Donnerstag, 19. Juni 2025

Im Keim erstickter Optimismus

Der Wecker weckt mich nach fast sieben Stunden ununterbrochenem, süssem Schlaf. So viel und gut schlafen oft nicht einmal Menschen in friedlicheren Regionen. Der Tipp, nachts das Handy auf Flugmodus zu stellen, ist Gold wert. So schweigt mein Telefon auch während den Vorwarnungen nach Mitternacht, auf welche in unserem Dorf prompt kein Sirenenalarm folgt. Die Alarme in den Nachbardörfern höre ich dank des geschlossenen Fensters auch nicht.

Gestern war es tagsüber relativ ruhig und schon stellt sich bei mir heute Morgen ein vorsichtiger Optimismus ein. Die Anweisungen des israelischen Zivilschutz-Kommandos sind leicht gelockert worden, Zusammenkünfte von bis 30 Personen sind wieder erlaubt, die Schulen bleiben jedoch weiterhin geschlossen.

Nach einigen Tagen Pause vom Sport fahre ich kurz nach 6 Uhr dreissig zum CrossFit-Training im Nachbardorf. Die Sonne ist schon vor einer Stunde aufgegangen, aber der Horizont präsentiert sich noch in leuchtendem Rosa und Hellblau. Das Radio spielt ein mitreissendes israelisches Lied, ich drehe die Lautstärke auf und singe mit. Es ist das erste Mal seit Tagen, dass ich unser Dorf verlasse. Ich bin in bester Stimmung und fast bereit, die Aussage betreffend meiner Liebe zu Israel aus meinem letzten Blogbeitrag zurückzunehmen. Wenn das alles war, denke ich schon fast übermütig und vielleicht ein bisschen naiv, war es auszuhalten.

Um Punkt 7 Uhr beginnt der CrossFit-Trainer das heutige Training zu erklären. Um 7:02 schrillen in wunderbarer Koordination alle zur Seite gelegten Handys: Vorwarnung! Wir müssen uns in die Nähe eines Schutzraumes begeben. Der nächste Bunker liegt zwei Strassen entfernt. Wir sind zwar sportlich, aber jetzt gerade hat keiner der Trainierenden Lust auf einen 700-Meter-Sprint. So fahren wir mit den Autos zum öffentlichen Schutzraum des Quartiers. Die Hartnäckigen unter uns führen auf dem Rasen vor dem Bunkereingang unbeirrt das Aufwärmprogramm fort: Hampelmänner, Kniebeugen, Rumpfbeugen. Die Alarmsirenen erlösen uns, jetzt ist es Zeit, in den unterirdischen Bunkerraum hinunterzusteigen.

Etwa dreissig Menschen drängen sich zu dieser frühen Stunde in den 30 Quadratmeter grossen fensterlosen Raum. Jemand hat vorgesorgt, Matten liegen auf dem Boden, es gibt wenige Sitzmöglichkeiten, Wasserflaschen, einen Ventilator. Das Quartier am Dorfrand ist bei Joggern beliebt und so stossen weitere schwitzende Menschen in Sportkleidung zu uns. Den Bewohnern des Quartiers scheint die Abwechslung willkommen zu sein, sie mustern uns aufmerksam. Nur eine religiöse Frau hebt ihre Augen keinen Augenblick von ihrem Gebetbuch. Ein älteres Paar sitzt in einer Ecke auf ihren mitgebrachten Campingstühlen. Sie schwelgen mit geschlossenen Augen in Erinnerungen an bessere Zeiten. Man sieht den Schutzsuchenden an, dass sie aus dem Schlaf gerissen worden sind. Ein sehr umsorgter Junge liegt in einem Liegestuhl und wird von den Eltern sorgfältig zugedeckt, um den ungerechten Schlafunterbruch so angenehm wie möglich zu gestalten. Zwei arabische Gartenarbeiter fühlen sich vielleicht etwas deplatziert, aber keiner beachtet sie. Einige Hunde drücken sich beunruhigt an ihre Besitzer. Ein gutgelauntes Baby freut sich über den unerwarteten Ausflug mit seinem Vater, es lacht uns alle an. Ich setzte mich auf den Boden. Von draussen sind starke Booms vernehmbar.

Eine Viertelstunde später steigen wir nach oben und fahren zurück zum Trainingsraum. Wir schütteln die verwirrenden apokalyptischen Gefühle von uns ab und einigen uns auf ein verkürztes Training für die verbleibende halbe Stunde. Die Nachrichtenjunkies unter uns gucken jedoch zuerst in ihre Handys. 

Einige der Raketen trafen zivile Ziele, andere verfehlten oder konnten abgeschossen werden. Die eingeschlagenen Raketen haben große Zerstörungen zufolge. Es gab Einschläge in Wohn- und Geschäftsvierteln in Holon und Ramat Gan und vor allem wurde das Soroka-Krankenhaus in Berscheba direkt getroffen. Mindestens 60 Menschen wurden verletzt, das Krankenhaus muss evakuiert werden. 




Erst später, im Laufe des Tages, merke ich, wie sehr mir der Schrecken dieses Morgens in den Gliedern sitzt. Ich versuche zu arbeiten, bin aber vollkommen unkoordiniert und vergesslich. Nur Schmerztabletten verschaffen mir etwas Linderung gegen die verspannten Glieder.

In dem ganzen Chaos gibt es auch einige erfreuliche Nachrichten: Eine Freundin konnte mit ihren zwei Kindern Plätze auf einem Passagierschiff nach Israel ergattern. Wegen der Flugsperre ist die Familie vor einer Woche in Rumänien stecken geblieben und dann nach Zypern geflogen. Sie befinden sich in diesen Stunden auf der Heimreise.

Ach Israel! Wo sonst noch lassen sich Tausende auf Wartelisten setzen, um mit Rettungsflügen und -Schiffen in ein Land gebracht zu werden, in welchem mehrmals täglich lebensbedrohliche Raketen einschlagen? 



Dienstag, 17. Juni 2025

Hundert Sorgen weniger



Auf Instagram stosse ich auf ein Video von Menschen beim Rheinschwimmen im sommerlichen Basel. Dutzende, die sich treiben lassen. Ihre Köpfe sind nur kleine farbige Punkte, doch ich weiss, dass die Schwimmenden in diesem Moment glücklich sind. Eine weiss eingeblendete Zahl zählt von 100 bis 0 rückwärts und impliziert, wie sich in dem zauberhaften Nass hundert Sorgen im Nichts auflösen, bis die Badenden sorgenfrei bei der nächsten Rheinbrücke aus dem Wasser steigen.

Nachts um halb eins nähert sich Israel eine weitere Raketensalve aus dem Iran. Die Vorwarnungen auf dem Handy wecken mich erneut aus dem Tiefschlaf, doch die Sirenen in unserem Dorf bleiben ruhig. Ich habe das jetzt kapiert: Keine Sirene bedeutet – kein Rennen in den Schutzraum. Man muss die Handywarnungen einfach ignorieren. Doch ich bin, etwa eine Stunde nachdem ich mich schlafen gelegt habe, hellwach. 
Drehe mich schlaflos im Bett.

Denke an die Badenden in Basel. Die Bilder haben mich in meinem verwundbarsten Inneren getroffen. Ich sehne mich so sehr danach, mich in einem kühlen Schweizer Fluss treiben und dabei alle Sorgen und Ängste wegspülen zu lassen. Erfrischt und grenzenlos erleichtert aus dem Wasser zu steigen.

Tut mir leid, einst geliebtes Land Israel: Es ist aus zwischen uns. Ich habe mich entliebt. Ich bezweifle, dass wir uns einst eine Partnerschaft bis zum Tod versprochen haben. Mag sein, dass es feige ist, sich in schlechten Zeiten abzuwenden. Doch ich bin erschöpft, ich kann nicht mehr.

Zum Glück ist der Flugverkehr gesperrt, so bleibt mir wenigstens das Dilemma Gehen oder Dableiben erspart. 
Es gibt keinen Ausweg, ich muss da durch. 

So bleibe ich da, mit einer immensen, schmerzlichen Sehnsucht nach einer anderen, einer sorgenfreien Welt.





Montag, 16. Juni 2025

Kleinkram

Schon wieder sitzen wir nachts um halb drei Uhr im Schutzraum, obwohl es gar nicht nötig wäre. Wenn man schläft, sind die Warnnachrichten auf dem Handy wirklich verwirrend. Vorwarnungen, Warnungen der Regionen der persönlichen Wahl, Echtzeit-Warnungen vor Ort. Das Handy zirpt alle paar Minuten wie wild, ich schrecke auf und steuere noch schlafend in Richtung Schutzraum. Vor lauter Gezirpe merke ich gar nicht, dass ich keine Sirenen gehört habe. Wer besteht schon morgens um halb drei im Tiefschlaf einen Intelligenztest? Aber nicht nur ich bin verwirrt. Mitglieder der Gruppe unseres Wohnortes diskutieren am Morgen danach auf Facebook lebhaft, ob die Sirenen bei uns wirklich geheult haben oder nicht, denn wir hören auch die Sirenen der Nachbardörfer.

Alle paar Stunden heulen die Sirenen aber auch bei uns tatsächlich, vor allem nachts. Nur etwa neunzig Prozent der Raketen aus dem Iran werden abgefangen. Die eintreffenden Geschosse richten oft grossen Schaden an. Fast jeden Morgen wachen wir jetzt zu Nachrichten über Tote und Verletzte auf.

Viele Geschäfte sind geschlossen.
Im Supermarkt gibt es keine Eier mehr.

Die Hochzeit des Sohnes unserer guten Freunde wird auf unbekannte Zeit verschoben. Die Anzüge und festlichen Kleider hängen wartend im Schrank.

Zehntausende Israelis stecken wegen der Flugunterbrechung im Ausland fest und umgekehrt können ausländische Reisende nicht wegfliegen. Viele sammeln sich in Zypern oder Griechenland, in der Hoffnung, dass es dort Rettungsflüge oder andere Möglichkeiten geben wird, nach Israel zurückzukehren. Doch die Hotels sind ausgebucht, die Übernachtungsmöglichkeiten müssen Nacht für Nacht neu erkämpft werden. Unterdessen warten Kinder oder andere Familienmitglieder in Israel. Auf Facebook bilden sich Gruppen Verzweifelter, die sich in Reisegruppen organisieren: In Zypern werden Plätze nach Israel auf zwielichtigen Yachten offeriert, andere suchen Skipper für gemeinsam gemietete Segelboote, wieder andere wollen Israel auf dem Landweg über Jordanien oder den Sinai verlassen.

Man wird angehalten, nicht zur Arbeit zu fahren und in der Nähe von Schutzräumen zu bleiben. Wir sind fünf erwachsene Personen im Haus, die versuchen, irgendeine Routine aufrechtzuerhalten. Jeder sucht sich für die Arbeit im Heimbüro ein ruhiges Eckchen. Nur Lianne ist frustriert und verängstigt, als temporär angestellte Schulassistentin ist sie wieder einmal fristlos arbeitslos. Dazu kommen die Ängste vor den Raketen, dem Vernichtungswut des Mullah-Regimes und die ungewissen Zukunftsaussichten.

Alle wollen essen. Ich bin ständig am Putzen, organisieren, aufräumen. Dabei fühle ich mich völlig gelähmt. Die Situation ist apokalyptisch.

Am Nachmittag wagt das junge Paar eine Reise in ihre Wohnung in Tel-Aviv, um Kleider und einen weiteren Computer-Bildschirm zu holen. Sie staunen über die leergefegten Strassen und die freien Parkplätze im Überfluss. Aber kaum kommen sie an, schrillen die Sirenen. Sie lassen das Auto stehen und laufen in den nächstliegenden öffentlichen Schutzraum, zusammen mit Dutzenden Nachbarn, Kleinkindern und deren zahlreichen Haustieren im Schlepptau. Die unangenehme Erfahrung bewegt sie, früher zu uns zurückzufahren als geplant. Sie treten gerade ein, als es auch bei uns losgeht. Wir suchen erneut gemeinsam den Schutzraum auf. Trotz geschlossener Eisentüre hören wir die lauten Booms der verschiedenen Abwehrsysteme, Fenster und Wände rütteln.

Aber das ist alles Kleinkram. Wir sind froh, unversehrt zu sein. Die Situation ist ernst. Mit diesen Raketen ist nicht zu spassen. Jede Nacht gibt es Einschläge mit zahlreichen Verletzten. Wohnhäuser werden getroffen und brechen zusammen. Viele Menschen können nur noch tot geborgen werden.



Ein LKW-Fahrer macht Gebrauch von einem transportablen Schtutzraum






Samstag, 14. Juni 2025

Lagebericht

Gerade als ich denke, dass es nichts mehr zu schreiben gibt, weil uns der monotone Alltag wieder hat, geht der Wahnsinn von Neuem und erst richtig los. Das Spektakel hat seinen Auftakt in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag mit einer Reihe verwirrender Alarme: Zuerst zerreissen die Alarmsirenen in der Nachbarschaft die Ruhe der Nacht, dann gehen verschiedene, markdurchdringende Alarmtöne auf dem Handy los. Es sind nicht die bekannten Alarme der Heimatfront-App, die vor Raketen aus dem Jemen, dem Libanon oder aus Gaza warnen, sondern besonders beunruhigende Push-Alarme. Sie erreichen alle Handys, auch bei Leuten, die die App der Heimatfront gar nicht heruntergeladen haben (das ist an sich schon beunruhigend). Wir können die seltsamen, grellen Handy-Notwarnungen nicht einordnen und so finden wir uns Mitten in der Nacht im Schutzraum wieder, nur um kurz danach herauszufinden, dass das gar nicht nötig wäre. Eyals Bruder ruft an, um uns mitzuteilen, dass Israel einen lange geplanten Präventivschlag gegen iranische Atom- und Militäranlagen begonnen hat. Die Lage scheint ernst zu sein, der Bruder telefoniert Mitten in der Nacht aus dem Auto. Auf dem Beifahrersitz befindet sich meine Schwiegermutter. Sie ist aus dem Bett gerissen worden, um die kommenden Tage bei der Familie zu verbringen. In ihrer Wohnung in Netanya müsste die verwitwete 85-jährige sechs Stockwerke hinuntersteigen, um bei Alarm den einzigen Schutzraum des Mehrfamilienhauses aufzusuchen. 

Zu uns kommen im Verlaufe des Freitags die Frischvermählten aus Tel-Aviv. Wer kann, verlässt die Stadt im Zentrum, die das bevorzugte Ziel für die Raketenangriffe der barbarischen Despoten aus dem Iran ist. Ausserdem verfügen viele Wohnungen in den älteren Gebäuden in Tel-Aviv über keine eigenen Schutzräume und die Bewohner müssen bei Alarm in die öffentlichen Bunker rennen.


Unser eigener Schutzraum wurde in friedlicheren Zeiten zu einem Arbeitszimmer umfunktioniert, er ist klein und eng. Aber notfalls finden einige Personen der Wand entlang Platz. Wir haben Stühle hineingestellt, Wasserflaschen, Handybatterien und Notlampen.

In der Nacht auf Samstag feuert der Iran mehrere Salven ballistischer Raketen auf die israelische Zivilbevölkerung ab. Immer wieder reissen uns die Sirenen aus dem Schlaf.
Am Morgen erfahren wir, dass einige der Raketen nicht abgewehrt werden konnten. E
s gibt Tote, viele Verletzte und beträchtlichen Sachschaden.


Der Samstag verläuft ruhig, vielleicht aufgrund des schiitischen Feiertags im Iran. Wir betreiben die perfekte Realitätsflucht: Den ganzen Tag gehen Freunde der Kinder ein und aus. Sie sitzen im Garten zusammen, unterhalten sich, essen und trinken und spielen mit ihren Kindern. Die unerwartete familiäre Quality-time ist erfreulich, doch die Anspannung bleibt. Ist es die Ruhe vor dem Sturm? 

Am Shabbatende richten wir für die offizielle Durchsage des Armeesprechers den TV-Projektor in der Stube ein. Diese Woche findet kein Unterricht statt und nur als unentbehrlich eingestufte Organisationen dürfen arbeiten. Der Luftraum bleibt bis auf Weiteres geschlossen, der Flugbetrieb ist eingestellt. Genaue Anweisungen für das Verhalten bei Alarm werden durchgegeben. Was erwartet uns diese Nacht?

Ich bete, dass wir alle geschützt bleiben und dass niemand zu Schaden kommt. Doch vor allem hoffe ich von ganzem Herzen auf den Erfolg der militärischen Massnahmen und dass sie nicht nur der Sicherheit Israels dienen, sondern auch dem Wunsch des iranischen Volkes nach Freiheit entgegenkommen werden.


Wir haben Angst schlafen zu gehen. Gerade ist wieder eine Vorwarnung eingetroffen, dass weitere Raketensalven unterwegs sind. Vor dem nächsten Alarm drücke ich noch schnell auf "Beitrag veröffentlichen".













Donnerstag, 5. Juni 2025

Ein fragwürdiges Jubiläum

Als unsere Zeitrechnung ins Jahr 2000 überging, befürchteten die Industrienationen ein globales Fiasko aufgrund weitreichender Softwareabstürze. Entgegen aller Erwartungen verlief der Übergang reibungslos, doch für mich persönlich brachte er in den ersten Tagen des neuen Jahres einen Lebens-prägenden Neubeginn.

Nach der Geburt des zweiten Kindes und zweieinhalb Jahren Babypause fand ich endlich eine neue Arbeit. Alle vorherigen Möglichkeiten hatte ich ausgeschlagen, denn nichts schien mir damit vereinbar, dass ich jetzt für zwei kleine Kinder und den Haushalt einer Familie verantwortlich war. Doch dann legte mir das Schicksal ein Angebot in einer angesehenen internationalen Firma vor die Füsse, das ich nicht ablehnen konnte.

Einige Monate nach Arbeitsanfang und Anstellung über eine Vermittlerfirma folgte die Festanstellung. Danach vergingen einige Tage, Wochen, Monate und – schwups! landete vor einigen Tagen eine E-Mail in meiner Mailbox, in der mir mein Arbeitgeber zum 25-jährigen Dienstjubiläum gratuliert.

Ich bin alles andere als stolz darauf, fast ewig beim selben Arbeitgeber hocken geblieben zu sein. Das zeugt nicht gerade von Flexibilität und Mut zum Abenteuer.


Wer will schon so einen Grabstein?

Immerhin darf ich mir anrechnen, dass ich in ferner Vergangenheit den Umzug in ein fremdes Land gewagt habe. Dieser Perspektivenwechsel hat meinen Lebenshorizont ins Unermessliche bereichert. Doch ich befürchte, dass auch diese Änderung bei mir nicht unbedingt mit Pioniergeist zu tun hatte, sondern eher mit reichlich Naivität und der Unfähigkeit, vorauszudenken.

Seien wir ehrlich – eine sehr wagemutige Draufgängerin bin ich nicht. Es gab da und dort einige Versuche, berufliche Änderungen vorzunehmen, doch schlussendlich schaffte ich den Absprung nie. Obwohl es ärgerliche Phasen, Mitarbeiter oder Vorgesetzte gab, waren diese Firma und mein Job einfach immer zu bequem und zu passend für mich. Bei persönlichen Belangen und Bedürfnissen, in Zeiten von Krankheit, der Geburt des dritten Kindes und überhaupt als Mutter von kleinen Kindern, kam mir die Firma immer sehr grosszügig entgegen. Dazu kommen das internationale Umfeld, der kurze Arbeitsweg, die vorteilhaften Bedingungen, der sichere Lohn, die ganz akzeptable Kantine – kurzum ein mehr als zufriedenstellendes Gesamtpaket.

Natürlich waren die 25 Jahre auch stets von beruflichen und persönlichen Änderungen geprägt. Ich bin fast zehnmal in ein anderes Büro in verschiedenen Gebäuden umgezogen. Als die Firma vor einigen Jahren gesundgeschrumpft und meine gesamte Abteilung aufgelöst wurde, bekam ich als einzige meines Teams eine weitere Chance und startete in einer anderen Abteilung in eine neue Karriere.

Ich konnte beruflich mehrere Male in die USA und verschiedene Länder Europas reisen. Ich bin auf Kosten der Firma Business-Class geflogen, habe in ausgezeichneten Restaurants gespeist und in den besten Hotels geschlafen. Was aber noch viel prägender war: Ich hatte die Möglichkeit, Menschen in den USA, in Deutschland, Frankreich, England und Kroatien als Arbeitskollegin und nicht als Touristin zu erleben. Ich habe mich in den Städten Europas in Menschenmassen eingereiht, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln frühmorgens zur Arbeit und abends wieder zurück zu pendeln. Ich habe in Firmengebäuden in Industrie-Vororten mit den Mitarbeitern in der Kaffeeküche geplaudert. In den Vororten von Philadelphia bin ich mit dem Mietwagen zur Arbeit gefahren und habe in amerikanischen Grossraumbüros braune Brühe in XXL Tassen geschlürft. Ich durfte sogar mehrere Male in die Schweiz reisen, wo die Firma in der Stadt meiner Gymi-Zeit einige Jahre über einen Firmensitz verfügte. Diese Erfahrungen brachten Abwechslung und sie begeisterten und erfüllten mich.

Seit meiner ersten Arbeitsjahre in der Firma haben globale Umwälzungen die Arbeit grundlegend verändert und ich habe die Digitalisierung einst manueller firmenspezifischer Prozesse erkundet und mitentwickelt. Später habe ich gelernt, mein Wissen weiterzugeben und bin daran gewachsen, ein Team zu leiten. Ich habe mindestens 15 direkte Vorgesetzte überdauert.



Nun habe ich hier schon fast meine eigene Abschiedsrede verfasst – aber leider muss ich noch drei weitere Jahre absitzen, bis ich rechtmässig in Rente gehen kann. Es wäre keine Katastrophe, früher aufzuhören. Zurzeit macht es Spass, nicht mehr unter Druck zu arbeiten. Ich muss keine Familie mehr miternähren und keine erfolgreiche Karriere mehr aufbauen. Ich arbeite mit dem Wissen, dass ich einfach gehen kann, falls mir jemand zu sehr auf den Wecker fällt.

Gerade in diesen Tagen bekomme ich wieder eine neue Vorgesetzte. Sie hat ihren Sitz in den USA und aufgrund der Zeitverschiebung werden wir nicht allzu viele gemeinsame Arbeitsstunden haben. Doch ich werde mir Mühe geben müssen, einen guten Eindruck zu machen. Mit 25 Jahren Dienstalter ist der Grat zwischen erfahrener und veralteter Erscheinung sehr schmal.

An schlechteren Tagen ist die grösste Herausforderung das Gefühl, dass sich alles ins Unendliche zu wiederholen scheint und dass mir manchmal einfach die Geduld ausgeht für neue Projekte. Dann bin ich versucht, draufgängerischen Arbeitskollegen, die glauben, die perfekte Lösung für irgendein Problem gefunden zu haben, den Wind aus den Segeln zu nehmen und auszurufen: Nehmt's mal locker, das war doch alles schon da!

Doch dann besinne ich mich. Natürlich werde ich auch bei diesem Projekt noch mitmachen. Einfach, weil ich es kann. Und ich werde auch weiterhin lernen, ausprobieren, Dinge hinterfragen und Prozesse erneuern.

25 Jahre mögen wie eine Ewigkeit erscheinen, doch sie waren gefüllt mit Wandel, Wachstum und wertvollen Begegnungen. Nichts Grandioses oder Umwerfendes, aber doch stetig, in kleinen, unauffälligen Schritten.


Montag, 2. Juni 2025

Zwischen Leere und Luftschutzalarm

Endlich ist wieder etwas Ruhe in mein Leben eingekehrt. Nach der Hochzeit und all den damit einhergehenden Umtrieben habe ich ein bisschen das Gefühl, dem Wahnsinn ins Gesicht gesehen zu haben. Umso mehr geniesse ich nun etwas, das man fast als Leere beschreiben könnte. Der Sohn zurück in der Schweiz, die jung Vermählten in Griechenland, Lianne in der frei stehenden Wohnung des Paares in Tel-Aviv. Niemand kommt. Keine Projekte. Ich faulenze.

Am Wochenende verschlinge ich das Buch "Meine Sprache wohnt woanders" von Chaim Noll und Lea Fleischmann. Gedanken von zwei nach Israel ausgewanderten Juden, über Deutschland und Israel. Lea Fleischmann schreibt über die Armut, in welcher sie aufwuchs "Sie lehrte mich, dass das geschliffene Wort es mit funkelndem Schmuck aufnehmen kann, und sie lehrte mich, dass der Geist die Armut überwinden kann." Die beiden Autoren sind wahrlich Wort- und Sprachkünstler, sie erschaffen zusammen in vollkommener Ergänzung ein sehr poetisches Werk.
Lea Fleischmann findet in Israel den Glauben und die Spiritualität. Die Freude, mir der sie ihr religiöses Leben beschreibt, ist authentisch, nachvollziehbar und fast ansteckend. 
Es tut mir gut, über die Liebe und die spirituelle Beziehung der Autoren zu Israel zu lesen, vor allem jetzt, in einer Zeit, da es nicht mehr einfach ist, das überrumpelte, geschundene, fast zerbrechende Land zu lieben. Mit meinen Schweizer Wurzeln empfinde ich es als immer bedrückender, in einem Land zu leben, das die halbe Welt vernichten will, während die andere halbe Welt der Meinung ist, Israel hätte den Krieg selbst zu verschulden oder wäre sogar der Aggressor. 
Das Buch wurde 2006 geschrieben und der Rückblick ist eine aufschlussreiche Zeitreise. Obwohl der Nahe Osten schon damals eine schwierige Region war, ist seit dem Pogrom und dem gegenwärtigen Krieg alles noch radikal komplizierter. Schon 2006 schreibt Chaim Noll "in dem eskalierenden Konflikt mit der arabischen Welt, der weitgehend unser Leben bestimmt, geht es für Israel um das Überleben als Staat und als Volk." In tiefgründigen Analysen beschreibt er eingängig das komplexe Israel in Einbezug der jahrtausendealten Geschichte. 
Unterdessen ist der "Konflikt" vollkommen eskaliert. Wir stehen nicht mehr am Abgrund – spätestens am 7. Oktober 2023 sind wir darüber hinaus gestürzt, seither befinden wir uns im freien Fall. Die gesamte Weltengemeinschaft rast dem Aufprall entgegen. Wie werden wir landen?
Ich weiss nicht, was Chaim Noll und Lea Fleischmann heute schreiben würden, wenn sie denn überhaupt noch Worte fänden. Doch ich blende diese Gedanken aus, versetzte mich zwei Jahrzehnte zurück und finde es mitreissend und sehr überzeugend, wie Lea Fleischmann auf Deutschland blickt und wie sie in Israel ihre Berufung gefunden hat.



So ruhig wie mein Leben ist die Situation in Israel dann aber doch wieder nicht. Immer wieder durchbrechen Düsenjäger die Stille. Vor allem abends rütteln ferne Detonationen am Fundament unseres Hauses und lassen die Wände und Fenster erbeben. Ich schrecke jedesmal hoch und wundere mich, dass alles noch steht. Und immer wieder heulen Sirenen. 
Einen Abend verbringen wir bei Freunden bei der Eröffnung eines zauberhaften Kaffeekiosks, den sie mit eigenen Händen aus einem verrosteten alten Anhänger erschaffen haben. Irgendwann rattern die Handys aller Anwesenden gleichzeitig. Gespräche werden unterbrochen. Eltern rufen ihre Kinder an. Der Ort, an dem wir uns befinden, bleibt vom Alarm verschont, aber die Sirenen der umliegenden Ortschaften heulen durch die Nacht.
Lianne arbeitet an diesem Abend als Babysitter in Herzliya. Sie erzählt am nächsten Morgen, dass die zwei älteren Kinder unaufgefordert in den Schutzraum gegangen sind, als wäre es das Alltäglichste auf der Welt. Das dritte Kind, das schon schlafend im Bett liegt, trägt Lianne in den Schutzraum. Zehn Minuten später legt sie es wieder in sein Bett. Ich bewundere meine Tochter für ihre unbeirrbare Ruhe und bin gleichzeitig schockiert, wie selbstverständlich israelische Babysitter so nebenbei als lebensrettende Schutzengel fungieren.