Donnerstag, 17. Februar 2022

Ein Abend im Wunderland

Ich werde älter. Die Liste der Beweise für mein Älterwerden wird immer länger. Ich trage meine Haare jetzt grau, vorne sind sie sogar weiss. Meine Abende verbringe ich meistens strickend auf dem Sofa. Zwischen neun und zehn Uhr döse ich ein. Auch Eyal wird älter. Er wird immer müder und dicker und sieht kaum noch etwas, trotz Brille. Und ich – ich bin eine strickende alte Frau mit weissen Haaren und einem alten Mann.

Aber manchmal breche ich aus! (Wenn auch aus eher fragwürdigen Anlässen) An einem Abend dieser Woche verlasse ich das Büro etwas früher und fahre nach Tel-Aviv. Ich werde am Abend Eyal im Ichilov-Spital besuchen, wo er sich heute einer grauen Star-Operation hat unterziehen lassen.

Diese Gelegenheit verbinde ich mit einem Besuch bei unserer Tochter Sivan. Sie lebt schon ein halbes Jahr mit ihrem Freund in einer niedlichen kleinen (leider völlig überteuerten) Wohnung im pulsierenden Zentrum von Tel-Aviv. Ich schäme mich fast zu sagen, dass ich in dieser ganzen Zeit nur etwa zweimal bei ihr gewesen bin. Meistens fehlt mir abends nach der Arbeit die Energie für weitere Aktivitäten und das Sofa und die Strickerei rufen (siehe oben)…

Dabei liebe ich Tel-Aviv. Ich bin bei jedem Besuch von neuem von dieser lebensfrohen Stadt begeistert. Begeistert von den jungen Leuten mit ihrem unbekümmerten Lebensstil, von der frechen individuellen Mode, von den unzähligen kleinen Cafés und originellen Läden. Begeistert von diesem pulsierenden Leben, das nie ruht, auch nicht in den kleinsten Stunden der Nacht.

Natürlich ist in Tel-Aviv längst nicht alles rosig. Zum Beispiel gibt es k-e-i-n-e Parkplätze. Deshalb fährt Sivan auf einem E-Scooter die Nachbarschaft ab bevor ich ankomme, um nach einem freien Parkplätzchen Ausschau zu halten. So machen sie und ihr Freund das immer, wenn einer von ihnen mit dem Auto – das unterdessen zu einem lästigen und überflüssigen Anhängsel geworden ist – nach Hause kommt. Bald schickt mir Sivan eine Meldung, dass sie in der Sirkinstrasse fündig geworden ist. Leider stellt sich aber heraus, dass das Plätzchen einen halben Meter zu kurz ist und so fahre ich schliesslich ins nächste Parkhaus.

Bei Sivan angekommen werde ich zuerst, wie befürchtet, für eine kleine Putzaktion eingespannt. Nach einer kurzen Diskussion über verschiedene Erwartungen darf ich dann nach draussen und wir flanieren in Richtung des naheliegenden Strandes. Ich bestaune die meist recht heruntergekommenen, dicht beieinanderstehenden Häuser, die kleinen interessanten Hinterhöfe und ergattere mir durch die Fenster intime Einblicke in fremde Stuben. Auf der breiten Flaniermeile, die sich dem Strand entlang kilometerweise bis ins südlich gelegene Yafo zieht, tummeln sich Spaziergänger, Jogger und eilige Velofahrer. Unterdessen ist es schon dunkel, die Beach-Volleyballfelder sind hell beleuchtet und sportliche junge Leute vertreiben sich den Abend bei einem Spielchen.

Ich fühle mich wie Alice im Wunderland und damit das Erlebnis kein Ende nehme, beschliessen wir zu Fuss ins Ichilov-Spital weiterzugehen. Laut Google Maps sollte das in etwa 35 Minuten zu bewältigen sein. In einem kleinen Café setzten wir uns für ein Päuschen an eines der Tischchen auf dem Gehsteig. Auf den drei Stühlen am Tisch neben uns sitzen ein junges Paar und ein hübscher Hund mit blauen Augen. Immer wieder halten Leute inne, um den Hund zu streicheln und sich mit dem Pärchen zu unterhalten. Es ist, als ob alle sich kennen würden. Das liegt vielleicht auch an den Joints, die sie rauchen, als wären es Zigaretten.

Google Maps scheint heute etwas verwirrt zu sein – als wir weitergehen, hat sich die Distanz auf 40 Minuten erhöht, obwohl wir gefühlt schon die halbe Stadt durchquert haben.

Warum fahren wir nicht mit einem Scooter? Fragt Sivan. Na klar! Warum nicht?! Wenn ich Fahrrad-, Ski- und Rollerskater fahren kann, kann ich bestimmt auch E-Scooter fahren, denke ich ohne zu Zögern. Wir halten für mich nach einem gelben Modell Ausschau (diese sollen etwas langsamer sein als die Grauen), dabei verlässt mich ein wenig der Mut. Aber schon gibt es kein Zurück! Schnell haben wir ein passendes Fahrzeug gefunden und dann geht es los. Die technische Handhabung ist, wie erwartet, kein grosses Problem, trotz des leichten Knieschlotterns. Als schwieriger erweist sich das Umfahren der anderen Verkehrsteilnehmer auf dem stark frequentierten Scooter- und Velofahrstreifen. Fahrräder, Scooters und auch Fussgänger scheinen hinter, neben und vor mir recht unvorhersehbar in alle Richtungen unterwegs zu sein. Die Fahrbahn ist nicht immer eben und ich muss mich recht konzentrieren. Sivan saust locker und unbekümmert vor mir her und ich ziehe ihr – anfangs ein wenig versteift und angespannt, dann immer sicherer und mutiger – nach. Bald düse ich im flotten Slalom durch die Stadt. Das macht Spass! Passanten, Autos, Busse und Häuser sausen an mir vorbei. Ich schüttle mein weisses Haar im kühlen Fahrtwind. Natürlich habe ich – in meinem jugendlichen Leichtsinn – keinen Helm aufgesetzt. „Ich bin siebenundfünfzig und das Leben macht Spass!“, ruft mein Herz übermütig den vorbeifliegenden Passanten zu. Nach kurzer rasanter Fahrt haben wir Google Maps überlistet und kommen im Spital an.

Im verdunkelten Spitalzimmer lege ich mich zu Eyal auf das Bett. Er sieht, mit dem verdeckten Auge und müde nach der Operation, noch älter aus als sonst. Ich hingegen bin heute zum ersten Mal E-Scooter gefahren und bin voll guten Mutes, dass es in unseren Leben noch viele „zum ersten Mal“ geben wird.

Es ist schon recht spät geworden, deshalb fahren wir mit einem AutoTel-Wagen zu Sivan’s Wohnung zurück. Das sind öffentlich bereitstehende Autos, in die man sich einfach setzen und wegfahren und sie dann auf eigens für sie reservierten Parkplätzen wieder abstellen kann.

Im Parkhaus steige ich nach Bezahlen einer saftigen Parkgebühr in mein eigenes altvertrautes Fahrzeug. Auf der Fahrt von der Stadt, die niemals schläft in mein gemächliches Dorf, das niemals aufwacht spiele ich mit dem Gedanken, unser zu gross gewordenes Haus gegen eine Wohnung in Tel-Aviv zu tauschen. Schliesslich habe ich noch viele Jahre voller aufregender Erlebnisse vor mir.



„Ich habe immer gedacht, die Zeit wäre ein Dieb, die mir alles stiehlt, was ich liebe. Aber jetzt weiß ich, dass sie uns gegeben, bevor sie uns genommen wird und jeder Tag ist ein Geschenk. Jede Stunde. Jede Minute. Jede Sekunde.“ Zitat aus Alice im Wunderland