“-Schild

Viel ist passiert seitdem, die Zeit vergeht in Hundejahren

Wir sind schon gefallen, aufgestanden und weitergegangen

Kfar Aza gewann das Fußballturnier 1

Mit einem halben fehlenden Herzen und einem halben Kader

Beim Blick von den Hügeln von Sderot – siehst du Dresden 3

Kein einziges Gebäude steht noch, eine verstörende Aussicht

Eine Fünf-Schekel-Münze fürs Fernglas 4

Tok tok, wer ist da? Golani klopft an die Tür 5

Die Straße von Miri Regev 6 – hier ist noch nichts geregelt

Am Straßenrand pflanzte man einen Baum auf jedes Grab

Ein Wald zum Verstecken, falls wir die Lüge wieder schlucken 7

Wir leben in einem Film – das Buch mochte ich lieber



[Pre-Chorus]

Was bleibt mir außer Freunden?

Leichte Waffen und ein Holzkohlegrill 8

Hier gibt es Geschichten, die man nicht verstehen kann

Und es gibt keine Adresse 9

Piraten auf Quads 10

Kinder mit zerbrochenen Träumen

Boten kommen und kehren nicht zurück

Denn es gibt keine Adresse



[Refrain]

Wir haben hundert Mal 100 angerufen 11

100, 100 – niemand geht ran

Wir haben hundert Mal 100 angerufen

100, 100 – niemand geht ran

Sie antworten uns nicht



[Strophe B]

Auf diesem Platz fuhr ein weißer Toyota 12

Hier kaufe ich ein

Hier hat man den Schutzraum noch nicht renoviert

Hier fragte ein kleines Mädchen: „Seid ihr aus Israel?“ 13

Hier wurde gestern gegen Hilfslieferungen auf einem LKW protestiert

Hier fiel Amir Naim 14, der zwei Kibbuzim rettete:

Erez und auch Or HaNer 

Hier gibt es Fassbier

Und einen richtig guten Burger

Hier schlug eine Qassam-Rakete ein

Oh, hier muss ich dran denken, einen Termin bei der Dentalhygienikerin zu machen

Hier gibt es Menschen ohne Beine, die Sprint laufen

Menschen ohne Arme, die versuchen, gläserne Decken zu durchbrechen

Menschen wie ich, die dachten, sie seien im Hinterland

Und auf die harte Tour entdeckten, dass dies die Front ist

Rauchpilze 15 spriessen wie Pilze nach dem Regen

Jeden Tag ein Spoiler, ob es ein Paradies gibt 16

Hier verteilt man den Wachposten Süssigkeiten 17

Wie an Halloween in Manhattan

Stürze dich in den Kampf – mit Bauchschmerzen



[Pre-Chorus]



[Refrain]



[Skit]
(Eine offiziell klingende Stimme spricht, in Anlehnung an einen Ausschnitt aus einer politischen Rede) 

Ich lade das ganze Volk Israel ein, in den Negev zu kommen,

zu sehen

und sich an der Herbeiführung des Friedens zu beteiligen.



Erklärungen:

  1. Mit Bezug auf die Fussballgruppe „Sho'alei Kfar Aza“, von welcher viele der Spieler am 7. Oktober ermordet oder verschleppt worden sind.
  2. Die Stadt Sderot liegt im westlichen Negev im Südbezirk Israels, weniger als anderthalb Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Sderot ist bekannt dafür, ein Hauptziel für Qassam-Raketenangriffe aus dem Gazastreifen zu sein.
  3. Als Gegenargument der unverhältnissmässigen Zerstörung wird Dresden angeführt, welches durch die Alliierten nahezu zerstört wurde und zur Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg führte.
  4. Kritik am Kriegs-Tourismus
  5. Golani ist eine Einheit der IDF. Am 7. Oktober schlossen sich die Bewohner der Grenzregion in ihren Häusern und Schutzräumen ein, während Hamas-Terroristen auf einem schrecklichen Mordzug von Haus zu Haus zogen. Als Soldaten der IDF eintrafen und an die Türen klopften, bestand die Gefahr, dass es sich um eine Manipulation der Terroristen handelte, um die Schutzsuchenden nach draussen zu locken.
  6. Es geht um die Strasse 232, in deren Nähe das Nova-Festivalgelände lag. Miri Regev ist die israelische Verkehrsministerin.
  7. Viele der Menschen, die dem Massaker entkamen, versteckten sich im Gebüsch und hinter Bäumen, um nicht ermordet zu werden. Ausserdem eine Anspielung auf Berichte von Holocaust-Überlebenden, die sich während des Zweiten Weltkriegs in den Wäldern versteckten. Die „Lüge“ bezieht sich auf das falsche Verständnis, dass die Hamas abgeschreckt und die Armee auf jedes Szenario vorbereitet sei.
  8. Ein Symbol für das Leben an einem Ort, an dem das Überleben zur Routine geworden ist. Die Waffen zur Selbstverteidigung liegen neben dem Grill, ohne Drama – und ohne Lösung.
  9. „Keine Adresse“ ist im Hebräischen eine Metapher für das Gefühl des Im-Stich-gelassen-Seins. Gleichzeitig ist es eine Anspielung auf die Kibbutzim, die am 7. Oktober die Hauptangriffsziele der Hamas-Terroristen waren. In den Kibbutzim gibt es keine Adressen oder Strassennamen.
  10. Eine Anspielung auf die Kibbutzniks aus der Grenzregion, die sich oft im Alltag auf Quads fortbewegen und dabei das Recht in die eigene Hand nehmen.
  11. 100 ist die Nummer der Polizeinotrufzentrale in Israel, die am 7. Oktober aufgrund der enormen Zahl an Anrufen zusammenbrach.
  12. Eines der ersten Videos, die in WhatsApp- und Telegram-Gruppen kursierten, war das Video der Hamas-Terroristen in weissen Toyota-Pick-ups, die durch Sderot fahren und ein Massaker an Zivilisten verüben. Es ist das erste Bild, das den in den nördlicheren Teilen Israels wohnhaften Menschen vermittelte, dass etwas Schreckliches von nicht einschätzbarem Ausmass im Gange war.
  13. Ein Video aus der Bodycam eines Polizisten, der zu einem Auto kam, in dem sich die siebenjährige Romi Swissa und ihre dreijährige Schwester Lia befanden, nachdem ihre Eltern vor ihren Augen von den Hamas-Terroristen ermordet worden waren. Das erste, was Romi den Polizisten fragte, war: „Seid ihr Israelis?“ Dieser Satz und das Video haben sich tief in das kollektive Gedächtnis Israels eingebrannt.
  14. Amir Naim und seine Frau Shahar feierten am 2. Oktober 2023 ihren ersten Hochzeitstag. Fünf Tage später wurde Amir bei der Verteidigung ihres Kibbutz im Süden Israels gegen eindringende Hamas-Terroristen getötet. Amir und die anderen Mitglieder des Notfallteams des Kibbutz Erez kämpften stundenlang gegen die zahlreichen Terroristen und schafften es schließlich, sie daran zu hindern, den Kibbutz zu erobern. Der Preis waren Amirs Leben und die Verwundung von vier seiner Kollegen. Elf Wochen schwanger, war Shahar Naim plötzlich eine 27-jährige Kriegswitwe.
  15. Bezieht sich auf die Rauchpilze in Gaza nach den Detonationen.
  16. „Wenn es ein Paradies gibt“ ist ein israelisches Buch. Der Titel ist einer Beschreibung des militärischen Aussenpostens entnommen. „Wenn es ein Paradies gibt: So sieht es aus. Wenn es eine Hölle gibt: so fühlt sie sich an.“
  17. Die israelische Zivilbevölkerung schickt gewöhnlich Spenden an Soldaten, meist Süssigkeiten, Lebensmittel und Unterwäsche.



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