Mittwoch, 25. September 2024

Alarm im Scharongebiet

Aussicht vom lieblichen Baselland


Schlussendlich hatte ich doch noch einen Flug in die Schweiz ergattert. Doch mit dem Dilemma, ob wir in Israel bleiben oder flüchten sollten, habe ich bis auf Weiteres abgeschlossen. An die vielen verschiedenen emotionalen Phasen, die ich seit dem 7. Oktober durchgehe, reiht sich in letzter Zeit, ausgerechnet jetzt, unerklärliche Gelassenheit. Ziel der Reise in die Schweiz war ein kurzer Besuch bei der Familie. Ich reiste alleine, mit einem fixen Retourdatum.

Bestimmt war auch das wunderbare Wetter daran schuld, dass mir dieses Mal die Schweiz noch perfekter als sonst erschien. Auf Schritt und Tritt – oder besser, Kilometer auf Kilometer, denn ich hatte ein Auto gemietet – staunte ich wie ein Wesen von einem anderen Stern, wie wunderbar geregelt, gemässigt und logisch einfach im Vergleich zu Israel in der Schweiz alles ist. Die Strassen sind in perfektem Zustand, der Verkehr rollt, die Richtungen sind klar beschildert, die Fahrer sind zuvorkommend oder mindestens gelassen. Auch der öffentliche Verkehr ist wie immer vortrefflich organisiert, das Tram fährt auf die Minute genau überall hin. In Basel gibt es weder kaputte Gehsteige noch Ratten. Das Personal in den Läden ist freundlich und hilfsbereit. Die Sonne brennt nicht schon frühmorgens erbarmungslos nieder. Der Regen bleibt nicht fünf Monate lang aus und prasselt dann wolkenbruchartig vom Himmel. Und vor allem hängen keine Bilder von Entführten an jeder Ecke, die jungen Menschen tragen keine Maschinengewehre oder Uniformen und die meisten haben noch alle Beine und Arme.

Eins passt einfach perfekt zum andern und ich komme aus dem Staunen kaum mehr heraus. Wie vernünftig und geordnet die Dinge sein können!
In Israel ist alles extrem, masslos, laut, kaputt, unausgeglichen, ja verrückt. Natürlich haben die israelische Unvollkommenheit und der alltägliche Wahnsinn im Vergleich zur schweizerischen Gemässigtheit auch ihren Reiz. Doch jetzt, wo der Topf der Tollheit am Überbrodeln ist, erscheinen die schweizerische Vernunft und Perfektion einfach nur frappant und verführerisch.

Obwohl sich die Lage in Israel zuspitzt, fliege ich aber doch am geplanten Tag zurück. Ich konnte am frühen Morgen ja auch noch nicht wissen, dass gerade an diesem Tag in Israel der Ausnahmezustand im ganzen Land ausgerufen wurde. Doch auch hätte ich es gewusst, war mir klar, wo mein Platz ist: bei meiner Familie in Israel.

Die Raketenangriffe aus dem Libanon hatten sich tatsächlich schon tief ins Zentrum ausgeweitet. Die Raketen reichten am Dienstag schon bis in die Umgebung Haifas und nach Nazareth, Afula and Yokne'am. Der Krieg konnte offensichtlich jeden Moment vollkommen ausarten. Rund um die Uhr, auch nachts, werfe ich immer wieder einen Blick auf das Smartphone, um über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu sein.

Und heute Morgen ist es dann auch bei uns so weit. Um 6 Uhr dreissig – ich bin schon angezogen und bereit, das Haus zu verlassen – erschüttern starke Detonationswellen unser Haus. Die Fenster und Wände rütteln und zittern. Sofort renne ich die Treppe hoch, um mich auch bei den noch schlafenden Familienmitgliedern zu vergewissern, dass ich nicht spinne. Bevor ich oben ankomme, zurrt das Handy, die Heimatfront-App zeigt Raketenalarm in Tel-Aviv an, wo Sivan und Itay leben. Dann, im Bruchteil einer Sekunde, geht auch bei uns der Alarm los, laut und markdurchdringend. Eyal und Lianne springen aus den Betten, wir stürmen in den Schutzraum und ziehen die Türe zu. Im Familienchat bestätigen die Kinder in Tel-Aviv, dass sie den Alarm gehört haben und sich in ihren Pyjamas im Treppenhaus befinden (in älteren Gebäuden gibt es keine Schutzräume). Solche Situationen sind nur noch mit Humor zu bewältigen, deshalb fragt Eyal den Sohn, der sich sonst wochenlang nicht meldet "Ach, bist du noch im Lande?". "Ja", antwortet dieser, und schiebt nach "ich kann es selbst nicht verstehen".

Nach einigen Minuten scheint die Gefahr gebannt zu sein und wir dürfen wieder hinaus – zurück zum Alltag. Der Nachbar dreht die Morgenrunde mit dem Hund, das Taxi holt den Nachbarsjungen ab, der in eine Sonderschule geht (er ist heute verständlicherweise etwas verspätet dran) und ich fahre zur Arbeit. Die Detonation, die ich gehört habe, ist dem Raketenabwehrsystem zuzuschreiben. Die aus dem Libanon abgefeuerte Rakete ist über dem Großraum Tel Aviv abgefangen worden, bevor sie grösseren Schaden anrichten konnte.

Die Heimfront-App heute Morgen: Alarm im Zentrum Israels


Mir ist aufgefallen, dass ein Grossteil der Schweizer mit den Schultern zuckt, wenn man den Nahostkrieg anspricht. Zu komplex, meinen sie damit, sie verstehen die Situation nicht. Vielleicht ist es ja sogar auch besser, nichts zu wissen, angesichts der breiten Desinformations- und Denunziationskampagne, die im Westen zum Standard geworden ist. Doch eigentlich ist der Nahostkrieg ganz einfach erklärt: die einen betreiben Terror, die anderen Terrorbekämpfung.



Sonntag, 8. September 2024

Ein ganz normales Wochenende




Sivan berichtet, dass sie nach langem Flug in New York angekommen ist, wo sie einige Tage Urlaub verbringen wird. Ihren hebräischen Namen in der Uber-App hat sie vorsorglich auf etwas Unverfänglicheres abgeändert. Dem Taxifahrer, der sie fragt, woher sie kommt, antwortet sie "aus Malta".

Eine Freundin, die Lianne abholt, erzählt, dass sie als Tagesmutter für einen kleinen Jungen arbeitet. Der Junge ist Vollwaise, die Eltern sind am 7. Oktober in Kfar Aza ermordet worden. Der Junge überlebte das Massaker 14 Stunden lang in einem Versteck. Jetzt lebt er bei einer Tante, zusammen mit anderen Überlebenden aus Kfar Aza, in einem der Kibbuzim in der Sharongegend. Nach unserem kurzen Gespräch fahren die Freundin und Lianne an ihrem freien Tag zum Brunch in ein Café.

Itay fragt uns beim Abendessen, ob wir wissen, dass man Schuhe nur in Paaren kaufen kann. In Anbetracht der vielen Amputierten in Israel, witzelt er, müsste man einzelne Schuhe kaufen können. Sein Freund Alon hat Glück, er kann die Schuhpaare mit seinem Zimmerpartner teilen, denn zusammen haben sie ein rechtes und ein linkes Bein, und zufällig auch dieselbe Schuhgrösse.

Unsere Bekannten aus einem Kibbuz im Norden Israels kommen zu Besuch. Seit vielen Monaten leben sie wie Nomaden, ihr Häuschen mit dem liebevoll gepflegten Garten und dem Studio, in welchem Pinchas malt, seit er sich von einer schweren Krankheit erholt, mussten sie verlassen. Allein im August wurde Israels Norden mit über 1,300 Raketen aus dem Libanon und aus Syrien beschossen.

Die ermordeten Geiseln, vor allem die Geschichte von Eden Yerushalmi, gehen mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Eden war im Alter meiner Töchter, die manchmal auch an Partys tanzen gehen. Was Eden und die anderen Geiseln durchgemacht haben, bis sie nach 330 Tagen in Geiselhaft kaltblütig ermordet wurden, was ihre Familien erleiden müssen, das hätte man sich für den schlimmsten Horrorfilm nicht erdenken können.

Seit Anfang September kann man den Herbst erahnen. Die Temperaturen sind frühmorgens etwas erträglicher, abends spürt man sogar endlich ein leichtes Lüftchen. Aber sobald die Sonne am Himmel steht ist es immer noch sehr heiss und feucht und deshalb starte ich meinen Morgenlauf wieder einmal schon um sechs Uhr. Es ist eher ein Spaziergang, denn mein linkes Knie macht das Joggen schon einige Monate nicht mehr mit. Doch ich bin eineinhalb Stunden unterwegs und trotz der frühen Stunde kommen mir auf meiner Route, die drei Dörfer und zwei Wäldchen im Sharongebiet umfasst, Dutzende Menschen entgegen. Junge und Alte, die gehen, laufen oder Rad fahren, einige langsamer, einige sehr sportlich.
Manche der Jogger und Spaziergänger tragen Kopfhörer, andere wünschen mir freundlich einen guten Morgen und zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht. 
Den hübschen jungen Männern, die wegen der Hitze ohne T-Shirts laufen, schenke ich einen zusätzlichen sehnsüchtigen Blick. Ich hoffe, sie wissen ihre Kraft, Gesundheit und jugendliche Schönheit zu schätzen. 
Eine junge Frau sitzt im Schneidersitz mit Blick auf den Sonnenaufgang auf einem Erdhügel und bringt in ihrem Zeichenblock letzte Striche an.
Die Felder und Wälder sind trocken und staubig, sie warten auf den ersten Regen. 
Auch den blühenden weissen Meerzwiebeln schenke ich einen zusätzlichen staunenden Blick. Wie beeindruckend sie in ihrer ganzen Grösse jedes Jahr irgendwann einfach plötzlich da zu sein scheinen, wo vor einer Woche noch nichts war. Wie immer kündet ihr Blühen den Wechsel der Jahreszeit an.

Die Zwiespältigkeit der Situationen und Ereignisse im Alltag macht mich wahnsinnig. Wie erträgt man diese unheimliche Normalität?





Montag, 2. September 2024

Durchhalten

Im Anschluss an meinen letzten Beitrag kann man die Liste der Horrornachrichten von gestern auf diesem Blog nachlesen.
Heute ist die Berichterstattung in Israel dominiert von Schilderungen und Aufnahmen der zahlreichen Beerdigungen. Viele Menschen streiken und gehen auf die Strasse. Die Histadrut (der israelische Gewerkschafts-Dachverband) hat für einen Tag den Generalstreik ausgerufen. Der (gesetzeswidrige) Streik soll Anteilnahme mit dem Forum der Angehörigen der Geiseln bekunden und den Druck auf die Regierung erhöhen, einem Deal zur Freilassung der verbliebenen Geiseln zuzustimmen. Leider erzielt die Hamas damit genau das, was sie über kurz oder lang explizit im Sinne hat: Hass zu schüren, die Gesellschaft zu spalten und Israel weiterhin innerpolitisch zu schwächen.

Die Sache mit den Geiseln ist höchst verzwickt. Während wir, die weniger oder nicht direkt Betroffenen, mit den am 7. Oktober etwa 1,200 Ermordeten abschliessen und sie einigermassen aus dem Bewusstsein verdrängen können, während der Schock und die Trauer über diese für uns meist Unbekannten verjähren und abklingen, beschäftigt uns das Schicksal der Geiseln rund um die Uhr. Wir kennen nicht nur ihre Namen, sondern ihre Gesichter und Geschichten, ihre Eltern, ihre Geschwister und Angehörigen. Sie sind für uns alle zu Brüdern und Schwestern geworden. Mit ihnen hat die Hamas uns in der Hand und das spielt sie brutal aus. Das wird sie auch weiterhin tun, mit jedem und jeder einzelnen der Festgehaltenen, denn das war die bestialisch geplante Absicht der Geiselnahmen am 7. Oktober-Massaker.

Ein sogenanntes "Abkommen" wird und darf es nicht geben. Wer dies bei Schreibschaukel noch nicht getan hat, sollte dazu unter anderem das Interview mit Gerhard Conrad lesen.

Für uns endete der gestrige schwarze Tag mit einem Besuch auf dem Friedhof unseres Wohnorts, für die Yahrzeit (Jahrestag des Ablebens, nach jüdischem Kalender) von Nitzan. Nitzan wurde am 7. Oktober in dem Todesbunker ermordet, aus welchem der nun aus Gaza tot geborgene Hersh Goldberg-Polin und andere entführt wurden.

Ich wollte mir eine "mir ist alles egal" Haltung aneignen, doch sehr erfolgreich bin ich damit nicht, wie ja auch zu erwarten war. Ich versuche weiterhin, mir einen Panzer zuzulegen und alles möglichst an mir abprallen zu lassen. Anders geht es nicht. Irgendwann wird hoffentlich alles wieder gut – in meiner Wunschvorstellung mit Unterstützung der westlichen Welt. Ich denke, dass sich weltweit langsam aber sicher Menschen zeigen werden, die, wie wir Israelis, ein wertebasiertes, pluralistisches, gemeinschaftsorientiertes Umfeld wollen. Menschen, die eine auf Respekt und Gleichberechtigung beruhende Gemeinschaft wollen, die niemanden zurücklässt. Menschen, die überhaupt an etwas glauben und nicht nur an Vernichtung. Ich denke, dass sich diese Menschen herauskristallisieren und dass sie irgendwann auch überhandnehmen werden.

Bis dahin müssen wir durchhalten.















Sonntag, 1. September 2024

Horrorfilm

Ein Morgen voller Schläge in die Magengrube. Wir sind Statisten in einem Horrorfilm ohne Ende.