Sonntag, 25. Februar 2024

Fusion

Wie immer hat das Abstand nehmen gut getan. Ich kann in der Schweiz etwas abschalten, tanke neue Kräfte und kehre – trotz der weiterhin katastrophalen Situation – etwas zuversichtlicher nach Israel zurück. Nicht zuletzt ist das der wunderbaren Basler Fasnacht zu verdanken. Die Ausgelassenheit an diesem Anlass, die grenzenlose Kreativität und der Aufwand bringen mich zum Staunen und Lachen wie ein kleines Kind. Das scheint ja auch das hauptsächliche Bemühen der aktiven Fasnächtler zu sein: gute Laune zu verbreiten und Menschen fröhlich zu stimmen. Ja, vor allem Kinder. Für sie müssen diese Tage besonders bezaubernd sein. Die Waggisse (traditionelle Fasnachtsfigur) steigen während dem Cortège von den Wagen, um den "Binggis" (Kinder) Süssiggkeiten und kleine Geschenke in die Taschen zu stecken. Wie wundervoll muss es für die Kleinen sein, von diesen zauberhaften Figuren mit so viel Aufmerksamkeit und allem, was ihr Kinderherz begehrt, überhäuft zu werden. 

Wie schön wenn eine Gesellschaft ihre Kinder ehrt und sie zu Werten von Weltlichkeit, Selbstbestimmung, Individualität, Solidarität, Toleranz und vor allem Respekt gegenüber jedem einzelnen Menschen und dessen Würde grosszieht.

 


Während in Basel die Stadtverwaltung die Räppli (Konfetti) von den Strassen putzt, fahren wir zum Flughafen in Zürich und ehe ich mich versehe und ohne richtig wahrzunehmen, was dazwischen passiert, erwache ich am nächsten Morgen wieder in meinem eigenen Bett in Israel.

Warum zermartere ich mir eigentlich schon eine Ewigkeit mit dem Identitätsdilemma Israel-Schweiz den Kopf? Seit Jahren fühle ich mich hin- und hergerissen. Bin ich nun Israeli oder Schweizerin? Wo fühle ich mich wirklich zu Hause? Bin ich ein Pferd oder bin ich ein Esel?
Manchmal wächst man in die Antwort hinein. Ich muss mir diese Frage gar nicht stellen. Ich bin beides. (Ja, auch ein Esel)
Offensichtlich kann man zwei Heimaten haben. Ich lebe seit mehr als der Hälfte meines Lebens in Israel und bin inzwischen wohl vor allem sehr Israeli. Ich fühle mich aber auch in der Schweiz immer noch sehr wohl und zu Hause. Nicht alles muss in eine Schublade passen. Vor allem nicht ein Herz.
Heute koche ich – von der Schweiz inspiriert – Rösti und dazu die heute Morgen wieder im Zitrushain frisch gepflückten israelischen wilden Spargeln. Wie nennt man das noch gleich? Fusion?



Leider bringt diese Fusion im Moment nicht nur Gutes. Wenn mich auch die Distanz und die Fasnacht dazu verführt haben, etwas abzuschalten, ist es mit der Unbeschwertheit schlagartig nach der Landung im Ben Gurion Flughafen vorbei. Beim Gang zur Passkontrolle erinnern grosse, sorgfältig aufgereihte Gesichter mit Namen und Alter an jede einzelne der israelischen Geiseln in Gaza. Mehr als Hundert grosse Bilder stehen da und sie versinnbildlichen den Heimkehrenden oder auch den seltenen Touristen, was Israel im Moment ist: nicht Palmen und Mittelmeer, nicht Wüste und Totes Meer, nicht Humus und Felafel. Geiseln, Krieg und Attentate. Schon 141 Tage. Wie lange noch? Die Tage ziehen sich in die Länge und werden zu einer nicht mehr nachvollziehbaren Masse. Der israelische junge Soldat Gilad Shalit wurde mehr als fünf Jahre in Gaza festgehalten. Was wird mit diesen Geiseln sein?

Als ich am Morgen in meinem bequemen Bett noch die aufgrund der Reise fehlenden Stunden nachschlafe, fahren drei palästinensische Mörder mit zwei Autos an das Ende eines Staus auf der Autobahn am Stadtrand von Jerusalem und eröffnen mit automatischen Waffen das Feuer. Bewaffnet mit Gewehren, Maschinenpistolen und Handgranaten schiessen sie wahllos auf einer Strecke von einem halben Kilometer auf die in den Autos sitzenden Menschen. Sie ermorden einen 26-jährigen Israeli und verletzen elf weitere zum Teil schwer. Viele erleiden Schusswunden im Oberkörper. Eine junge hochschwangere Frau muss in kritischem Zustand notoperiert werden, es ist unklar, ob ihr ungeborenes Kind gerettet werden kann. Ein 23-jähriger Soldat, der vor zwei Wochen aus dem Gazastreifen zurückgekehrt ist, eliminiert die um sich schiessenden Terroristen und kann so ein grösseres Blutbad verhindern, wird aber auch schwer verletzt. 
Die Terroristen stammen aus Bethlehem, einer von ihnen ist Arzt und junger Familienvater. Dass er von diesem Attentat nicht lebend zurückkommen wird, muss er einkalkuliert haben. Hat es sich für die palästinensische Sache gelohnt? Hat es seine, nun verwaisten, Kinder auch nur einen Schritt weiter in eine bessere Zukunft gebracht?






Montag, 19. Februar 2024

Planet Schweiz




Trotz eingeschränkter Flugmöglichkeiten, entspreched hohen Preisen und der Sorge, wegen einer eventuellen Eskalation des Krieges nicht zurückkehren zu können, fliege ich für einige Tage in die Schweiz. Der Kulturschock, den der Austausch der gewohnten Umgebung jeweils mit sich bringt, war in der Vergangenheit mit etwas Humor leicht zu bewältigen. Jetzt, unter den gegebenen Umständen, fühlt sich die Reise von der Kriegszone Israel in die friedliche Schweiz an, als würde ich auf einen anderen Planeten katapultiert.  Alles ist so komplett anders hier, vor allem die – vielleicht nur scheinbare – Sorglosigkeit. Doch der tiefe Schmerz in mir und die Hoffnungslosigkeit – sie reisen mit. Zum Glück wurde meine Tochter Sivan Ende Januar aus ihrem mehrmonatigen Militär-Reservedienst entlassen und kann mich begleiten, so habe ich eine Schicksalsgenossin, mit der ich mein Empfinden teilen kann. Es dauert mehrere Tage, bis ich auf dem fremden Planeten einigermaßen ankomme. Nachts schrecke ich vom Lärm der Kampfflugzeuge hoch. Dann erinnere ich mich, dass es hier nur das Tram ist, drehe mich auf die andere Seite und versuche, wieder einzuschlafen.

Die Gedenkfeier für einen lieben ehemaligen Klassenkollegen kommt einer weiteren Reise auf einen anderen Planeten gleich, den Planeten "Gymnasium vor 40 Jahren". Fast alle ehemaligen Mitschüler sind gekommen und der Anlass war traurig, seltsam und kurios zugleich. Alle sehen noch aus wie damals, nur mit etwas Falten und grauen oder gar keinen Haaren.

Ich hatte große Bedenken vor dem Treffen. Nicht nur weil Balz so schmerzhaft fehlte in unserer Mitte. Seit dem 7. Oktober gehe ich Menschen aus dem Weg, die mir nicht sehr nahe stehen. Ich kann mich nicht mehr über Oberflächliches unterhalten. Das sind schlechte Voraussetzungen für eine Zusammenkunft mit einst sehr vertrauten "Kollegen", die mir nach vierzig Jahren Distanz völlig fremd geworden sind. Außerdem befürchtete ich gängige pro-palästinensische Äusserungen – die für mich und meine Liebsten einem Todeswunsch gleichkommen. Für den Fall, dass sich jemand erdreisten würde, die "Unverhältnismäßigkeit der israelischen Reaktion in Gaza"  zu kritisieren, hatte ich mich vorsorglich mit einigen farbigen Flugblättern eingedeckt. Diese zeigen die vier neunzehnjährigen Mädchen Agam, Daniela, Liri und Karina, die verletzt, geschändet und misshandelt, mit mehr als 100 anderen Israelis immer noch als Geiseln in Gaza festgehalten werden. Das Flugblatt hätte ich anstelle einer bestimmt zum Scheitern verurteilten Debatte gezückt. Ich finde, das schlägt jedes auch nur erdenkbare Argument.

Aber am meisten bangte mir, dass gar niemand etwas über unsere Situation in Israel sagen oder fragen würde.
Ich war positiv überrascht. Einige sprachen das Thema Israel an. Das waren vor allem diejenigen, die ein einigermaßen akzeptables Verständnis der Situation zu haben scheinen.
Erfreulicherweise fragten mich fast Alle mit aufrichtigem Interesse, wie es mir geht, obwohl man ja mit dieser Frage recht unangenehme Antworten oder Reaktionen riskieren kann. 

Die Flugblätter blieben bis jetzt auf jeden Fall in der Tasche. Vielleicht werde ich sie am letzten Tag noch an irgendwelche zufälligen Passanten verteilen.
Offensichtlich sollte ich mir im Allgemeinen weniger Gedanken machen, aber das war im fernen Israel schwer abzuschätzen, wenn man mitten in der Katastrophe steckt und nur noch ein Thema das Leben beherrscht.

Von Montag bis Mittwoch besuchen wir einen weiteren fremden und sehr exotischen Planeten, auf dieser Reise, die gefühlt schon fast ein halbes Sonnensystem umspannt: Die Basler Fasnacht.

Vom Planeten Fasnacht aus ist die Sicht auf das Geschehen in Israel noch einmal eine andere. Die Vorfälle im Nahen Osten vermischen sich und werden schwer nachvollziehbar. Da und dort werden bei Attentaten Menschen ermordet, weil sie jüdisch sind. Das könnte man mit etwas geografischer Distanz leicht übersehen oder ignorieren, aber wenn man es weiß, ist es aus der Ferne fast noch unfassbarer.
 
Wir hingegen ziehen am Morgestraich staunend und begeistert mit den Cliquen und Hunderttausenden Frühaufstehern durch die Gassen der Basler Altstadt. Wir essen um fünf Uhr morgens Ziebelewäie und Mählsubbe, als wäre es das Normalste in der Welt. Alle sind fröhlich und ausgelassen. Die Fasnacht ist ein Fest der Fröhlichkeit und der Sinne. Wie betörend schön das Leben sein kann, wenn einem niemand nach dem Leben trachtet. Das ist leider den Israelis nicht vergönnt.



Meine aktuelle Lektüre, "die Todgeweihte" von Titus Müller, sorgt dafür, dass ich nicht allzu euphorisch über mein geliebtes Basel werde. Das Buch hat die Judenverfolgung in Basel im 14. Jahrhundert zum Thema.  Bei dem historischen Roman handelt es sich nicht um ein literarisches Glanzstück, aber er zeigt auf, dass auch in genau diesen Gassen schon Menschen verfolgt und ermordet wurden, weil sie Juden sind und das nicht nur im 14. Jahrhundert.

In wenigen Tagen werde ich wieder nach Israel reisen. Darauf habe ich mich in der Vergangenheit immer sehr gefreut. Jetzt lastet es mir schwer auf den Schultern. Aber meine Familie ist in Israel. Mein Herz ist in Israel.