Vor etwas mehr als einer Woche ist meine Mutter gestorben. Es war absehbar. Ich bin rechtzeitig in die Schweiz geflogen, und sie konnte meine letzte Umarmung mit auf ihre Reise nehmen.
Was brauchen wir wirklich mehr als ein paar liebe Menschen um uns, Sonne auf der Haut, vielleicht auch Regen und Wind, der uns die Haare zerzaust. Ein wenig Gemüse im Garten, damit wir mit den Händen in der Erde wühlen können.
Aber wir rennen umher, erfinden Gründe, Motive, Zusammenhänge. Geschichten, die wir für unser Leben halten.
An meine Kindheit habe ich nur wenige Erinnerungen. Meine Mutter hatte mit mehreren kleinen Kindern und der Last der Hausarbeit, für die es damals kaum moderne Hilfsmittel gab, alle Hände voll zu tun. Für jedes einzelne Kind blieb wenig Zeit.
Als Jugendliche ging sie mir oft auf die Nerven. Sie war – als verlängerter Arm meines Vaters – dafür zuständig, dass ich meine Ämtchen erledigte und mein tägliches Geigenüben nicht vernachlässigte. Mit ihrer ruhigen, zurückhaltenden Art war sie alles andere als durchsetzungsstark. Das führte zu Machtkämpfen, die ich genüsslich in die Länge zog. Später fand ich ihre Ansichten zu Partnerschaft, Familie und Religion altmodisch. Mit zwanzig zog ich in meine eigene Wohnung.
Aber meine Mutter war nicht nachtragend – im Gegenteil. Sie liebte bedingungslos. Als ich nach Israel zog, sorgte sie sich um mich und meine wachsende Familie aus der Ferne.
Auf ihre jährlichen Geburtstagspakete an jedes einzelne Familienmitglied war stets Verlass, liebevoll zusammengestellt und immer persönlich. Auch zu Ostern oder Weihnachten trafen regelmässig Päckchen ein, mit Schokolade, Christbaumschmuck oder kleinen Überraschungen – selbst lange, nachdem ich zum Judentum übergetreten war.
Jetzt liegen in meinem Elternhaus die sorgfältig gefalteten Leintücher in der Schublade, die sie nie mehr öffnen wird. Der Duft von Seifen und Lavendelsäckchen in der Wäscheschublade hat sie überlebt – stille Zeugen ihres Daseins. Sie erzählen davon, dass meine Mutter eine perfekte Hausfrau war. So hatte man es den jungen Frauen damals beigebracht. Die Familie, der Ehemann, die Kinder und der Haushalt waren ihr Lebensinhalt. Meine Mutter opferte sich mit grosser Liebe dafür auf.
Ich habe von meiner Mutter mitbekommen, dass ein Mensch auch leise, ja sogar stumm, wesentlichen Einfluss haben kann. Man muss kein Haudegen sein oder sich in den Vordergrund drängen, um sein Umfeld zu prägen.
Meine Eltern waren 65 Jahre verheiratet. Für meinen Vater war meine Mutter sein zweites Paar Augen, Ohren und Hände. Eine Stimme für alles, was er selbst nicht sehen konnte, sein Zugang zu anderen Welten. Sie war sein weiches Polster in einer harten Wirklichkeit. Nun hat er sie überlebt und steht vor einem tiefen Loch.
Ich bin traurig und nachdenklich, weil ein Kapitel meines Lebensgeflechts zu Ende gegangen ist. Wenn ich an dieses Kapitel zurückdenke, überwiegen die guten Erinnerungen. Das helle Lachen meiner Mutter wird mir für immer in den Ohren klingen.