Dienstag, 26. November 2024

Raketen hier und da

Der furchtbare Ausnahmezustand ist Alltag geworden. Katastrophen passieren einfach so nebenbei. Das Sirenengeheul, die Raketenangriffe, die Attentate, die Verschleppten, die Überlebenden, die Gefallenen, die zerstörten Familien, die Beerdigungen, die Binnenflüchtlinge, die leerstehenden, zerfallenden Dörfer und Städte, die abgebrannten Wälder und Haine, die Traumas - sie sind zu den Rahmenbedingungen geworden, zwischen denen sich Arbeit und wenige private Vergnügen abspielen. Es ist erschreckend, an welche Umstände man sich gewöhnen kann, wenn man nur die Gedanken daran geflissentlichst verdrängt. Viele Familien bezahlen jedoch einen unerträglich hohen Preis in diesem Krieg ohne absehbare Wendung. Wer weniger direkt betroffen ist, verdrängt. Dass auch wir, die Privilegierten hier in Israels Zentrum, alle paar Tage in den Schutzraum rennen müssen, gehört unterdessen zu unserem Alltag wie der Verlauf der Wochentage. Die Alarme bescheren einige Minuten Aufregung, dann atmen wir kurz durch und machen weiter. An einem Morgen überrascht mich der Alarm, als ich an der Arbeit gerade aus der Dusche steige. Nur mit einem Frottiertuch bedeckt, ziehe ich es vor, einfach im Umkleideraum auszuharren, anstatt mich in den gemeinsamen Schutzraum zu begeben. Dass das gefährlich sein kann, wissen wir unterdessen. Die Hisbollah zielt absichtlich auf zivile Einrichtungen und immer wieder werden Menschen durch die Raketen oder herabfallende Trümmer verletzt oder getötet. Auch der Sonntag beginnt diese Woche mit Raketenalarm und bis zum Abend wird er zu einem Rekordtag mit über 250 Raketenangriffen aus dem Libanon. Trotz aller Abwehrsysteme werden acht Menschen verletzt. Während wir im Schutzraum sitzen, bebt das Haus und die Fenster zittern, als würde alles gleich in sich zusammenbrechen. An diesem Sonntag fallen auch Bruchstücke einer Rakete auf eine Strasse in meiner unmittelbaren Nachbarschaft.

Wir versuchen durchzuhalten. Was das bedeutet, beschreibt meine Bloggerkollegin Schreibschaukel, die sich nicht beirren lässt und sich aus der Schweiz unermüdlich für Israel einsetzt.

Durchhalten klappt jedoch schlecht und recht, nur wenn man sich gezielt beschäftigt, die Gedanken nicht zulässt und das Unbehagen bewusst unterdrückt. Gedanken an die in den - in der kalten und regenreichen Jahreszeit nasskalten - Tunnels in Gaza festgehaltenen Verschleppten schiebe ich schnell weg, sobald sie aufkommen. Die täglich fallenden Soldaten mag ich nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Sie werden für mich zu einer schmerzlichen Masse von auf tragische Weise abrupt beendeten schönen jungen Leben.

Das Schlimmste ist jedoch, dass die ganze Welt um uns herum vollkommen aus den Fugen geraten zu sein scheint. Skandalöse mediale Desinformation und willkürlich verbreitete Lügen haben dazu geführt, dass der Hass auf Israel und auf Juden rund um den Globus wieder salonfähig ist. Überall werden Juden gejagt, verfolgt, ausgeschlossen, diffamiert, beschuldigt. Falsche Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien schüren Misstrauen und Hass und schaffen ein Klima der Diskriminierung und Gewalt. Antisemitische Straftaten sind an der Tagesordnung, jüdische Gemeinschaften fühlen sich bedroht und jüdische Menschen leben auf der ganzen Welt, einmal mehr, auf gepackten Koffern.

Doch es ist nicht einmal "nur" der Antisemitismus. Die Welt steht kopf, in allen Bereichen. Wie zutreffend, dass wir in diesen Zeiten unsere letzten Hoffnungen auf einen verrückten orangefarbenen Mann setzen!


Wie der orangefarbene Mann aber vielleicht tatsächlich nicht nur Amerika, sondern auch die Welt neu gestalten könnte, das schreibt Douglas Murray in zehn Punkten in seinem Artikel in der New York PostHier ein übersetzter Auszug aus dem zehnten und abschließenden Punkt: 

"Das bringt mich zu dem wichtigsten Punkt, den Trump im Nahen Osten tun kann. Jetzt ist es an der Zeit, die Sanktionen wieder in Kraft zu setzen. Der Iran hat im vergangenen Jahr erlebt, wie seine Terror-Stellvertreter durch das israelische Militär und den israelischen Geheimdienst lahmgelegt wurden. Jetzt ist es an der Zeit, der Schlange den Kopf abzuschlagen. Wer weiß, vielleicht wird das schmutzige, barbarische islamische Regime in Teheran endlich fallen und das iranische Volk kann endlich sein Land zurückbekommen. Wenn dem so ist, kann Trump vielleicht bis zum Ende seiner nächsten Amtszeit den Iran in das Abraham-Abkommen aufnehmen. Das wäre etwas, das sogar das Nobelkomitee bemerken müsste."

Ich gebe zu, diese Vorstellung ist etwas zu schön, um wahr zu sein. Doch was bleibt uns anderes als die Hoffnung?


Wenn der Ausnahmezustand Alltag wird, kann man auch Ausflüge unternehmen.
Am Wochenende in der Umgebung Jerusalems.

Dem Alltag entfliehe ich unter anderem mit Lesen. Das Buch, das ich zur Zeit verschlinge, beschreibt zwar ebenfalls das schwierige Leben verzweifelter und bedrängter Menschen in beschwerlichen Zeiten, aber es ist eines der wenigen, das es schafft, mich vom endlosen Scrollen auf dem Handy fern zu halten.

Meine Schwiegermutter ist in Bagdad geboren. Obwohl sie nur elf Jahre ihrer Kindheit vor der Flucht mit der Familie im Irak verbracht hat, ist die Kultur, mit der sie aufgewachsen ist und die ihre Eltern nach Israel gebracht haben, tief in ihr verwurzelt. Ich habe von ihr und ihren zahlreichen Geschwistern viel über die Jahre ihrer Kindheit in dieser für mich völlig fremden Welt gehört. Als mir das Buch "Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom" von Mona Yahia unter die Finger kam, war meine Neugierde sofort geweckt. Würde es mir diese unerreichbare und unvorstellbare Stadt näherbringen? Jetzt bin ich erst zwei Drittel durch und ich bin begeistert. Die Handlung ist fesselnd und Mona Yahia hat eine wunderbare Gabe, Situationen überwältigend realitätsnah zu beschreiben. 

"Ein Militärjeep hält vor unserem Haus. Eine Fliegenklatsche stoppt mitten in der Bewegung. Ein Satz vergisst sein Ende. Ein ungeknackter Kürbiskern liegt zwischen zwei Schneidezähnen. Zwei Soldaten springen aus dem Jeep. Vater sitzt wie gelähmt auf seinem Stuhl. Mutter fleht zu Gott. Ich nehme Curry (die Katze) auf den Schoss. Die Soldaten gehen zum Kühler ihres Autos, heben die Haube und inspizieren den Motor...."

Wer geglaubt hat, die irakischen Juden wären vielleicht der schönen Mittelmeerstrände wegen nach Israel gekommen, für den ist diese Lektüre Pflicht. Doch auch etwas informierteren Lesern empfehle ich das Buch wärmstens.



Mittwoch, 6. November 2024

When life gives you lemons

Die Demonstrationen und die Aufruhr in den Medien, die der Entlassung des Verteidigungsministers Gallant folgen, frustrieren mich enorm. Mir reicht es. Ich will einfach nur Ruhe, Harmonie und Vernunft – etwas, von dem man hier nur träumen kann. In einer sehr unruhigen Nacht träume ich hingegen von einer chaotischen Zukunft, geprägt von Bürgerkriegen, einer unfähigen Kamala Harris als Präsidentin und – wieder einmal – von einem Umzug in die ruhige Schweiz. Mein Herz fliegt zwischen den Ländern dahin, verwirrt und heimatlos.

Weil ich nicht mehr schlafen kann, stehe ich schon um sechs Uhr auf. Eine Runde im Garten beruhigt mich. Wo auf der Welt ist es sonst noch so hell und mild in diesen frühen Stunden? Ich pflücke einige Mini-Zitronen vom Baum, lasse mich von ihrem Geruch betören und setze mich dann unter die Pergola zum Lesen, bis der Tag richtig anbricht.



Meine Laune wird sogar noch besser, als bestätigt wird, dass Trump die Wahlen zum US-Präsidenten gewonnen hat. Ja, ich weiss, für diese Aussage werden mich die Leser in Europa verachten, doch für uns in Israel wäre die Wahl von Harris eine wahre Katastrophe gewesen. Mit Trump stehen die Chancen für Israels Zukunft um Vieles besser. Es ist für uns eben weniger wichtig, dass Trump zum Essen nicht auf Ketchup verzichten kann und dass er ein Chauvinist und rhetorischer Trampel ist. Auf diesen sehr aufschlussreichen Artikel von Ayaan Hirsi Ali bin ich bei meiner Bloggerkollegin aufmerksam geworden und für mich sind die Erläuterungen der Autorin absolut stichhaltig.

Um 11:20 dröhnen die Luftschutzalarme in unserer Gegend und ich eile in den Schutzraum. Kurz darauf erschüttern mehrere sehr beunruhigende Bumms die Region.


Kein Wunder, dieses Bild stammt aus Raanana, nur knapp mehr als 15 Kilometer von unserem Dorf entfernt. Dort wohnt meine Arbeitskollegin. Und ist das nicht ihr Auto? Ich werde sie morgen darauf ansprechen…

Doch das hier ist kleiner Schnickschnack. Nach Beschuss durch etwa 50 Raketen der Hisbollah aus dem Libanon kommt es in Avivim, etwas nördlich von Haifa, zu grossen Schäden mit zwei Toten, Verletzten und umfangreichen Bränden.

Wieder ein Tag …




Montag, 4. November 2024

Zwischen den Katastrophen

Wolken bedeuten in Israel, dass der Sommer zu Ende ist
Zwischen den Katastrophen fliessen die Tage dahin. Natürlich nicht für jedermann. Bestimmt nicht für die in Gaza festgehaltenen Geiseln, die seit 396 Tagen unvorstellbare Qualen durchleiden. Für sie und ihre Angehörigen fliessen die Tage nicht, im Gegenteil, jede Minute muss sich für sie ins Unendliche ziehen. Auch für die Zehntausenden israelischen Binnenflüchtlinge fliessen die Tage nicht, und ebenso nicht für die Soldaten, die unter Lebensgefahr an allen Fronten kämpfen, damit wir vielleicht irgendwann wieder sicher leben können.

Aber für uns, die wir an einem nicht rund um die Uhr gefährdeten Ort wohnen, köchelt der Krieg auf kleinem Feuer. Damit meine ich folgendes:

An einem vereinzelten Tag vergangene Woche jagt uns ein Luftschutzalarm in den frühen Morgenstunden in den Schutzraum. An einem anderen Tag tötet eine Hisbollah-Rakete in Metulla fünf Menschen in einem Früchtehain. Später werden eine Frau und ihr erwachsener Sohn in einem Olivenhain am Rande der Küstenstadt Haifa durch Granatsplitter getötet. Freitagnacht schlägt eine Rakete in Tira ein, einem arabischen Dorf, das nur etwa 10 Kilometer Luftlinie von uns entfernt liegt. Der Einschlag um 02:18 schreckt uns aus den Betten. 19 Menschen werden verletzt. Jeden Tag werden die Namen der gestern gefallenen Soldaten bekanntgegeben, viele junge Burschen, aber auch viele Familienväter. Im Büro gehe ich an einen Vortrag von Eyal Eshel, dem Vater der Soldatin Roni Eshel, die am 7. Oktober in der Basis Nahal-Oz von den Hamas-Terroristen ermordet wurde. 34 Tage wartete Ronis Familie auf eine Bestätigung über das Verbleiben der Tochter. Eyals Aussagen sind haarsträubend. Ich nehme all diese Ereignisse, Fakten und Katastrophen zur Kenntnis und stecke sie weg. So fliessen die Tage eben dahin.

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Hat da nicht der Falsche die Kippa auf?

Alon ist aufgrund seines charismatischen und aufgestellten Gemüts, seinem Tatendrang und nicht zuletzt aufgrund des fragwürdigen Titels, einer der schwerstverletzten Soldaten dieses Krieges zu sein, zu einer kleinen Berühmtheit in Israel geworden. Nach Teilnahme an einer Modekampagne mit amputierten Models und in der Reportage über schwerverletzte Kampfsoldaten auf Kanal 12 im israelischen Fernsehen, folgte vergangene Woche die Audienz beim Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche – dem Papst, mit einer Delegation aus dem Sheba-Spital. Wer des Hebräischen mächtig ist, findet in diesem Artikel ein kurzes Gespräch mit Alon über den Besuch im Vatikan. Alon erzählt, dass ihn die päpstliche Segnung ausserordentlich berührt hat. Auf dem offiziellen Instagram-Konto "State of Israel" kann man sich ein paar Bilder des Treffens ansehen.
Auch ich sehe mir die Fotos immer wieder an und komme aus dem Staunen nicht heraus. Es ist tatsächlich Alon, aus der Rimonstrasse in unserem Dorf. Alon und der Papst. Alons Eltern, die ich von vielen Klassen- und Pfadfindertreffen in sehr lockerer Kleidung kenne, haben sich für das offizielle Treffen in Schale geworfen. Ganz in Schwarz, in Anzug und Krawatte, sehen sie sehr schick aus.

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Wie für die meisten jungen "Tel-Avivi" ist Schick-Essen-Gehen eine der bevorzugten Tätigkeiten unserer Tochter Sivan. Beim Betrachten ihres Instagram-Feeds läuft einem zu jeder Tageszeit das Wasser im Mund zusammen und man bekommt den Eindruck, ihr Leben bestehe nur aus Streetfood und Essen in Restaurants. Fotos von verführerischen Häppchen, saftigen Steaks, Saucen, Beilagen und farbigen Drinks, toll gestylt und angerichtet, sind an der Tagesordnung. Natürlich sind auch auf ihren Reisen nach Paris, London und New York die bekanntesten Gourmettempel festes Programm. Ich staune ja, wo die junge Generation das Geld für diese Vergnügen hernimmt. Mir persönlich ist es meistens zu schade, mein schwer verdientes Erspartes sozusagen "Aufzuessen". Aber bekanntlich ist ja alles eine Frage der Prioritäten. Ausserdem hat diese junge Generation mehr als wir erfahren, wie endlich das Leben ist und sie ahnen, dass man mit dem Ersparten im Grab auch nicht mehr viel unternehmen kann.

Nun ist Sivan im Militärdienst, zum zweiten Mal in Reserve seit dem 7. Oktober. Doch ihr hungriges Instagram-Publikum muss gefüttert werden. Also präsentiert Sivan in ihren Instagram-Storys einfach weiter Essbares – nur zeigen die Fotos und Videoclips nun, aus dem kulinarischen Angebot der IDF, die eher erbärmlichen Varianten der Kochkunst. Auf Bilder von trockenen Hühnerkeulen und zu Brei verkochten Beilagen folgen verschrumpelte Äpfel und Gurken. Ab und zu beisst Sivan genüsslich in von Fett triefende Toasts, die sich die hungrigen Soldaten in Imbisskiosks von ihrem eigenen Geld kaufen, weil das Angebot in den Kantinen nicht geniessbar ist. Die Clips aus den Armeebasen und -Küchen werden von Sivans lustigen Kommentaren und Verbesserungsvorschlägen untermalt. Meistens gibt sie noch locker-flockig eine Bewertung von 1 bis 10 ab, wobei diese in den wenigsten Fällen eine 4 übersteigt. Nur nicht den Humor verlieren, ist die Devise.