Sonntag, 18. April 2021

Kein Spaziergang




„Zu Fuss nach Jerusalem“ – ich bin sofort Feuer und Flamme, als ich dieses Buch in den Händen halte und den Klappentext lese. Eine Pilgerwanderung von der Schweiz nach Jerusalem! Ich bin hingerissen – was für ein grossartiges Unternehmen! Wenn man Corona-bedingt nicht fliegen kann... Warum nicht einfach gehen? Zu Fuss an sein Ziel zu gelangen wäre aber nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein sinnvolles Lebensereignis, eine tiefgreifende Selbsterfahrung. Denn – es wohnen ja zwei Seelen, ach! in meiner Brust: eine schweizerische und eine israelische. Wandernd den Weg und die Distanz zwischen den beiden Ländern zu erfahren! Zu Fuss eine Verbindung zwischen meinen beiden Heimaten zu schaffen! Ich bin voll und ganz von der Idee begeistert. Noch während ich die Einleitung lese möchte ich sofort meine Kollegin, die Reiseleiterin, anrufen und sie bitten, mich auf dieser Reise zu begleiten und alles Notwendige in die Wege zu leiten. Schliesslich steht auch sie mit einem Fuss in der Schweiz und dem anderen hier in meinem israelischen Nachbardorf. Und auch sie ist eine leidenschaftliche Wandererin. Aber im Gegensatz zu mir kann sie Karten lesen und sehr gut organisieren. Natürlich würden wir in umgekehrter Richtung gehen: ab Israel zu Fuss in die Schweiz. Die Route über Syrien, die Türkei und Osteuropa bis in die Schweiz ist auf den inneren Buchdeckeln detailgetreu abgebildet. Wir müssten fast nur noch den Rucksack packen und loswandern. Ein Jahr Urlaub nehmen für dieses Unterfangen – oh ja bitte, das käme jetzt gerade zur rechten Zeit! Sollen sich doch die undankbaren Idioten im Büro endlich selbst um ihren Kram kümmern. Für mich ist es jetzt wirklich höchste Zeit, etwas Sinnvolles zu unternehmen, anstatt meine wertvollen Tage zu verplempern.

Als ich zu lesen beginne, stellt sich nach wenigen Seiten die Ernüchterung ein. Tagelanges monotones Gehen an lärmenden Autostrassen entlang. Über Leitplanken klettern, um mehrspurige Verkehrsknoten zu überqueren. Durch schmutzige Industriegebiete und triste Vorstädte marschieren. Das ist nicht eine erquickende Wanderung auf wildromantischen Naturwegen. Je weiter entfernt von Europa desto spärlicher werden die Übernachtungsmöglichkeiten. Sogar das Angebot an käuflichen Esswaren wird problematisch. Und dann das Kriegsgebiet Syrien. Vom Geheimdienst verfolgt und bespitzelt, von kriegserfahrenen Menschen bedroht, die vor nichts mehr Angst haben...

Als der Autor und seine drei Pilgerfreunde in Israel eintreffen und in religiöser Euphorie die heiligen Stätten besuchen, klappe ich das Buch ernüchtert zu. Man muss wohl sehr naiv oder grenzenlos religiös verklärt sein, um sich überhaupt auf so eine Entreprise einzulassen. Beides trifft meines Erachtens auf den Autoren zu. Auf mich aber eher weniger. Schade. Das Unterfangen bleibt ein Traum.

Sonntag, 4. April 2021

Leben danach


Am Schabbat beschliessen Eyal und ich gegen Mittag spontan, nach Jerusalem zu fahren. Jerusalem, die Stadt mit der faszinierenden Ausstrahlung ist immer eine Reise wert und ich war seit Anfang der Pandemie nicht mehr dort. Aber jetzt, bei einer Impfrate von über 60 Prozent und sehr erfreulichen negativen Fallzahlen, herrscht eine frühlingshafte aufregende „Nach-Corona“-Stimmung. Was in anderen (Schweizer) Blogs noch als 1. April-Scherz dargestellt wird, ist bei uns wieder möglich: Die Restaurants und Märkte sind geöffnet, man darf in der Stadt flanieren und sich mehr oder weniger sorglos und unbegrenzt ins Getümmel stürzen.

Knapp zwei Stunden nach unserem spontanen Entschluss finden wir in Jerusalem einen Parkplatz. Dann verlässt mich für einen Moment die Freude auf den Ausflug. Es ist ja immer noch Maskenpflicht! Diskussionen über einen bald möglichen Maskenverzicht sollen zwar schon im Gange sein, aber noch ist es nicht so weit. Ich habe die erstickenden Dinger nie leiden können, vielleicht gerade, weil ich fast nur noch zu Hause weilte und sie ganz selten tragen musste. Und jetzt hier – endlich draussen! – sollte ein Stück Stoff mich davon abhalten, frische Frühlingsluft zu atmen?

Im Schabbat-ruhigen Altstadtnahen Viertel, in welchem wir unseren Ausflug starten, sind über Mittag nur wenige Leute auf der Strasse und hier eine Maske zu tragen wäre doch einfach lächerlich. Ich beschliesse aufmüpfig, dass ich mir die Freude von dieser lästigen Gesichtsbarriere nicht verderben lasse. Es ist endlich an der Zeit, dass wir uns wieder ans maskenfreie Auftreten gewöhnen. Schliesslich bin auch ich vorbildlich geimpft. Ich trage frech Lippenstift auf und stecke die Maske in die Hosentasche, dann ziehen wir los.



Vorbei an der eindrucksvollen russisch-orthodoxen Dreifaltigkeitskathedrale mit ihren goldenen Kuppeldächern marschieren wir in Richtung Altstadt. Bei angenehm kühlem Frühlingswetter ist ein Besuch in dieser Stadt mit ihrem exotischen Flair das Abenteuer, das in diesen Tagen einer Auslandsreise am nächsten kommt.


 
In den engen Marktgassen im arabischen Viertel tümmeln sich erstaunlich viele Leute. Um Touristen kann es sich nicht handeln, aber aus mir unerklärlichen Gründen sind doch viele fremde Sprachen zu hören: Englisch, Russisch, Spanisch. Wir drehen eine Runde durch die Grabeskirche, in welcher heute, einen Tag vor Ostern, eine besonders spirituelle Stimmung zu herrschen scheint.

Aber vom Beten allein kann man nicht leben, also verschlingen wir beim Damaskustor ganz weltlich eine der besten Falafel Jerusalems – obwohl wir noch gar nicht hungrig sind. Die letzten Tropfen aromatischer Tahina aus den Mundwinkeln leckend staunen wir auf dem Gemüsemarkt über frische Kichererbsen, die sich zu dieser Jahreszeit in die Berge von grünen ungeschälten Mandeln reihen, allesamt noch in ihren zartgrünen Hülsen.




Unterwegs in einer der engen Gassen schwillt der Besucherstrom in der uns entgegenkommenden Richtung plötzlich erstaunlich an. Hunderte von Menschen strömen uns entgegen und das Vorwärtskommen wird zum fast unmöglichen Unterfangen. Jetzt wird mir ohne Maske doch etwas mulmig. Viele der uns Entgegenkommenden tragen brav Masken über Mund und Nase, viele aber auch nur nachlässig am Kinn und eine bemerkenswerte Zahl ist so frech wie wir und präsentiert sich mit nacktem Gesicht. Na ja, jetzt ist es wohl eh schon zu spät für den Atemschutz. In dieser leicht bedrückenden Situation rasen mir ungewollt die statistischen Resultate der klinischen Studien für die verschiedenen Covid-19-Impfungen durch den Kopf. Weil mir aber die Zahlen in diesem Moment eher verschwommen und nicht besonders überzeugend erscheinen, sende ich noch ein Stossgebet gen‘ Himmel – dass mich die vielfältigen Götter Jerusalems vor Corona beschützen mögen!

Wir bleiben einige Minuten in einem Ladeneingang stehen und wundern uns, woher die Menschenmassen kommen könnten. Es sind offensichtlich Araber, also kommen sie am Schabbat nicht vom Gebet. Dagegen spricht auch, dass die Gruppe aus mehr als der Hälfte Frauen besteht. Nach einigen Minuten des Wartens und Staunens wird klar, dass der Menschenstrom nicht so bald abbrechen wird. Wir stürzen uns wieder ins Getümmel. Gegen den Strom kämpfen wir uns in Richtung österreichisches Hospiz. Schliesslich erwartet uns dort im wiedereröffneten Café Triest Wiener Melange und Apfelstrudel mit Sahne!

Immerhin - Henkersmahlzeit vor dem eventuellen Corona-Tod