Sonntag, 8. September 2024

Ein ganz normales Wochenende




Sivan berichtet, dass sie nach langem Flug in New York angekommen ist, wo sie einige Tage Urlaub verbringen wird. Ihren hebräischen Namen in der Uber-App hat sie vorsorglich auf etwas Unverfänglicheres abgeändert. Dem Taxifahrer, der sie fragt, woher sie kommt, antwortet sie "aus Malta".

Eine Freundin, die Lianne abholt, erzählt, dass sie als Tagesmutter für einen kleinen Jungen arbeitet. Der Junge ist Vollwaise, die Eltern sind am 7. Oktober in Kfar Aza ermordet worden. Der Junge überlebte das Massaker 14 Stunden lang in einem Versteck. Jetzt lebt er bei einer Tante, zusammen mit anderen Überlebenden aus Kfar Aza, in einem der Kibbuzim in der Sharongegend. Nach unserem kurzen Gespräch fahren die Freundin und Lianne an ihrem freien Tag zum Brunch in ein Café.

Itay fragt uns beim Abendessen, ob wir wissen, dass man Schuhe nur in Paaren kaufen kann. In Anbetracht der vielen Amputierten in Israel, witzelt er, müsste man einzelne Schuhe kaufen können. Sein Freund Alon hat Glück, er kann die Schuhpaare mit seinem Zimmerpartner teilen, denn zusammen haben sie ein rechtes und ein linkes Bein, und zufällig auch dieselbe Schuhgrösse.

Unsere Bekannten aus einem Kibbuz im Norden Israels kommen zu Besuch. Seit vielen Monaten leben sie wie Nomaden, ihr Häuschen mit dem liebevoll gepflegten Garten und dem Studio, in welchem Pinchas malt, seit er sich von einer schweren Krankheit erholt, mussten sie verlassen. Allein im August wurde Israels Norden mit über 1,300 Raketen aus dem Libanon und aus Syrien beschossen.

Die ermordeten Geiseln, vor allem die Geschichte von Eden Yerushalmi, gehen mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Eden war im Alter meiner Töchter, die manchmal auch an Partys tanzen gehen. Was Eden und die anderen Geiseln durchgemacht haben, bis sie nach 330 Tagen in Geiselhaft kaltblütig ermordet wurden, was ihre Familien erleiden müssen, das hätte man sich für den schlimmsten Horrorfilm nicht erdenken können.

Seit Anfang September kann man den Herbst erahnen. Die Temperaturen sind frühmorgens etwas erträglicher, abends spürt man sogar endlich ein leichtes Lüftchen. Aber sobald die Sonne am Himmel steht ist es immer noch sehr heiss und feucht und deshalb starte ich meinen Morgenlauf wieder einmal schon um sechs Uhr. Es ist eher ein Spaziergang, denn mein linkes Knie macht das Joggen schon einige Monate nicht mehr mit. Doch ich bin eineinhalb Stunden unterwegs und trotz der frühen Stunde kommen mir auf meiner Route, die drei Dörfer und zwei Wäldchen im Sharongebiet umfasst, Dutzende Menschen entgegen. Junge und Alte, die gehen, laufen oder Rad fahren, einige langsamer, einige sehr sportlich.
Manche der Jogger und Spaziergänger tragen Kopfhörer, andere wünschen mir freundlich einen guten Morgen und zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht. 
Den hübschen jungen Männern, die wegen der Hitze ohne T-Shirts laufen, schenke ich einen zusätzlichen sehnsüchtigen Blick. Ich hoffe, sie wissen ihre Kraft, Gesundheit und jugendliche Schönheit zu schätzen. 
Eine junge Frau sitzt im Schneidersitz mit Blick auf den Sonnenaufgang auf einem Erdhügel und bringt in ihrem Zeichenblock letzte Striche an.
Die Felder und Wälder sind trocken und staubig, sie warten auf den ersten Regen. 
Auch den blühenden weissen Meerzwiebeln schenke ich einen zusätzlichen staunenden Blick. Wie beeindruckend sie in ihrer ganzen Grösse jedes Jahr irgendwann einfach plötzlich da zu sein scheinen, wo vor einer Woche noch nichts war. Wie immer kündet ihr Blühen den Wechsel der Jahreszeit an.

Die Zwiespältigkeit der Situationen und Ereignisse im Alltag macht mich wahnsinnig. Wie erträgt man diese unheimliche Normalität?





Montag, 2. September 2024

Durchhalten

Im Anschluss an meinen letzten Beitrag kann man die Liste der Horrornachrichten von gestern auf diesem Blog nachlesen.
Heute ist die Berichterstattung in Israel dominiert von Schilderungen und Aufnahmen der zahlreichen Beerdigungen. Viele Menschen streiken und gehen auf die Strasse. Die Histadrut (der israelische Gewerkschafts-Dachverband) hat für einen Tag den Generalstreik ausgerufen. Der (gesetzeswidrige) Streik soll Anteilnahme mit dem Forum der Angehörigen der Geiseln bekunden und den Druck auf die Regierung erhöhen, einem Deal zur Freilassung der verbliebenen Geiseln zuzustimmen. Leider erzielt die Hamas damit genau das, was sie über kurz oder lang explizit im Sinne hat: Hass zu schüren, die Gesellschaft zu spalten und Israel weiterhin innerpolitisch zu schwächen.

Die Sache mit den Geiseln ist höchst verzwickt. Während wir, die weniger oder nicht direkt Betroffenen, mit den am 7. Oktober etwa 1,200 Ermordeten abschliessen und sie einigermassen aus dem Bewusstsein verdrängen können, während der Schock und die Trauer über diese für uns meist Unbekannten verjähren und abklingen, beschäftigt uns das Schicksal der Geiseln rund um die Uhr. Wir kennen nicht nur ihre Namen, sondern ihre Gesichter und Geschichten, ihre Eltern, ihre Geschwister und Angehörigen. Sie sind für uns alle zu Brüdern und Schwestern geworden. Mit ihnen hat die Hamas uns in der Hand und das spielt sie brutal aus. Das wird sie auch weiterhin tun, mit jedem und jeder einzelnen der Festgehaltenen, denn das war die bestialisch geplante Absicht der Geiselnahmen am 7. Oktober-Massaker.

Ein sogenanntes "Abkommen" wird und darf es nicht geben. Wer dies bei Schreibschaukel noch nicht getan hat, sollte dazu unter anderem das Interview mit Gerhard Conrad lesen.

Für uns endete der gestrige schwarze Tag mit einem Besuch auf dem Friedhof unseres Wohnorts, für die Yahrzeit (Jahrestag des Ablebens, nach jüdischem Kalender) von Nitzan. Nitzan wurde am 7. Oktober in dem Todesbunker ermordet, aus welchem der nun aus Gaza tot geborgene Hersh Goldberg-Polin und andere entführt wurden.

Ich wollte mir eine "mir ist alles egal" Haltung aneignen, doch sehr erfolgreich bin ich damit nicht, wie ja auch zu erwarten war. Ich versuche weiterhin, mir einen Panzer zuzulegen und alles möglichst an mir abprallen zu lassen. Anders geht es nicht. Irgendwann wird hoffentlich alles wieder gut – in meiner Wunschvorstellung mit Unterstützung der westlichen Welt. Ich denke, dass sich weltweit langsam aber sicher Menschen zeigen werden, die, wie wir Israelis, ein wertebasiertes, pluralistisches, gemeinschaftsorientiertes Umfeld wollen. Menschen, die eine auf Respekt und Gleichberechtigung beruhende Gemeinschaft wollen, die niemanden zurücklässt. Menschen, die überhaupt an etwas glauben und nicht nur an Vernichtung. Ich denke, dass sich diese Menschen herauskristallisieren und dass sie irgendwann auch überhandnehmen werden.

Bis dahin müssen wir durchhalten.















Sonntag, 1. September 2024

Horrorfilm

Ein Morgen voller Schläge in die Magengrube. Wir sind Statisten in einem Horrorfilm ohne Ende.