Mittwoch, 12. Oktober 2022

Das Passwort zum Hamsterrad




Die Flugtickets buchten wir im April. Damals schien der Urlaub Ende September nicht absehbar. Lange Monate des Wartens und der Vorfreude vergingen im Schneckentempo. Die Sommermonate waren arbeitsreich. Ich sass am Schreibtisch, während viele meiner Mitarbeiter wegfuhren und braungebrannt wiederkamen. Mit einer Vollzeitstelle, vielen Überstunden und Hausarbeit am Wochenende bleibt nicht viel Freiraum für Ausbrüche aus dem Alltag. Oft habe ich das Gefühl, dass mein Leben aus Schlafen und Arbeiten besteht. Ich finde nicht einmal Zeit, den verdienten Lohn zu verprassen und zum Glück auch kaum Zeit für die Frage nach dem Sinn.

September. Die Reisedaten rückten näher, der Urlaub wurde greifbar, die Vorfreude stieg. Als die Tage vor der Reise an den Fingern einer Hand abzählbar waren, verbrachte ich schlaflose Nächte vor Freude und Aufregung.

Dann endlich, kaum zu glauben, ging es los. 

Weitläufige Flughäfen, Menschen in seltsamer Kleidung, unbekannte Städte. Fahrten durch unbetretene Landschaften. Unendlicher Wald in Herbstfarben. Fremdartige Dörfer, seltsam gebaute Häuser. Ungewohnte Schriften. Seen, Flüsse, felsige Strände. Versteckte Buchten, glitzernde Sonne im Meer. Farbige Märkte. Eine unbekannte Sprache, offenherzige Menschen. Fremde Speisen, die entdeckt werden wollen. Hotels, zu weiche Betten, unbequeme Kissen. Aufstehen am Morgen und in den Tag hinein leben. Familie, die ich lange nicht mehr gesehen habe. Gute Laune, Ferienstimmung. Geburtstagsfeiern, unser Hochzeitstag. Zeit haben füreinander.


Mit näher rückendem Ende des Urlaubs verging die Zeit immer schneller. Viel zu plötzlich wieder der Rückflug. Am Flughafen der Sohn, der nach einem halben Jahr in Mittelamerika wieder zu Hause ist. Gäste zum Laubhüttenfest.

Unzählige neue Eindrücke, Erlebnisse, Abenteuer. Tage des Staunens und Geniessens, ohne Blick auf die Uhr.

Ich kann nicht behaupten, dass ich mich keinen Moment um die Arbeit gekümmert hätte. Ab und zu überflog ich die E-Mails auf dem Handy, die wichtigsten beantwortete ich. Offensichtliche Krisen gab es keine und den grössten Teil der Zeit konnte ich wirklich abschalten. Innehalten von allem, das mich in normalen Zeiten fast rund um die Uhr beschäftigt.


Aber irgendwann ist er da, dieser Moment. Der Moment, in dem ich mich wieder vor den Computer setze und mich einlogge.

Ich zögere einen Augenblick. Muss das sein? Nie ist mir diese Passworteingabe schicksalshafter vorgekommen. Die Diskrepanz zwischen allen Raum einnehmendem Alltagstrott und dem grenzenlosen Abenteuer Urlaub ist gigantisch und auffälliger denn je.

Dann gebe ich das Passwort ein. Das Hamsterrad setzt sich in Bewegung.



Donnerstag, 8. September 2022

Russische Elefanten



Vor einigen Wochen – vielleicht sind es auch schon Monate – habe ich mir Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ auf den Kindle geladen. Sehr weit bin ich unterdessen mit dem Lesen dieses 800-Seiten-Wälzers noch nicht gekommen. Die Sätze sind lang, die Personen mit ihren russischen Namen – teils mit Spitz- oder Kosenamen bezeichnet – vielzählig und wer nicht am Ball bleibt und in einem durchliest, ist bald verwirrt. Es ist kein einfaches Unterfangen, diesen Roman zu lesen, aber etwas Konzentrationsübung kann in unserer flüchtigen Welt nur von Vorteil sein. Doch trotz allen guten Vorsätzen war dieses Projekt für mich schon sehr nahe am Scheitern – bis ich gestern zufällig auf den Film „Die Frau mit den 5 Elefanten“ gestossen bin.

"Die Frau mit den 5 Elefanten" ist die Übersetzerin Swetlana Geier. Die fünf Elefanten sind die fünf grossen Romane von Fjodor Dostojewskij: „Verbrechen und Strafe“, „Der Idiot“, „Böse Geister“, „Die Brüder Karamasow“ und „Ein grüner Junge“.
Swetlana Geier kam 1923 als einziges Kind russischer Eltern in Kiew zur Welt. Sie besuchte eine einfache Schule und nahm auf Veranlassung der Mutter Privatunterricht in Deutsch und Französisch.
Im September 1943 verliessen Swetlana und ihre Mutter Kiew und wurden in Dortmund in ein Ostarbeiterlager interniert.
Nach Kriegsende studierte Swetlana in Freiburg Germanistik und Vergleichende Sprachwissenschaft. Sie heiratete, wurde Mutter zweier Kinder, wurde geschieden und starb 2010, als Oberhaupt einer grossen Familie mit zahlreichen Enkeln und Urenkeln, in Freiburg.


Doch während man sich unter der genialen Übersetzerin dieser Klassiker der Weltliteratur vielleicht eine elegante Dame oder eine zerstreute Professorin vorstellen würde, war Swetlana äusserlich eine bucklige alte Grossmutter, die ein einfaches – heute würde man sagen nachhaltiges – Leben führte. Sie lebte und starb in einem alten „Grossmutterhaus“, das mit seinem Keller, mit den Einmachgläsern und der altmodischen Küche ein Überbleibsel aus einer anderen Welt zu sein schien. Wenn sie nicht las oder übersetzte, kaufte sie frisches Gemüse auf dem Markt, kochte für die Enkelkinder und bügelte ihre weissen Schürzen. Sie war eine Frau, die sich Zeit nahm – für alles. Fürs Teetrinken, fürs Gemüse rüsten, fürs Bleistiftspitzen, und natürlich für die Sprache und das Übersetzen, ihre grosse Leidenschaft.

Das ist wohl der zentrale Grund für die Magie und Sehnsucht, den dieser Film bei den Zuschauern erweckt. Alles an Swetlana schien bedächtig und aufmerksam, die Lebensumstände schlicht und unkompliziert. Aber sie war brillant und faszinierte gerade aufgrund dieses Gegensatzes von Brillanz und Einfachheit. Ihre grenzenlose Liebe zur Sprache ist im Film allgegenwärtig. Das Spiel mit der Sprache lässt ihr Gesicht aufleuchten und ihre Augen strahlen. Der Film macht auch deutlich, wie wichtig ihr die Musikalität der Sprache war. Die Werke Dostojewskijs mussten für sie Symphonien gewesen sein. Zum Korrigieren liess sie sich ihre Übersetzung vorlesen. Sie musste den Text hören, sonst wäre sie wohl beim Selber lesen in den Buchstaben verloren gegangen.

Dass die Übersetzungsarbeit Silbe für Silbe und Wort für Wort mündlich diktiert und per Schreibmaschine getippt stattfand, war angesichts dieser Person fast zu erwarten und ist doch gleichzeitig fast unfassbar.

Der Film liess mich elektrisiert zurück und verschaffte mir einen ganz neuen Blickwinkel auf mein persönliches „Dostojewskij-Projekt“.  Zum Autor Dostojewskij selbst – einem vor zweihundert Jahren in Russland geborenen Menschen – einen Bezug zu finden fällt mit schwer. Aber nun sehe ich bei jedem Wort in der deutschen Übersetzung diese eindrückliche Frau mit ihren lebhaften blauen Augen, höre ihre Stimme beim Übersetzen und das Klappern der Schreibmaschine. So wird jedes Wort zu einem klingenden Erlebnis. Vielen Dank an eine ganz ausserordentliche Frau!

Samstag, 20. August 2022

Diese Woche

Das Töchterchen springt zu steil Kopf in ein nicht sehr tiefes Schwimmbad und taucht blutüberströmt auf. Freunde fahren sie zu uns und der Vater eilt mit der Verletzten in den Notfalldienst, wo die aufgeplatzte Braue genäht wird.

P.S. Das Kind ist 27 Jahre alt.


Unser Menüplan sieht diese Woche etwa so aus:
Müsli mit Mango zum Frühstück
Freekeesalat mit gebratenem Tofu, Fetakäse und Mangostückchen zum Mittagessen
Mango-Eiscreme zum Dessert
Mango „einfach so“ zum Zvieri
Blattsalat mit Mango zum Abendessen
Kurzum: es ist Mangosaison. Nachdem ich am Freitag die letzten fast zehn Mangos für ein Picknick kleingestückelt habe, sind die wohl etwa hundert Früchte unserer Ernte vertilgt.
 



Der Popsänger Zvika Pick, der als einer der musikalischen Schätze Israels galt, stirbt im Alter von 72! Ich habe ihn sehr geschätzt und seine Musik geliebt. Der Tod dieses begabten Sängers ist ein grosser Verlust. Nun höre ich in Trauer seine wunderbaren Lieder.




Unser Sohn Itay feiert 25 Lenze. Nach drei Jahren im Militär und zwei Jahren in der Schweiz bereist Itay in den vergangenen sechs Monaten Mexiko, deshalb feiern wir auch diesen Geburtstag getrennt.
    Sowieso, denke ich, müssten an Geburtstagen eher die Mütter gefeiert werden als die Kinder. Ich bin doch die eigentliche Heldin dieses Tages. Er kann sich jedenfalls bestimmt nicht daran erinnern, wie mir an diesem Tag vor 25 Jahren der Bauch aufgeschnitten wurde und wie er, ein wunderbares Riesenbaby von fast 4.4 kg, unter Ziehen und Dehnen herausgehoben wurde. Die erste Berührung seiner Wange an meiner wird mir auf Ewig in Erinnerung bleiben: Es war die flauschigweichste Berührung, die ich je erlebt hatte! Und sie roch nach Zuckerwatte!
    Itay weiss auch nicht, dass ich kurz nach diesem aufwühlenden Moment tagelang mit schmerzendem Bauch und Achterbahn fahrendem Hormonhaushalt schluchzend durch die Korridore der Geburtenabteilung schlurfte. 
    Zuhause wurde es mit dem gefrässigen unruhigen neuen Baby, das nun zu der nur wenig älteren Schwester hinzukam, nicht einfacher. Es gab viele schöne, besondere, aufregende und lustige Momente mit diesem intelligenten, eigenwilligen und charakterstarken Kind mit seinem umwerfenden Humor, aber auch viele Schwierigkeiten und Sorgen.
    Und jetzt macht das freche Ding mit dem Motorrad Mexikos Strassen unsicher und lässt sich den Geburtstag feiern!

Am Seeufer entlang spazierend behauptete Itay, als ich ihn vor etwa zwei Jahren in Zürich besuchte, dass er nie sesshaft sein möchte, nie eine geregelte Arbeit aufnehmen und nie heiraten werde. Na gut. Wenn er nur zufrieden ist, dann bin ich es auch. Ich wünsche ihm alles denkbar Gute in seinem Nomandenleben und hoffe, dass er vielleicht doch an einem seiner nächsten Geburtstage ein Stück Kuchen mit uns essen wird.



Ein SUP-Gruppenausflug, den ich mir als angenehme Entdeckungsreise entlang versteckter Buchten auf spiegelglattem Meer vorstelle, entpuppt sich im Laufe des Morgens als mehrstündige anstrengende sportliche Aktivtiät mit sehr herausforderndem Wellengang. Na ja, das macht auch Spass, nur anders. Jetzt bin ich Weltmeisterin im Gleichgewichthalten, das soll ja besonders wichtig sein, wenn man älter wird! Dass ich im Moment einige Stunden Entspannung nötiger hätte als sportliche Auszeichnungen, lassen wir mal beiseite. Im Herbst soll das Meer ruhiger werden, dann werde ich bestimmt noch auf meine Kosten kommen.









Samstag, 6. August 2022

FreierMorgenAlleinezuHauseGuteLauneTätigkeiten:



Wissen sie, welche wichtige Geschmackskomponente in gekauftem Holunderblütensirup fehlt? Richtig – Sonne!
Holunderblütensirup muss im Spätsommer mehrere Tage in einem grossen Becken im Schatten vor sich hindümpeln, bevor er aufgekocht und in Flaschen abgefüllt wird. Dann ist Holunderblütensirup greifbar gemachte Sonne in Flaschen. Das ist mir heute morgen klar geworden, unter anderem.


FreierMorgenAlleinezuHauseGuteLauneTätigkeiten:



Gleich nach dem Aufstehen im Garten die reifen Mangos auflesen, die vom Baum gefallen sind

Mango zum Frühstück essen, dazu die gestern gekauften von süsser Reife aufgeplatzten Feigen

Youtube-Playliste hören (gerade so laut, dass man die Luftschutzsirene noch hören würde)

Einen Hefeteig anrühren und Zöpfe formen (nur diesen, nicht irgendeinen)

Lied Everybody's Free von Baz Luhrman’s mehrere Male hintereinander anhören und den Text verinnerlichen

Zum Beispiel

Don't waste your time on jealousy
Sometimes you're ahead, sometimes you're behind
The race is long and in the end, it's only with yourself
Und

Dance, even if you have nowhere to do it but your own living room

Lillet Holunder trinken (4 cl Lillet blanc, 2 cl Holunderblütensirup, etwas Sekt und Sprudelwasser), dazu frisch gebackenen Zopf essen

Sich an den hausgemachten Holunderblütensirup deiner Kindheit erinnern 

Ganz alleine zum Lied It’s Wonderful von Paolo Conte durch die Stube tanzen





Mittwoch, 3. August 2022

Eine Türe weiter

Als ich kürzlich zwei neuen Bekannten erkläre, was und wo ich arbeite, reagieren sie mit offensichtlichem Mitleid und Abneigung. Die Frau, eine Künstlerin (eine richtige, nicht so eine Feierabend-Künstlerin wie ich) rümpft sogar ungeniert die Nase und kann sich ein “Oh wie schrecklich!“ nicht verkneifen. Dabei arbeite ich nicht etwa bei der städtischen Müllabfuhr. Aber – ich bin wohl das, was man sich allgemein unter einem grauen Computermäuschen vorstellt. Meine Arbeit auf dem Gebiet regulatorische Anforderungen für die Zulassung von Medikamenten lässt nur wenig Raum für individuelle Interpretationen, fordert akribisch genaues Detailwissen und konzentrierte Arbeit am Computer. Der stereotypische Beamte, der sich im stillen Kämmerlein in sisyphischer Arbeit mit Dokumentenbergen abschindet, bis er eines Tages vom Stuhl fällt – er könnte tatsächlich, wie ich, an der Zulassung von Medikamenten bei Gesundheitsbehörden gearbeitet haben.

Nun drängt mich nicht das Verlangen, dieses Stereotyp zu widerlegen oder mich zu rechtfertigen. Aber die negativen Reaktionen haben mich doch etwas erschüttert und ich frage mich, wie ICH es eigentlich ertrage, auf einem Fachgebiet zu arbeiten, das andere "schrecklich" finden. 

Tja, was kann man machen, nicht jedermann blüht auf in Zusammenarbeit mit anderen Menschen, mit Schülern, Patienten oder Kunden. Ich persönlich bin und arbeite gerne alleine. Im Alleinsein schöpfe ich meine Kraft. Soziale Kontakte brauche ich nur sehr genau dosiert. Stundenlang alleine und ungestört etwas zu werkeln, dabei Musik zu hören und den Tagträumen freien Lauf zu lassen ist für mich auch in meiner Freizeit der erfüllendste Zeitvertrieb überhaupt. 

Ich habe vielfältige Talente und Hobbys. Aber auch in meiner Kreativität bin ich, ohne mich anzustrengen, akribisch genau. Während meine Geschwister als Kinder die Freizeit in gängigen Jugendbewegungen verbrachten, baute ich meiner fünf Zentimeter grossen Puppe einen Wohnwagen aus Streichhölzern mit detailgetreuer Inneneinrichtung und spannte ein kleines Holzpferdchen vor, damit sie auf Reisen gehen konnte. Als ich vor einigen Jahren einen Töpferkurs besuchte, lachten die Kursteilnehmer über die millimetergenaue Exaktheit meiner künstlerischen Resultate. Obwohl ich meinen Händen freien Lauf gelassen hatte, behaupteten sie, ich besässe ein eingebautes Lineal. 

Der Weg zu meinem „langweiligen“ Beruf hingegen verlief eher kurvenreich. Als ich im zweitletzten Jahr das Gymnasium verlassen wollte, um Schneiderin zu lernen, legten meine Eltern ein kräftiges Veto ein. Sie wollten mir beibringen, etwas Angefangenes zu Ende zu bringen und heute verstehe ich, dass dieses Konzept manchmal seine Richtigkeit haben kann. Mein Wunsch, Schneiderin zu lernen wurde nach der Matura verdrängt von einem diffusen aber chronischen Fernweh und in meiner jugendlichen Verwirrtheit glaubte ich, dass das Studium der Ethnologie die Anwort darauf sein könnte. Ein klägliches Semester lang konnte ich das Gefühl nicht ablegen, eine ziellose und verlorene Studentin unter ziellosen und verlorenen Studenten zu sein. Dann warf ich das Konzept, alles Angefangene zu Ende bringen zu müssen, über den Haufen und beschloss, doch einen kreativen Beruf zu lernen. Aber unterdessen kam zu meinem chronischen Fernweh die Bekanntschaft mit einem jungen Mann aus Israel und schlussendlich konnte mich auch die eben bestandene Aufnahmeprüfung an die Kunstgewerbeschule nicht mehr halten.

In Israel musste ich meinen Lebensunterhalt verdienen und konnte, ohne Ausbildung, ohne Hebräischkenntnisse und ohne Arbeitsbewilligung nicht mehr wählerisch sein. Über einige grandios gescheiterte Versuche als Kellnerin erkämpfte ich mir langsam den Weg in ein geregeltes Arbeitsleben und zu einem Lohn, mit dem ich einen gleichwertigen Beitrag an unser wachsendes Familienbudget beisteuern konnte. Als mir eine Stelle als anzulernende Sachbearbeiterin in einer renommierten pharmazeutischen Firma angeboten wurde, zögerte ich keine Sekunde. Und seither baue ich in sisyphischer Kleinarbeit im stillen Kämmerlein Dokumentenberge ab… 

Nein, so traurig ist es natürlich nicht, auch wenn es so aussehen mag.

Die Jahre in der Firma waren geprägt von vielen verschiedenen Abschnitten, Änderungen und Entwicklungen. Herausfordernde Projekte lösten sich mit langweiligeren Phasen ab. Als unsere Kinder klein waren, passten mir vor allem die gleitende Arbeitszeit und das Verständnis für die Bedürfnisse einer jungen Mutter. Ab und zu brachten mich unausstehliche Mitarbeiter oder einfach der Wunsch nach Veränderung dazu, nach einer anderen Arbeit Ausschau zu halten. Meistens stellte sich dann heraus, dass ich in dem sprichwörtlichen goldenen Käfig sass, aus welchem auszubrechen man schon sehr zwingende Gründe haben musste. Dass die finanzielle Belastung unserer Familie nicht nur auf den Schultern meines Mannes lasten sollte, war und ist mir noch immer wichtig.

Zum Glück habe ich neben meiner Arbeit immer Zeit für meine Hobbys, für Sport und meine kreative Ader gefunden. Dass man mit Handarbeiten, oder überhaupt den Dingen, die einem wirklich gut tun, kein Geld machen kann, habe ich schon lange akzeptiert. Und ja, kann sein, vielleicht habe ich einfach nicht genug Courage oder künstlerischen Drang.


Einmal bin ich in einem schicken Züricher Altstadtquartier vor der kleinen Boutique einer Maßschneiderin stehengeblieben. Über die eigenwilligen, genau gearbeiteten und sehr teuren Modelle im Schaufenster erhaschte ich einen Blick auf die Fachfrau im Hintergrund und mein Herz machte einige Sekunden Pause. Das hätte ICH sein können. Genau so. Hier in Zürich. Ich hätte meine Tage mit dem Entwerfen und Schneidern schöner Kostüme verbringen können. Mit vielfältigen inspirierenden Stoffen, anstatt mit peniblen Regelungen und akribischer Computerarbeit.

Aber wie wäre der Rest meines Lebens verlaufen, wenn ich diese Türe geöffnet hätte und nicht eine andere? Ich hätte mit ziemlicher Sicherheit eine andere Familie. Vielleicht hätte ich die bereichernde Erfahrung in einem anderen Land zu leben verpasst. Vielleicht hätte ich Ärger mit dem Ladenvermieter oder mit launischen Kundinnen. Ich hätte ein anderes Leben. Ein besseres Leben? Das werde ich nie wissen. Immerhin habe ich noch Träume. Das mit der Schneiderin werde ich vielleicht verwirklichen, wenn ich pensioniert bin oder halt in einem nächsten Leben.

Doch, ich habe Grund genug, meine Arbeit zu mögen, obwohl das Fachgebiet auf den ersten Blick für viele abschreckend sein mag. Ich habe viel Freiheit, einen guten Lohn, mein Wissen und meine Erfahrung werden geachtet. Ich schätze es, dass ich mich immer wieder mit kniffligen, organisatorischen und auch mentalen Herausforderungen auseinandersetzen muss. Unterdessen leite ich ein Team und viele Projekte. Es kostet mich einige Überwindung, Angestellte zu leiten, aber auch das ist eine bereichernde Erfahrung. Es erfüllt mich mit Genugtuung, dass ich tatsächlich nützliches Fachwissen weitergeben kann und jüngere Mitarbeiter von mir lernen. Dabei bin ich immer wieder überrascht, dass – trotz wiederholter Betonung, wie wichtig in diesem Fach die Beachtung der kleinsten Details ist – mich in meiner akribischen Genauigkeit einfach keiner schlagen kann.

Die Fotos in diesem Beitrag sind einige meiner Feierabendprojekte.






Mittwoch, 22. Juni 2022

Nazareth

Liebe Leser, falls Nazareth und die heiligen Stätten des Christentums dieser Stadt auf ihrer Wunschliste stehen, vielleicht im Rahmen einer Pilgerreise – seien sie gewarnt.

Es mag in Nazareth einige interessante Ecken geben, aber sonst ist der Besuch in Jesu Geburtsstadt ernüchternd. Die Altstadt ist heruntergekommen, in den Strassen rinnt schmutzig-braunes Wasser unklarer Herkunft. Die Fassaden und Gehsteige sind verrottet und nicht nur in den Hinterhöfen sammelt sich der Abfall. Gebäude sind schlecht unterhalten, die Stadt scheint chaotisch geplant. Alles in allem – eine stinkende, alles andere als einladende Stadt. Obwohl jedes Kellerloch zum Heiligtum deklariert wird, bleiben die Touristen aus. Der einst pulsierende Markt in der Altstadt ist verwaist. In den Kirchen knien einige verklärte Pilgerer vor den heiligen Altären und Ikonen, aber auch für sie empfinde ich keinerlei Art der Begeisterung, sondern eher Befremden.

Während dem Israelischen Unabhängigkeitskrieg (am Tag nach der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel 1948 rückten reguläre Armeeeinheiten der umliegenden arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak in das ehemalige britische Mandatsgebiet ein und griffen Israel an) erhielt Nazareth die Möglichkeit, sich zu ergeben, mit der Konsequenz, dass die etwa 17'000 Einwohner (davon etwa 60 Prozent Christen) in ihren Häusern bleiben konnten. Daraufhin kamen rund 20'000 arabische, meist muslimische Binnenflüchtlinge nach Nazareth.

In der offiziell ethnisch gemischten Stadt Nazareth leben heute über hunderttausend Einwohner, wovon etwa ein Drittel Juden und zwei Drittel muslimische und christliche Araber sind. Das macht Nazareth zur Stadt mit der heute größten Gemeinschaft arabischer Israelis in Israel. 

Die kulturellen Unterschiede zwischen den Ethnien sind haarsträubend: Der Übergang vom arabischen in den jüdischen Teil der Stadt, heute Nof Hagalil genannt, kommt einer Reise in ein anderes Land gleich. Hier sind die Strassen breit und sauber und die Häuser einigermassen modern und gut unterhalten, auch wenn Nof Hagalil nicht gerade eine der High-Society Städte Israels ist.

Im arabischen Teil der Stadt scheinen sich Auto-Rowdies uneingeschränkt austoben zu dürfen. Auffallend viele Autos der einschlägigen Marken rasen durch die engen steilen Strassen der Altstadt, sodass man als Fussgänger um sein Leben bangen muss, zumal man oft wegen der nicht vorhandenen oder nicht begehbaren Gehsteige gezwungen ist, mit den Rowdies die Fahrbahn zu teilen. Auch dass die Macho-Luxus-Karrossen überall da abgestellt werden, wo kein ausdrückliches Fahrverbot markiert ist, scheint hier keinen zu stören.
Damit einhergehend ist wohl das Ergebnis einer Studie im Auftrag des israelischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit, dass die Einwohner Nazareths von allen Bürgern Israels das größte Risiko haben, Opfer einer Straftat zu werden.


Schuld an der Misère der Stadt ist wohl hauptsächlich die arabische Stadtregierung. Der Disput „Warum sollen wir Steuern zahlen, wenn wir keine Dienste dafür bekommen?“ gegenüber „Wie sollen wir Dienste leisten, wenn keine Steuern bezahlt werden?“ ist so unlösbar wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Und das ist wohl nur eines der geringeren Probleme. In der Stadtregierung beschuldigt man sich gegenseitig über christliche Privilegien, welche die eine Front verteidige und islamischen Chauvinismus, den sich die andere Front zunutze mache.

Ich weiss nicht, was sich die ersten jüdischen Einwanderer oder die Staatsgründer Israels gedacht hatten. Hatten sie irgendwelche Vorstellungen, wie die unterschiedlichen kulturellen Werte der Völker, die hier zusammenleben sollten, in Zukunft zu überbrücken oder auch nur zu ertragen sein könnten? Bestimmt hatten sie keine Ahnung, welche Ausmasse die Probleme hundert Jahre später annehmen würden. Vielleicht dachten sie, die anderen Ethnien und die mit ihnen verbundenen Probleme würden sich mit den Jahren in Luft auflösen. Dabei ist genau das Gegenteil passiert.

Das Freiluftkonzert, welches wir am Donnerstagabend besuchten, war hingegen ein einschlägiger Erfolg, wie es von dem bekanntesten und beliebtesten israelischen Sänger Schlomo Artzi zu erwarten ist.

Während die Altstadt von Nazareth in einer Geländemulde liegt, ist das neue Amphitheater in Nof Hagalil (wo das Konzert stattfand) auf das umliegende Hügelland gebettet. An den meisten Sommertagen ist die Fernsicht aufgrund des Hitzedunstes schlecht, aber nachts ist es hier angenehm kühl und luftig und man kann in der Ferne den Berg Tabor, den See Genezareth und die Lichter Tiberias erkennen. Die markanten Umrisse des Berges Tabor in der Nacht erinnern mich daran, dass ich schon einmal in dieser Gegend „vorbeigekommen“ bin, anlässlich meiner Wanderungen auf dem Shvil Israel. Das entsprechende Foto ist schnell gefunden. 


Eine schöne Gegend! Schade, dass sowohl die Bewohner der Stadt als auch die zuständigen Behörden keinerlei Motivation, Initiative und vielleicht auch Möglichkeit haben, die Stadt auf Vordermann zu bringen.


Donnerstag, 16. Juni 2022

Von Basel nach Nazareth





Wie immer ist mein Besuch in der Schweiz von gemischten Gefühlen geprägt. Während der fünftägigen Reise durchlebe ich von himmelhochjauchzender Begeisterung bis zum dringenden Wunsch, möglichst schnell wieder zu verschwinden, das ganze Repertoire an Gefühlen, begleitet vom grossen Staunen eines Kindes über die Verschiedenheit der Orte, der Leben und der Kulturen.

Basel – was für eine wunderschöne Stadt! Ich flaniere durch die Altstadt, das Münster, die Einkaufsmeilen und bewundere den eindrücklichen Rhein, der breit und dominant die Stadt durchzieht und die zahlreichen Passanten und Touristen. Ich geniesse ein Schoggiweggli und Kaffee bei Sutterbeck. Einen feinen Flammenkuchen und ein Glas Wein am Spalenberg. Wie immer darf eine Rheinüberquerung mit der Fähre nicht fehlen. Ich bin begeistert von den langen Abenden, die die Bewohner Basels für ein gemütliches Chill-Out auf den Rheintreppen nutzen. Ich entdecke die perfekte Eiscreme von Gasparini. Meine Jahre am Basler „Gymi“ habe ich als eher bedrückend, geprägt von seelischem Durcheinander und Notenstress in Erinnerung. Für die Schöhnheit der Stadt hatte ich damals keine Augen. Jetzt dafür umso mehr.

Am Wochenende das Familientreffen im wunderschönen grossen Garten meiner Eltern. Es ist wie in einem klischeehaften französischen Film: ein langer gedeckter Tisch im Schatten eines riesigen Nussbaums, kühler Wein und feine Apero-Häppchen, im Hintergrund eine riesige Paëlla am Köcheln, fröhlich plaudernde Menschen, von den einige, um die filmartig kitschige Stimmung perfekt zu machen, auch noch französisch parlieren!

Am Sonntag reisen die Gäste ab, die Läden sind geschlossen und das Wetter schlägt um. Sturmartige Regenfälle stürzen auf uns hernieder. Ich fühle mich krank, eine Grippe oder Erkältung bahnen sich an. Ich treffe Leute, zu denen ich – obwohl sie Leben zu führen scheinen, die meinem ähneln – keinen Draht finde. 
Ich beginne wieder einmal zu ahnen, dass mir hier, in diesem Dorf in dem ich aufgewachsen bin, sehr schnell die Decke auf den Kopf fallen könnte.

 

Ein weiteres Familientreffen in kleinerem Rahmen, zum Abschluss sozusagen, dann fliege ich zurück in die Hexenküche Israel. Spätestens in Tel-Aviv, wo die Abfahrtstafel im Bahnhof um 18:54 einen Zug anzeigt, der um 18:51 abfahren „wird“ weiss ich, dass mich das Land des „Balagan“ wieder hat.

Leider habe ich aus der Schweiz ein völlig unnötiges Souvenir mitgebracht: Corona! Die Krankheit ist tatsächlich recht unangenehm, mit wechselnden Grippesymptomen, grosser Müdigkeit und leichter Atemnot, verläuft aber einigermassen erträglich, wahrscheinlich dank der Impfungen.

Etwa zehn Tage nach Ausbruch der Krankheit fühle ich mich fast wieder „wie gehabt“ und freue mich jetzt auf einen Wochenendausflug nach Nazareth, einschliesslich eines Konzertes am Abend und Übernachtung in einem vielversprechenden B&B.

Liebe Leser, ich werde die Gelegenheit nutzen und in den Kirchen Nazareths für uns alle beten! Dass wir von Corona und anderen Krankheiten verschont bleiben mögen, dass wir viel Eiscreme essen werden und überhaupt noch viele bereichernde Erlebnisse werden erfahren dürfen. Und dass vielleicht eines Tages auch in Israel Züge nach einem nachvollziehbaren Zeitplan fahren werden!