Samstag, 30. September 2017

Yom Kippur

Am 10. Tag des hebräischen Monats Tischrei, der dieses Jahr auf diesen Samstag fällt, feiern die Juden Yom Kippur, den „Tag der Sühne“, der mit Fasten und Beten begangen wird. Bereits am Vorabend, am 9. Tischrei, kommt alles Leben in Israel zum Stillstand. Niemand arbeitet, der private sowie auch der öffentliche Verkehr liegen lahm. Die streng religiösen Juden benützen keine elektrischen Geräte und zünden kein Licht an. Sobald es dunkel wird (drei Sterne müssen am Himmel sichtbar sein) ergattert jeder rechtzeitig einen sicheren Parkplatz, der Verkehr hält ein und dann findet sich bis am nächsten Abend kein motorisiertes Fahrzeug mehr auf der Strasse. Die Übertragungen im Fernsehen und Radio werden eingestellt. Kinder erobern mit Rädern oder Rollschuhen die autoleeren Fahrwege. Dann trifft man sich in Scharen auf der Strasse und in oder vor der Synagoge. Da man nicht arbeiten soll/darf, nicht kochen, anrichten, wegräumen muss und man nirgendwo hinfahren kann, hat plötzlich jedermann unendlich viel Zeit zum Herumstehen und Plaudern. Die Jugendlichen aller Jahrgänge treffen sich spätabends im Dorfzentrum und verbringen dort die Nacht mit Gesprächen und Gesellschaftsspielen.

Mir ist Yom Kippur der liebste Feiertag von allen. Der jüdische Versöhnungstag hat einen ganz besonders faszinierenden Zauber. Obwohl ich selber säkular bin, färbt die spirituelle Stimmung an diesem Tag, an welchem die Juden ihre Sünden bereuen und um Vergebung bitten, sogar auf mich ab.

Unser Haus ist nicht religiös und unsere Kinder und ihre Freunde wiederspiegeln die religiöse Vielfalt der israelischen Gesellschaft: Lianne, die Sechzehnjährige, ist noch nicht gefestigt und probiert Verschiedenes aus. Während sie sich sonst sehr säkular gibt und über die religiöse Gehirnwäsche an ihrer Schule wettert, unterliegt sie am Versöhnungstag dem gesellschaftlichen Zwang ihrer Freundinnen und fastet. Dabei sind für sie aber nicht etwa 24 Stunden ohne Essen und Trinken die grosse Herausforderung, sondern – unglaublich und sensationell – sie rührt aus freier Wahl ihr Handy 24 Stunden nicht an.

Kaum ist der Feiertag angebrochen, versammeln sich die Kinder, die sich sonst tagelang mit Fernsehen und Handies in ihren Zimmern verschanzen, in der Stube. Lianne und der Gatte spielen Backgammon, ich lese und höre Musik (heute verboten, deshalb „leise“, bittet Lianne, „die Nachbarn hören mit“) und geniesse die TV-lose Zeit mit der Familie. Itay hingegen hält nicht viel vom Fasten, schliesslich ist er Soldat und möchte an seinem Urlaubswochenende Kräfte tanken, denn er muss am Sonntag wieder für 14 Tage einrücken. Er trinkt schon das zweite Bier und isst einen Hamburger mit Fleisch und Käse (erst recht verboten). Dann trudelt Sivan mit zwei Freundinnen ein, von denen die eine die religiösen Gesetze einhält, weswegen ich die Musik ausschalte, während die andere Hunger hat und ebenfalls einen Hamburger bekommt. Aus Rücksicht auf die Freundin isst sie diesen aber in der hintersten Küchenecke. Sivan selbst nimmt die religiöse Diversität ihrer Freundinnen locker und hat sich auch mehr als eine Stunde nach Einbruch des Fastentags noch nicht entschlossen, ob sie heute fasten will. Sie lässt es wohl darauf ankommen, was ihr an Essbarem bis am nächsten Abend angeboten wird.

Als Lianne am Abend aufbricht, um ihre Freunde im Dorfzentrum zu treffen macht sie eine ganz neue Erfahrung: Wie, wann und wo trifft man Freunde, wenn man kein Handy zur Verfügung hat? „Geh einfach und mach dir keine Sorgen“, sage ich zu ihr, „du wirst schon sehen, an Yom Kippur geschehen Wunder“.

Sonnenuntergänge haben immer etwas spritiuell Inspirierendes...

Freitag, 22. September 2017

Strandlilien

Schon öfter habe ich über die Laufrunden mit meiner Laufgruppe im Naturreservat der Hasharon-Küste geschrieben (zum Beispiel hier und hier). Heute möchte ich einmal die Bilder sprechen lassen. Die Strandlilien blühen!




Bei Sonnenaufgang

Und etwas später

Zum Verschnaufen, Sinnieren und Staunen gibt es auch einige spektakuläre Sitzgelegenheiten. Bitte nehmen Sie Platz!






Sonntag, 17. September 2017

Soldatenwäsche

Wochenende. Ausruhen. Pause machen. Getriebe herunterfahren. Entschleunigen. Ein bisschen aufräumen, ein bisschen kochen. Zu Hause sein. Auf dem Sofa liegen. Lesen. Musik hören. Zeit für Gespräche. Aufatmen. Energie tanken. Die Mädchen sind irgendwo. Itay der Soldat hat keinen Urlaub.

Es ist Freitagnachmittag, Eyal und ich hängen auf den Sofas herum. Ruhe im Haus. Eyal versucht beim Zeitung lesen die Augen offen zu halten, ich lese ein Buch.

„Vielleicht gehen wir ein bisschen ans Meer?“ schlägt Eyal vor.

„Ja, gute Idee“, sage ich „Oder mit den Mädchen ins Kino“.

„Wir könnten Freunde zum Nachtessen einladen. Einige haben wir schon lange nicht mehr getroffen.“ sinniert Eyal.

Ja, wir sollten irgendetwas tun, ständig sitzen wir nur hier herum. Sogar die Yoga-Stunde heute morgen habe ich geschwänzt.

„Komm, fahren wir nach Tel-Aviv, zum alten Hafen“, spintisiert Eyal weiter und wird in seiner Fantasie immer übermütiger, aber nur solange er sich nicht vom Sofa erheben muss.

Lauter gute Ideen. Aber man müsste aufstehen. Etwas Anständiges anziehen. Draussen brütet die Sonne bei 30 Grad. Hier drin, mit Klimaanlage, ist es hingegen sehr angenehm. Ich lese weiter. Nur noch 50 Seiten von den 600, dann habe ich das Buch geschafft. Eyal fallen die Augen zu, er schlummert ein, sein Ideenarsenal hat sich wohl erschöpft.

Das Telefon klingelt. Endlich meldet sich Itay, zu dem wir wie immer die ganze Woche keinen Kontakt gehabt haben. Er hat nur eine Stunde frei, bis 18 Uhr.

Eyal und ich springen wie von Wespen gestochen von den Sofas. Kaum sind fünf Minuten vergangen und schon sitzen wir angezogen, frisch und munter im Wagen, unterwegs zu der Basis. Soldatenwäsche abholen, die wir morgen wieder sauber zurückbringen werden! Auch eine Tätigkeit.

Freitag, 8. September 2017

Beim Friseur


Liebe Leser, ich muss ihnen etwas gestehen: Ich bin gar nicht blond. Auch nicht dunkelblond. Nicht einmal brünett! Mein Haar ist ganz einfach schlohweiss – und gefärbt!
Warum und wann ich mit dem Färben angefangen habe, entzieht sich meiner Erinnerung. Es gehört seit Jahren einfach zu meiner Routine. Einst färbte ich mein Haar blond, als ich noch jünger war, dann in allen Blond- und Brauntönen, die die verschiedenen Färbpaletten zu bieten haben: Sonnenblond, aschblond, dunkelblond, hellbraun, rehbraun, caramelbraun undsoweiter. Über all der Färberei geriet mein natürlicher Haarton in Vergessenheit. Unterdessen ist der Tag, an dem ich mir eingestehen muss, dass mein Haar unter all der Farbe ganz einfach weiss ist, schon lange eingetroffen.
Nun, eigentlich strebe ich nicht nach einer jüngeren Version von mir selbst, aber – wie wird man die Farbe jetzt los? Monatelang mit grau nachwachsendem Ansatz aufzutreten würde mich schon sehr viel Überwindung kosten. Dazu kommt das absolute Unverständnis des Gatten und der Kinder für den „Grossmutter-Look“. Kurzum, ich sitze in der Färbe-Falle.
Aus Kosten- und Zeitgründen habe ich bis heute jeweils im Eigenverfahren gefärbt. Das ist nicht nur billiger sondern auch zeitsparend, denn ich kann, während die Farbe einwirkt, auch noch Wäsche verräumen oder den Boden fegen und nach nur einer halben Stunde ist wieder etwas Hausarbeit erledigt und ich sehe aus wie aus dem Ei gepellt. Leider hält die frische Farbe jeweils nicht lange, nach einer Woche fängt sie schon an zu verbleichen, die schönen Brauntöne werden zu einem undefinierbaren Gelb und spätestens nach zwei drei Wochen gesellt sich auch noch der weiss spriessende Ansatz dazu.
Vor einigen Tagen habe ich mich endlich vom Friseur, der schon seit Jahren den Locken meiner Töchter den Garaus macht und für ihre glatten Haare verantwortlich ist, zu einem Färbversuch in seinem Haarstudio überreden lassen. Der junge Mann ist ein sehr talentierter Verkäufer und als ich neulich wegen Lianne bei ihm vorbeischaute, versprach er mir eindringlich, dass ich mit einer professionellen Koloration unvergleichlich viel besser aussehen würde. Das tönte vielversprechend und schon stand der Termin fest. Nicht genug also, dass der verkaufsbegabte Haarkünstler einen mit dem Geld meiner Töchter finanzierten flotten Sportwagen fährt – jetzt werde ich auch noch für sein Benzin blechen.

So treffe ich also nach der Arbeit mit schweizerischer Pünktlichkeit zum vereinbarten Zeitpunkt bei ihm ein. Nun, wir befinden uns in Israel und so muss ich zuerst fast eine halbe Stunde warten, obwohl wir ja einen Termin vereinbart haben – und bin schon ziemlich genervt, bevor mein „Haar-Makeover“ überhaupt beginnt.
Die Prozedur ist, wie sich bald herausstellt, eine ziemlich unangenehme Tortur: Die chemischen Färbmittel stinken ätzend (viel mehr als diejenigen, die ich zuhause verwende!), sie treiben mir die Tränen in die Augen, die Kopfhaut juckt. Dann muss ich beinahe zwanzig Minuten mit dem Kopf rücklings im Haarspülbecken liegen und brauche danach fast einen halben Tag, bis ich wieder aufrecht stehen kann. Ausserdem mag ich es nicht, die Zügel nicht selbst in der Hand zu haben und befürchte, dass sich mein Haar unter der beissenden Substanz hellorange, auberginenviolett oder silbergrau färbt.
Nun, immerhin sieht der muskulöse Haarfachmann gut aus, so dass ich während der zweistündigen Tortur im Spiegel etwas zu betrachten habe. Und ausserdem – wann genau ist es zuletzt vorgekommen, dass ein junger Mann zwei Stunden um mich herumtänzelt? Ich versuche nicht daran zu denken, dass ich ihn dafür bezahle und geniesse die Aufmerksamkeit und die charmant eingeflochtenen Komplimente. Wobei – für die horrende Summe, die ich dann schlussendlich hinblättern muss, hätte er gerne noch etwas mehr bieten können...

Als mein Haar dann endlich ein letztes mal gespült und trockengeföhnt ist, bin ich angenehm überrascht. Das Resultat lässt sich sehen: Mein Haar glänzt wie das eines jungen Mädchens und das helle Braun sieht so natürlich aus, wie es wohl seit dem Tag meiner Geburt nicht mehr war.

Also, Haarproblem wäre gelöst. Nun bleibt nur noch das Faltenproblem.

Dienstag, 5. September 2017

Fundstücke

Über die Vorzüge der digitalen Ausleihplattform Onleihe habe ich in einem früheren Beitrag schon berichtet. Das grossartige an dieser kostenlosen Online-Bibliothek ist, dass ich aufs Geratewohl Stöbern und unbekannte Werke und Autoren „beschnuppern“ kann, an die ich mich mit grosser Wahrscheinlichkeit nie heranwagen würde, wenn ich das Buch kaufen oder auch nur von der Bibliothek nach Hause tragen müsste. So habe ich im Netz schon öfters mir unbekannte Autoren aufspüren können, die mich begeistern. Und wenn sich nach einigen Seiten herausstellt, dass mir die Lektüre doch nicht zusagt, kann ich die Wahl einfach wieder verwerfen.

Ausserdem habe ich bei Onleihe die Hörversion entdeckt. Nun lasse ich mich beim Autofahren über die Lautsprecher der Audioanlage meines Wagens mit professionell vorgetragener Lektüre berieseln. So macht es mir nichts aus, auch einmal etwas länger im Stau zu stehen. Gibt es etwas Schöneres als ein gutes Buch zu hören, ohne von irgendjemandem oder irgendetwas gestört zu werden? Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, im Wagen einfach an einer unauffälligen Stelle am Strassenrand einige Stunden stehenzubleiben und ein Buch in Ruhe zu Ende zu hören. Wie lange es wohl dauern würde, bis mich jemand sucht? Diese Idee habe ich zwar noch nie umgesetzt, aber es kommt vor, dass ich nach der Ankunft im Büro oder zuhause jeweils noch einige Minuten auf dem Parkplatz im Wagen sitzen bleibe, bevor ich mich überwinden kann, den Vorleser zum Schweigen zu bringen, in die Realität zurückzukehren und mich den Anforderungen des Alltags zu stellen.

In diesen Tagen höre ich „am Beispiel meines Bruders“ von Uwe Timm. Der Autor spürt in diesem Buch seinem älteren Bruder nach, der als deutscher Soldat im zweiten Weltkrieg in Russland gefallen ist. Er schreibt über den Einfluss, den dieser Bruder auf ihn und in seiner Familie auch Jahre nach seinem Tod hatte, wie er als Vorbild, als Schatten, als Über-Bruder über dem jungen Uwe Timm schwebte, obwohl er ihn selbst ja kaum kannte. Ausserdem setzt er sich mit dem Verhalten der Deutschen und seiner eigenen Familie – dem Vater, dem Bruder – während dem Krieg auseinander. Warum hat man während des Krieges weggeschaut und danach so lange schweigen können, ist die Hauptfrage, die im Hintergrund dieses feinfühlenden Buches steht. Und die meines Erachtens heute wieder äusserst aktuell ist.

Uwe Timms Gedanken sind sehr interessant und vor allem beeindruckt mich seine ruhige, fliessende, einfache und doch sehr eindrückliche Sprache. Dieses Buch ist eine sehr erfreuliche und gelungene Entdeckung und gerne werde ich noch weitere Bücher von diesem Autor lesen.

Und hier noch einen Fund aus dem Internet, den es sich zu erkunden lohnt: das Web-Comic-Bauprojekt das Hochhaus. Die Berliner Zeichnerin und Architektin Katharina Greve baute im Internet ein Hochhaus und füllte es mit humorvollen Kommentaren zu alltäglichen Themen. Die Comics in einfacher Sprache sind witzig und die vielfältig miteinander verbundenen Episoden ergeben am Schluss ein ironisches Gesamtbild der aktuellen Lage. Hier ein Einblick in zwei der insgesamt 102 Stöcke...