Dienstag, 12. Januar 2021

Auf dem Gipfel

Mit zitternden Beinen erklimme ich den Gipfel. Um den Gipfel zu überklettern lege ich mich bäuchlings hin. Mein Oberkörper findet gerade knapp Platz auf dem Felsen, der den Gipfel ausmacht. Nun eröffnet sich vor mir tiefster Abgrund. Mir schaudert als ich nach unten blicke: Viele Hundert Meter steil abfallendes Gelände. Tief unten, in weiter Ferne ein Tal, ein friedlicher See. Da muss ich hinunterklettern, aber meine Füsse finden auf dem brüchigen Felsen auf keiner Seite Halt. Hinter mir, wo ich gerade herkomme, ebenso steil abfallendes Geröll. Hier liege ich nun auf diesem Gipfelfelsen und finde auch nicht den geringsten Vorsprung im Stein, auf welchen ich meinen Fuss setzen könnte. Ich schwitze Wasser und Blut. Hinter mir warten meine Wanderkolleginnen, die sich um mich sorgen, mir aber nicht helfen können. Warum wollte eigentlich ausgerechnet ich, die ich nicht besonders höhensicher bin, als Erste den Gipfel überqueren? Immer wieder suchen meine Füsse vorsichtig Halt, aber es ändert sich nichts an der Lage: Ich stecke fest. Es gibt kein Vor und kein Zurück. Vor mir der unermessliche Abgrund in ein verheissungsvolles aber beängstigendes Tal, hinter mir der beschwerliche und genauso steile Aufstieg, auf welchem es nun kein Zurück mehr gibt.

Drei Stunden stecke ich auf diesem Gipfel fest. Drei Stunden suchen meine Füsse Halt ohne ihn zu finden. Drei Stunden liege ich bäuchlings auf dem brüchigen Stein mit der Gewissheit, dass der geringste Fehltritt das Ende wäre. Es kommt keine Panik auf, aber es gibt auch kein Entrinnen. Kein Vorwärts und auch kein Zurück. Die Situation ist ermüdend und auswegslos.



Dann wache ich auf. Puh! Es war nur ein Traum! 

Ein Traum der mich noch lange beschäftigt. Ja, die bevorstehende Wanderung in die Eilater Berge mit ihren oft schroffen Abgründen macht mir etwas Angst. Aber – Angefangen hat der Traum kurz nach drei Uhr morgens, nachdem uns ein Anruf aus dem Schlaf gerissen hat und ich danach wieder eingedöst bin. Eyals Vater liegt schon wieder im Spital. Schon viele Monate ist es ein Hin und Her zwischen dem Krankenbett zuhause und jenem im Spital. Schon viel zu lange leidet er in schrecklichem Zustand. Verschiedene immer schlimmer werdende Krankheiten lähmen seinen Körper. Zuckerkrankheit in fortgeschrittenem Stadium verursacht nun auch im noch nicht amputierten Bein Nekrose. Wasser in der Lunge erschwert das Atmen. Meistens ist er intubiert. Immer wenn wir denken, dass es jetzt nicht mehr schlimmer werden kann, verschlechtert sich der Zustand ins bisher Unvorstellbare. In den letzten Wochen ist der Vater nur noch wenige Augenblicke am Tag wach und ansprechbar. In diesen Momenten wiederholt er vor allem sein Mantra: Ich will sterben. Und doch ist der Funken Leben in ihm immer noch stark. Er schafft es nicht, loszulassen. Schon mehrere Male stand er an der Schwelle zum Tod und immer wieder überwand er den Augenblick, sei es aus eigener Kraft, sei es aufgrund medizinischer Hilfe. So auch vor diesem Anruf um drei Uhr nachts. Wieder schien der Moment gekommen. Wieder entschwand er. 

Natürlich war nach dem Anruf nicht mehr die Rede von tiefem Schlaf. Im Halbschlaf dämmerte ich bis um sechs Uhr unruhig vor mich hin. Im Traum ahnte ich, dass der Übergang manchmal – nicht nur beim Wandern – unüberwindbar zu sein scheint.

Donnerstag, 7. Januar 2021

Lockdown - neue Version

Ab Donnerstagnacht wird in Israel ein erneuter verschärfter Lockdown in Kraft treten. 
Hallo? Habe ich etwas verpasst? Befinden wir uns nicht schon im Lockdown? Ja, stimmt, wir befinden uns. Aber dieser wird weder beachtet noch durchgesetzt. Ob wohl verschärfte Massnahmen die Lösung sind? Die Israelis sind Weltmeister darin, sich über Regelungen und Konventionen hinwegzusetzen. Die Diskrepanz zwischen den angeordneten Einschränkungen und dem, was tatsächlich auf der Strasse abläuft, ist einfach lächerlich. Niemand hat mehr Lust, Geduld und Kraft für ständig erneuerte Massnahmen. Die Stimmung der Israelis schwankt zwischen absurder Gleichgültigkeit und steigender Panik. Die Infektionsrate ist extrem hoch. Aber bei Sonnenschein und frühlingshaftem Wetter ist es einfach, den Kopf in den Sand zu stecken und das Leben zu geniessen, solange man selbst nicht betroffen ist.

Kein Wunder ist die Lage chaotisch, der allgemeine „Balagan“ eine Katastrophe. Daran ist aber nicht nur die undisziplinierte Bevölkerung schuld. Auch die Regierung, die Polizei und das Gesundheitswesen scheinen die Kontrolle über die Situation verloren zu haben! 

So stelle ich mir die Dateien im Rechner des Corona-Zuständigen im israelischen Gesundheitsministerium vor



Ein Paradebeispiel für die Absurdität, die die Lage in Israel erreicht hat, ist die unglaubliche Geschichte einer Massenhochzeiten der Ultrareligiösen mit Hunderten von Gästen. Die Hochzeit selbst, die entgegen aller Massnahmen abgehalten wird, ist aber nicht etwa der wahre Skandal. Noch viel irrwitziger ist die Tatsache, dass einige der eintreffenden Polizisten dabei gefilmt werden, wie sie sich vom religiösen Oberhaupt segnen lassen, anstatt den Anlass aufzulösen oder die Gäste konsequent zu büssen!

Immerhin habe ich schon die erste Impfung hinter mir. Aber auch die Impfstrategie wirft Fragen auf: Nur Alte und Risikogruppen sollen geimpft werden. Aber trotz Bibi’s gelungenem Coup, für Israel frühzeitig grosse Mengen Impfstoff zu sichern, scheinen gerade für diese Gruppen jetzt schon Impfmittel zu fehlen. Schon bald eineinhalb Millionen Israelis sind geimpft, aber viele Alte und Gefährdete stehen immer noch Schlange. Und auch die Auslieferung der nächsten Dosen, die notwendig ist, um das Impftempo zu halten, ist fraglich. Trotzdem wurden Eyal und ich am vergangenen Shabat aufgerufen, uns im Ärztehaus anzumelden und – zusammen mit Tausenden weiteren Impffreudigen – impfen zu lassen, obwohl wir nur 55 Jahre jung sind und keiner Risikogruppe angehören.

Staunend und kopfschüttelnd hat uns aber vor allem der Anruf unserer Tochter Lianne gestern Abend zurückgelassen. Sie ist vor zweieinhalb Wochen ins Militär rekrutiert worden und befindet sich in der Grundausbildung, welche vier Wochen dauern sollte. Nach einer Woche rannen schon einige Tränen, denn entgegen der ursprünglichen Ansagen durften die frischgebackenen Soldatinnen wegen der steigenden Infektionsraten über das Wochenende doch nicht nach Hause. Seit Bekanntwerden des neuen verschärften Lockdowns ab heute nacht zerbrach ich mir den Kopf, wie man wohl im Militär damit umgehen würde. Noch ein Wochenende ohne Urlaub? Aber der Lockdown sollte ja mindestens zwei Wochen dauern. Würden die Soldaten wirklich einen ganzen Monat lang nicht entlassen werden? Oder würden sie eventuell schon am Donnerstagabend, vor dem Inkrafttreten des Lockdowns nach Hause geschickt? Aber was wäre mit all den Neuangesteckten unter den Auszubildenden bis zum Sonntagmorgen? In der Tat keine einfache Problematik.

Der Beschluss ist so überraschend wie kreativ! Heute würden in einem Tag (Tagwache 4.00 Uhr morgens) alle abschliessenden Prüfungen der Grundausbildung stattfinden und die Soldatinnen dann für eine ganze Woche nach Hause entlassen – mit Weiterführung der Ausbildung per Zoom! Wie sich das genau abspielen soll, ist mir ein Rätsel. Wird nächste Woche eine Soldatin in Uniform durch meine Stube robben?! Ich bin gespannt!

Sonntag, 3. Januar 2021

Happy New Year!



Seit Sonntag befindet sich Israel im dritten Lockdown. Wir dürfen uns nicht weiter als einen Kilometer von unserem Wohnort entfernen, ausser zum Arbeiten oder Einkaufen. Aber schon wenige Tage nach Beginn der neuen wiederholten Einschränkungen ist jedermann klar: Ernst nimmt das jetzt niemand mehr. Auf dieser dritten Welle surfen wir schon wie die Weltmeister. 

Die Israelis wissen immer alles besser und lassen sich nicht gerne Vorschriften machen, schon gar nicht bei schönstem sonnigem Winterwetter. Und jetzt haben wir es wirklich alle leid. Schon wieder ein Lockdown! Irgendwann muss doch das Leben weitergehen. Ausserdem werden wir in aller Windeseile durchgeimpft, das trägt zur allgemein hoffnungsvollen Stimmung bei. Ein neues Jahr, neue Anfänge, neue Hoffnungen. 2021 wird endlich alles gut! 

Erwartungsgemäss schnellen die Krankenzahlen wieder in schwindelerregende Höhen. Die israelischen Obrigkeiten reden verzweifelt davon, die undisziplinierten Bürger im Zaum zu halten, aber in der Praxis merkt man davon nicht allzuviel. Lianne, die vor knapp zwei Wochen ins Militär eingezogen worden ist, darf nun über das Wochenende doch nicht nach Hause. Zu gross ist die Ansteckungsgefahr. Aber blutjunge Soldaten in Schach zu halten, ist keine grosse Kunst. Mit den zivilen Israelis, die ihre Freunde treffen und das Leben geniessen wollen, wird es schon schwieriger. Auch Sivan stellt nach einigen anfänglich vorsichtigen Fahrten von ihrer Wohnung im Nachbardorf zu uns und zurück fest, dass die Wächter wohl im Stehen eingeschlafen sind.

Und dann ist Silvester. Der Freund in Tel-Aviv. Es soll nur eine kleine Party werden, in beschränktem Rahmen. Ein schönes Essen kochen, um Mitternacht mit Freunden anstossen. Was soll daran schon so schlimm sein? Die Polizei versucht am letzten Tag des alten Jahres, die Bürger auf allen möglichen Kanälen abzuschrecken. Um Silvesterparties und grössere Menschenansammlungen zu verhindern, sollen Strassenblockaden aufgestellt werden. Ausgangssperre! Im Fernsehen geben die Uniformierten nachdrückliche und abschreckende Warnungen durch. Die Bürger werden dringlichst gebeten, zu Hause zu bleiben. Saftige Bussen werden angedroht. Eyal und ich bleiben ganz gerne zu Hause. Wir fläzen faul auf den Sofas und zappen von Sender zu Sender. Ob bei soviel Polizeipräsenz in den TV-Studios überhaupt noch jemand für die Strasse übrigbleibt? Als es eindunkelt erleuchtet unsere Stube im Blaulicht der Streifenwagen – aus dem Fernseher, wo sich die Hauptaktivität der Polizei abzuwickeln scheint. 

Ach, Lockdown – Schmockdown, sagt Sivan. Die Drohungen sind zwar schon etwas beängstigend, aber etwas Nervenkitzel macht die Silvesterfeier im Untergrund erst richtig spannend. Am Abend fährt sie ohne grosse Umstände nach Tel-Aviv, wo sie mit Freund im Dunkel der Nacht auf schnellen Elektro-Scooters zu Bekannten düst. Der Freund hat unverfrorenerweise sogar noch eine Schüssel Salat dabei. Und die Champagnerflasche, eingewickelt in mehrer Tücher, steckt tief in der Tasche. Wie sie das wohl der Polizei erklärt hätten? Aber die Sorgen waren umsonst. Die Feierlichkeiten gehen unentdeckt über die Bühne. In den frühen Morgenstunden sausen sie unbemerkt wieder zurück. Es ist alles wie gehabt, nur auf etwas kleinerer Flamme. Und einmal sogar ohne Story im Instagram, für den Fall der Fälle.