Ich gebe zu, ich bin ein ziemlicher Freak meines Smartphones. Ich liebe die Möglichkeiten, die es mir bietet. Mein Tag beginnt mit einem Blick in die Wetter-App, damit ich weiss, was ich anziehen soll. Im Morgenstau lese ich mein aktuelles Buch auf der Kindle-App (bitte nicht der Verkehrspolizei verraten). Während im Büro der Computer hochfährt, lebe ich auf Instagram mein Fotografier-Hobby aus. Nachmittags und abends eile ich von Termin zu Termin, an welche mich meine Kalender-App geflissentlichst erinnert und am Abend lasse ich den Tag auf dem Sofa beim Lesen deutschsprachiger Medien meiner Wahl über Facebook ausklingen. Beim Joggen gibt mir die Running-App gewissenhaft Bescheid, wieviele Kilometer ich schon gelaufen bin und die dazu gehörende Navigations-App sorgt dafür, dass ich beim Geländelaufen nicht verloren gehe. Weil ich oft alleine laufe, verfüge ich ausserdem über die Notfall-App des Magen David Adom, des israelischen Notfallrettungsdienstes. Im Falle eines Herzinfarktes, Schlangenbisses oder gar Überfalls muss ich nur noch mit letzten Kräften den Notfallknopf drücken und schon sendet die App meinen Hilferuf, zusammen mit meinen GPS-Koordinaten und meinen gesamten medizinischen Daten an die nächstliegende Notfallstation. Selbstverständlich hat das Smartphone eine fantastische Kamera, die immer dabei ist und mit welcher ich die schönen Momente in meinem Leben einfangen und mit der Instagram-Community teilen kann.
Das sind nur einige der Vorteile, die mir mein Smartphone bietet und natürlich darf ich auch WhatsApp nicht unerwähnt lassen: Mit einem Sohn im Militär und einer Tochter, die in Asien herumtrampt, bin ich mit dieser App immer bestens über die aktuellen Geschehnisse vom Gaza-Streifen bis nach Kambodscha informiert. Dass die Nachrichten von der Kriegsfront und aus Asien aufgrund ihrer Dringlichkeit oder wegen der Zeitverschiebung vor allem nachts eintreffen, finde ich nicht weiter schlimm. Ich habe mich schnell daran gewöhnt, nur noch mit Unterbrüchen zu schlafen. Das hat auch den Vorteil, dass ich meine Sechzehnjährige über WhatsApp rund um die Uhr unter strengster Kontrolle habe.
All diese Vorteile weiss ich sehr zu schätzen, aber natürlich bin ich nicht süchtig und im Gegensatz zu der jüngeren Generation ist mir immer klar, wo die Grenze zwischen virtueller und realer Welt verläuft. Ausserdem lasse ich das geliebte Stück auch ab und zu absichtlich in der Schublade, zum Beispiel wenn ich in der Kantine essen gehe und neuerlich im Kino schaffte ich es, zwei Stunden nicht auf das Display zu schauen – bis auf ein kurzes Update während der Pause. Manchmal nehme ich mir auch fest vor, wieder einmal einfach ein Buch zu lesen und ab und zu schaffe ich das sogar für etwa zwei bis drei Seiten. Dann zappe ich wieder im Facebook herum.
Ich habe keine Ahnung, wie ich mein Leben vor dem Zeitalter des Smartphones über die Runden gebracht habe – aber diese Woche bekam ich Gelegenheit, mich daran zu erinnern. Das geliebte Gerät fiel nämlich zu Boden und gab den Geist auf. Kein Kratzer, Splitter oder Bruch wiesen auf einen Schaden hin und wie ich den Piepstönen entnehmen konnte, gingen weiterhin sehr wichtige Nachrichten ein – aber der Bildschirm blieb schwarz.
Natürlich war ich zuerst aufgebracht und sogar etwas schockiert: Wie lange würde es dauern, das Gerät zu reparieren? Und würde dies überhaupt ...? – diesen Gedanken wage ich gar nicht zu Ende zu denken. Nachdem ich mich vom ersten Schock erholt hatte, beschloss ich aber, aus der Not eine Tugend zu machen und die gerätelose Zeit jetzt einfach so bewusst wie möglich zu erleben. Das nennt man Achtsamkeit. Es soll heutzutage sogar Kurse, Übungen und Meditations-Wochenende geben, um achtsames Leben zu lernen. Ich bekomme meinen Kurs nun gratis und franko.
Die Kinder, wo auch immer sie sind, können mir jetzt einfach einmal gestohlen bleiben. Irgendwann muss man sich ja mal abnabeln. Beim Laufen habe ich keine Ahnung, welche Distanz ich zurückgelegt habe und wo ich gerade bin und finde es fantastisch, einfach weiter zu laufen und verloren zu gehen. Ohne die Nachrichten, die ich sonst über Facebook verfolge, bessert sich meine Laune innert Stunden. Der Kalender? Ach was, ein paar Arzttermine weniger können nur von Vorteil sein. Auch das sechzehnjährige Töchterchen weiss die Tage ohne Kontrolle zu nutzen und sie lässt sich ohne mein Wissen einige zusätzliche Piercings verpassen. Das gibt mir Anlass zu denken, ob wir unsere Beziehung vielleicht auch sonst über die üblichen WhatsApp-Nachrichten hinaus erweitern sollten.
Abends sitze ich auf dem Sofa und – lese. Seitenweise und ohne abgelenkt zu werden. Dass dabei ab und zu die Finger zucken, wird sich mit der Zeit wohl geben.
Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
Samstag, 26. Mai 2018
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4 Kommentare:
Du bist auf Instagram... ? Wie kann ich dich abonnieren?
Herzliche Grüsse
Sibylle
Liebe wegwunder, ich habe dich soeben auf instagram gefunden. Schau mal nach. Schöne Fotos!
Dir fehlt ganz klar noch die (eine der vielen) Meditations-App. ;-)
... gefunden, so schön!
Herzliche Grüsse
Sibylle
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