Keine Sorge, liebe Leser, hier erwartet sie nicht ein weiterer Vorschlag für ein Heimtraining bei Ausgangssperre. Viel mehr geht es um Sport im Fernunterricht und um die Bewältigung einer Abschlussprüfung in skurrilen Zeiten. Und ja, der Beitrag ist etwas länger, aber bestimmt müssen sie ja in den nächsten Stunden nirgendwo hin, es sei denn, sie seien Arzt, Pflegepersonal oder arbeiten an der Entwicklung eines Impfstoffs.
Sport ist an den israelischen Oberstufen ein offizielles Abschlussprüfungsfach. Für das „Bagrut“ (Abitur) müssen die Schüler nebst anderen Disziplinen auch drei Kilometer Laufen. Lianne ist aber keine sportliche Person – ihr Körper befindet sich in einem Ruhemoment, das nur schwer in Bewegung zu bringen ist. Deshalb beschäftigt sie die Frage, wie diese Lauf-Nuss zu knacken ist, schon seit geraumer Zeit. Eigentlich schon seit Anfang Oberstufe taucht das Thema bei uns zu Hause sporadisch auf – nur um dann schnellstens wieder unter den Teppich gewischt zu werden. Einst noch zuversichtlich, entwarf ich für Lianne ein grosszügiges zweijähriges Trainingsprogramm, später dann ein etwas intensiveres für einige Monate. Aber all das Gerede fruchtete nichts und eines Tages stand das befürchtete Prüfungsdatum – der 25. März – unmittelbar bevor.
Wenige Wochen vor dem Termin sah Lianne nun doch noch ein, dass sich das unliebsame Thema durch Verdrängen wohl nicht beseitigen lassen würde und raffte sich widerwillig dazu auf, etwas für ihre Fitness zu tun. Sie zog sich sportlich-modisch an, stimmte die Farbe des Laufshirts auf die Socken ab, schminkte sich sorgfältig und als das Outfit perfekt war, zog sie los. Aber schon nach wenigen Hundert Metern ging ihr die Puste aus und sie fand bestätigt, was sie schon lange wusste: dass Hopfen und Malz verloren ist. Nach Luft ringend verfluchte sie die Lehrerin, die Schule und den Sport im Allgemeinen. Sie kann, will und wird nicht laufen! Eher lernt ein Elefant Seiltanzen, als dass ein unverbesserlicher Stubenhocker in drei knappen Wochen zum Läufer wird.
Nun ist Lianne gerade volljährig geworden und somit selbständig krankenversichert (das bedeutet, dass wir, ihre Eltern, keinen Zugriff mehr auf ihre Daten haben, aber weiterhin die Versicherungsraten berappen müssen, solange sie noch zur Schule geht).
Die erste grandiose Aktivität, die sich Lianne als selbständiges Krankenkassenmitglied leistete, war das Erlügen einer Achillessehnenentzündung und das Erbetteln eines Attests von unserem Familienarzt. Der Arzt stellte das gewünschte Schreiben grosszügig aus, ohne die Patientin zu begutachten. Zwar hatte die Beglaubigung einen Haken, denn sie war auf einen Monat befristet, aber immerhin befreite sie Lianne vom ersten Prüfungstermin. Für den Wiederholungstermin, der einen Monat später drohte, würde sie sich rechtzeitig auch noch etwas einfallen lassen. Kommt Zeit, kommt Rat!
Kommt Corona! Zwar wird die Erde nicht kurz vor der Prüfung von einem Meteoriten aus der Bahn geworfen, wie sich das Lianne insgeheim gewünscht hatte – aber ein fast so fatales Virus zwingt uns momentan, sämtliche Pläne und Aktivitäten aufs Abstellgleis zu stellen. Die Zukunft ist bis auf Weiteres storniert. Somit auch alle Abschlussprüfungen. Hurra! Endlich darf Lianne offiziell faulenzen, bis sie nach Verwesung stinkt. Ja, natürlich ist die ganze Situation nicht gerade rosig und dass sie ihre Freunde nicht mehr treffen kann und eigentlich so schnell wie möglich die Schule hinter sich lassen und die Welt entdecken wollte, weicht nun einer abgrundtiefen Enttäuschung. Aber immerhin, die Laufprüfung scheint erst einmal aus der Welt geschafft zu sein. Halleluja!
Ab sofort brilliert Lianne in der Disziplin „Auf-dem-Sofa-liegen“. Diese unterbricht sie nur ab und zu, um Knabbernachschub aus der Küche zu besorgen. Für kurze Zeit ist ihr Leben fast perfekt.
Aber nach wenigen Tagen im Schockzustand rauft sich die Lehrerschaft zusammen und richtet sich für den Fernunterricht ein. Und sie nehmen es ernst: Nach zwei Tagen Fernunterricht beklagt sich Lianne, dass sie in den letzten 48 Stunden mehr Arbeiten geschrieben habe als in den vergangenen drei Monaten! Dann schiesst die Sportlehrerin mit einer besonders unverschämten Idee den Vogel ab: Sie schickt Lianne ein detailliertes einmonatiges Trainingsprogramm und fordert sie auf, ihr die mit der Fitness-App Strava aufgezeichneten Laufübungen online zur Kontrolle zu schicken. Was für eine Hexe! Ist es nicht genug, dass uns dieses verflixte Virus das Leben zur Hölle macht? Nicht einmal auf dem eigenen Sofa lassen einen die Lehrer in Ruhe!
Zusätzlich soll Lianne als Strafaufgabe für drei im Januar geschwänzte Sportstunden zwanzig Burpees (Liegestützsprünge) machen und eine Vidoaufnahme davon der Lehrerin schicken. Ach, wenn es nur das ist – kein Problem! Gegen ein angemessenes Entgelt ist die sportliche Schwester bereit, die Aufgabe für sie auszuführen. Immerhin ist Sivan gleich gross und hat ähnliches Haar. Dass sie einiges dünner ist, wird mit drei übereinander angezogenen dicken Trainingsanzügen ausgeglichen. Ihre Burpees sind perfekt. Sie wird nur von hinten gefilmt und hopp, schon ist das Filmchen im Kasten.
Was die Aufzeichnungen des Lauftrainings anbetrifft – was läge näher als mich dafür einzuspannen? Schliesslich gehe ich eh dreimal in der Woche laufen und es wäre doch unverzeihlich, diesen Heimvorteil nicht zu nutzen. Meine vehemente Absage akzeptiert Lianne zwar enttäuscht aber vielleicht auch etwas erleichtert, denn der Gedanke, sich mehrere Male von ihrem Handy trennen zu müssen, lag ihr eh schwer auf dem Magen.
Endlich schafft es eine Freundin, Lianne zum ersten Training zu motivieren. Aber die Laufrunde wird – wie nicht anders zu erwarten – eine Katastrophe. Irgendwie vermasselt Lianne die Aufzeichnung mit der App und obwohl sie mindestens zwanzig Minuten mit der Freundin in der Nachbarschaft umher schlurft, werden davon nur acht Minuten aufgezeichnet. Sie ist am Boden zerstört! Wie konnte es nur passieren, dass sich wertvolle Trainingsminuten im Nichts auflösten?! So konnte es nicht weitergehen! Eine handfestere Lösung musste her.
Not macht bekanntlich erfinderisch. Lianne hat zwar müde Beine, aber ein kluges Köpfchen. Für das zweite Training steigt sie mit Handy ins Auto, stellt die FitnessApp an – und fährt mit 8 km pro Stunde einmal ums Quartier. Ha! Das perfekte Training ist in der Tasche! So scheint es immerhin, aber bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass die Aufzeichnung eine seltsame Zickzackform hat. Hmm, ob die Lehrerin das merken würde?
Die Rettung kommt vom Himmel, denn in diesen Zeiten ist auf höhere Gewalt Verlass: Eine Ausgangssperre! Ab sofort dürfen wir uns nur noch in einem Radius von 100 Metern von der eigenen Wohnung bewegen. Wenn das nicht eine göttliche Eingebung ist! Mit den neuen Massnahmen scheint die Sportprüfung endlich in unerreichbare Ferne zu rücken.
Lianne liegt wieder auf dem Sofa. Aber mir scheint, dass diese Prüfung nicht totzukriegen ist. Wenn eine Sehnenentzündung und ein Corona-Virus ihr noch nicht den Garaus gemacht haben, vermute ich, dass sie demnächst in irgendeiner Form wieder den Kopf heben wird. Ich bin gespannt...