In Israel verläuft auch im „Normalzustand“ nichts in ruhigen oder geordneten Bahnen. Immer brodelt es, manchmal mehr, manchmal weniger. Man gebe eine Prise Corona dazu und schon kocht der Topf über. Momentan herrscht das totale Chaos. In der Nacht vom Donnerstag auf Freitag erliess die Regierung eine Reihe von Massnahmen, um die Corona-Ausbreitung einzudämmen. Restaurants sollten ab Freitagabend und Strände ab nächste Woche geschlossen bleiben. Umgehend gingen die Restaurantbesitzer auf die Barrikaden, denn sie hatten sich schon mit Vorräten für das Wochenende eingedeckt. Einen Tag später gab die Regierung nach und den Restaurants wurde eine Frist bis am Dienstag eingeräumt. Am Montag wurde darüber diskutiert, diese Massnahme überhaupt zu annullieren und am Dienstagmorgen wurde verkündet, dass die Restaurants jetzt doch geschlossen werden müssen. Am Dienstagabend hingegen wurde wieder das Gegenteil bekanntgegeben. Kurzum, Zigtausende Restaurantangestellte – darunter meine Tochter – müssen sich jeden Tag nach dem Aufstehen zuerst informieren, ob sie noch eine Arbeit haben oder nicht. Immerhin, die Strände bleiben jetzt – laut neuestem Entschluss – doch geöffnet, also können die Arbeitslosen wenigstens baden gehen. Vor einigen Tagen streikten die Sozialarbeiter/innen, weil sie zu wenig Lohn erhalten, dann streikten die Krankenschwestern und das Pflegepersonal, weil Personalknappheit herrscht. Es gibt Tausende von Arbeitslosen und alle wollen Geld. Mir scheint, ich bin noch eine der Wenigen, die das Privileg haben, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Kein Wunder, gehen jeden Monat vierzig Prozent von meinem Lohn direkt für Steuern ab.
Bei diesem Balagan (= Durcheinander. Eines der ersten Worte das Sie im Hebräischunterricht lernen werden) bleibt man am besten zu Hause und hört keine Nachrichten mehr.
Schon kurz nach neun Uhr morgens komme ich aus der Gärtnerei zurück, wo ich einige Pflanzen für unseren Vorgarten gekauft habe. Ich mache mich gleich ans Umpflanzen, denn um halb elf muss ich für eine geschäftliche Besprechung ins Heimbüro. Unser Vorgarten liegt am Morgen in der prallen Sonne und wenige Minuten nachdem ich in der Erde zu wühlen begonnen habe wird mir klar, dass es ein höchst unangenehmes wenn nicht sogar gefährliches Verfangen ist, an einem Julimorgen in der Sonne Gartenarbeit zu verrichten. Die Hitze treibt mir umgehend den Schweiss aus den Poren und mir wird jedesmal schwindlig, wenn ich mich erhebe. Um nicht ohnmächtig zu werden, gehe ich alle paar Augenblicke ins schattige Haus und trinke kaltes Wasser, bis ich fertig gepflanzt habe. Dann lasse ich die Sträucher mit ungutem Gefühl in ihren Töpfen an der Sonne stehen. Ich hoffe, dass die Pflanzen nicht so empfindlich sind wie ich und dass sie mir die Hitze verzeihen werden. Ich flüchte mich nach drinnen, wo ich mir die durchgeschwitzten Kleider vom Leib reisse und mich mit einer kalten Dusche abkühle. Dann erhole ich mich im Heimbüro von der Sonne und der Hitze.
Gegen Mittag wird meine Online Supermarkt-Bestellung geliefert. Ich bin froh, dass ich drinnen bleiben kann und versorge die Männer, die in der Hitze meine Ware anschleppen, mit kaltem Wasser. Beim Verräumen der Vorräte entdecke ich mit mulmigem Gefühl, dass die Fünziger-Packung Einweg-Mundschutzmasken, die ich bestellt habe, aus China kommt. Vielleicht schnellt bei uns gerade wegen der Maskenpflicht die Zahl der Neuerkrankungen in astronomische Höhen? Vielleicht streuen uns die Chinesen Corona-Pulver auf die Masken bevor sie sie verschiffen? Und vielleicht habe ich jetzt doch einen Sonnenstich. Schnell lege ich die Masken in den Schrank und die Verschwörungs-Gedanken beiseite.
Gegen 14 Uhr muss ich leider noch ein weiteres mal nach draussen, Lianne hat heute einen ersten Arbeitstag, oder wohl eher einen Schnuppertag, als Hilfskraft im Tante-Emma-Laden unseres Dorfes. Der Laden liegt zwar kaum einen halben Kilometer weit von uns entfernt, aber bei dieser Hitze schickt man keinen Hund nach draussen – also fahre ich sie hin. Das Thermometer im Auto zeigt zwar nur 32 Grad, aber gefühlt hat es in der Blechkiste über 40, obwohl sie im Schatten steht. Ich öffne schleunigst die Fenster und stelle die Klimaanlage auf volle Stärke. Wir fahren mit geöffneten Fenstern los und wenn ich könnte, würde ich auch die Türen offen lassen. Der Fahrtwind bläst wie ein heisser Föhn und wir kommen mit zerzausten Haaren und roten Köpfen im Laden an. Willkommen israelischer Sommer! Und viel Erfolg Lianne!
Am Nachmittag kommt Sivan zu Besuch. Das höre ich, wenn sie in die Kurve zu unserer Strasse einbiegt, denn sie hat die Musik im Auto auf volle Lautstärke gedreht und der Bass dröhnt schon aus weiter Ferne in meinen Eingeweiden. Wie immer fährt sie sehr sportlich und mit quitschenden Bremsen in die Einfahrt vor unserem Haus. Dann höre ich sie an der Haustüre fummeln, sie rennt in die Küche, giesst ein grosses Glas Wasser ein, nimmt mir im Vorbeigehen den Schnitz Wassermelone aus der Hand, den ich eben anbeissen wollte und eilt wieder nach draussen. Ich schlucke leer und spähe erstaunt und neugierig aus dem Küchenfenster. Was ist denn da los? Sivan spricht mit dem Strassenfeger. Dieser trinkt gierig und labt sich an meiner Melone. Hmmm, so mitfühlend kenne ich meine Tochter gar nicht.
„Schön, was du da gemacht hast“, sage ich zu ihr, als sie zum zweiten Mal und nun etwas ruhiger eintritt. „Bestimmt hat sich der Mann gefreut.“
Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
Dienstag, 21. Juli 2020
Mittwoch, 15. Juli 2020
Spuren im Sand
Zwölf obligatorische Schuljahre sind abgeschlossen. Auch die Jahre bei den Pfadfindern, in welchen meine Tochter seit der dritten Klasse mit den Kindern unseres Dorfes enge Freundschaften schliessen konnte, sind für ihren Jahrgang nun zu Ende. Aber während meine älteren Kinder zu dieser Zeit wochenlang mit Vorbereitungen für die grosse Schulabschlussfeier und für das letzte Pfadfinderlager beschäftigt waren, verläuft dieses Jahr alles sang- und klanglos und ohne Abschluss. Wie Spuren im Sand: vom Winde verweht, als wäre alles nie dagewesen. Keine aufwändige Feier in der Schule mit Schülern, Eltern und Lehrpersonal. Keine feierliche Zeugnisübergabe. Keine aufregende Promfeier, für welche die Jugendlichen in anderen Jahren für einen kurzen grandiosen Auftritt viel Geld für übertriebene Roben, Schminke und Frisuren ausgeben. Das letzte Pfadfinderlager, in welchem die Kinder mit der Tradition gewordenen „Tränen-Parade“ von ihren Kollegen Abschied nehmen, fällt ins Wasser. Sogar die bescheidenere Alternative, sich für einige Tage im örtlichen Jugendzentrum zu treffen, wird abgesagt. Einige der Kinder haben sich mit dem Virus angesteckt, Viele sind in Quarantäne. Die Pläne für eine Reise mit Freundinnen nach Spanien sind endgültig begraben. Genauso wie die Feier des gesamten Dorfes, in welcher in „normalen“ Jahren der Schulabschluss und die Aufnahme ins Militär der Jugendlichen eines jeden Jahrgangs zelebriert werden. Der grosse Rucksack, den die Jugendlichen jeweils vom Gemeindepräsidenten in einer aufregenden Zeremonie überreicht bekommen, lag gestern plötzlich einfach im Hauseingang. Ich habe keine Ahnung wie er dahin gekommen ist, so still, leise und unbemerkt und es berührt mich traurig, dass er ohne die Zeremonie nichts weiter als ein lumpiges, unscheinbares und billiges Stück Stoff ist.
„Wie wär’s mit Ende November?“, kommt dieser direkt zur Sache.
„Ja super!“ antwortet Lianne, nicht sicher ob sich der junge Mann einen Spass auf ihre Kosten erlaubt.
Und dann, als wäre es das Natürlichste der Welt, trifft schon am nächsten Morgen die Nachricht ein: „Malschabit jekara, dein Dienstdatum ist auf den 25. November verschoben worden.“ Immerhin ein Lichtblick! Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass sich die Zeiten bis dann etwas normalisieren.
Viele Jugendliche unserer Schule machen vor dem obligatorischen Militärdienst in verschiedenen Ämtern ein Freiwilligenjahr, aber all diese Initiativen sind jetzt in Gefahr. Einige Freundinnen sollten als Delegierte der jüdischen Agentur für ein Jahr in die USA oder nach Südamerika abgsandt werden. Ob sie jetzt noch in diese Corona-Hotspots reisen können oder wollen? Etwa die Hälfte der Pfadfinderabgänger aus unserem Dorf haben sich verpflichtet, freiwillig ein Jahr für diese Jugendorganisation zu arbeiten. Aber sogar das könnte nun auf Eis gelegt werden, denn der Staat droht die finanzielle Unterstützung der Pfadfinderbewegung im kommenden Jahr einzustellen. Jetzt muss überall gespart werden und eine Organisation zu unterstützen in welcher Corona-bedingt kaum Aktivitäten stattfinden, scheint sinnlos.
Was empfinden Jugendliche, die nun gezwungenermassen in dieser unsicheren Zeit zu Hause herumhängen? Wie blicken sie in die Zukunft, wenn die Gegenwart nur aus Enttäuschungen, Angst und Ungewissheit besteht?
Nur etwas rückt unwiederruflich näher: der Einberufungsbefehl der Armee. Aber als wäre mit allen Enttäuschungen nicht genug, empfindet Lianne die Funktion, welche das Militär für sie vorgesehen hat, als Riesendämpfer. Sie fühlt sich völlig verkannt, das Amt entspricht weder ihrem Charakter noch ihren Fähigkeiten. Die zweijährige Militärpflicht ist an sich schon eine recht bedrohliche Herausforderung, wenn diese dann noch mit einer unpassenden Funktion einhergeht, sind das recht betrübliche Aussichten für den Verpflichteten. Auch das Datum – schon Anfang August, nur zwei Wochen nach der letzten Abschlussprüfung – kommt für sie viel zu schnell. Sie wollte doch noch wenigstens ein bisschen Freiheit von einschränkenden Institutionen schnuppern, nachdem sie sich nach zwölf Jahren Schule gleich in eine weitere Einrichtung ohne freie Entfaltungsmöglichkeit wird schicken müssen. Viele Tränen fliessen bei uns in diesen Wochen. Auch ich weiss schon bald nicht mehr, wo ich die Kraft hernehmen soll, meine Kinder in dieser unheilvollen Zeit aufzumuntern. Lianne ertrinkt in Selbstmitleid. Und ich mit ihr, weil ich als Mutter immer noch mit meinen Babies mitleide, wobei es keine Rolle spielt, dass das Baby schon achtzehn Jahre alt ist. Aber dann erinnere ich mich meiner Rolle als verantwortlicher Erwachsener und versuche sie zu motivieren. Ich erzähle ihr, dass auch in meinem Leben nicht immer alles so verlaufen ist, wie ich es mir vorgestellt oder gewünscht hätte, dass aber hinterher immer Alles sein Gutes hatte. Auch aus den unwillkommensten Schicksalsschlägen haben sich rückblickend erfreuliche Dinge entwickelt oder wenigstens wichtige Lektionen ziehen lassen. Wenn eine Türe zugeht, ist noch immer irgendwo eine andere aufgegangen, das habe ich immer wieder selbst erfahren. Lianne ist immer noch eher frustriert als überzeugt aber sie ahnt, dass sie im Moment an der unpassenden Einteilung wohl kaum etwas ändern kann.
Auf ein Ziel will sie aber auf keinen Fall verzichten: Noch vor dem Militärdienst möchte sie unbedingt ihre Augen lasern lassen. Dazu muss das Einrückdatum verschoben werden. Starke Kurzsichtigkeit ist eine echte Belastung im Alltag, vor allem wenn man im Dienst bei Feldbedingungen in nur fünf Minuten aus dem Schlaf fertig angezogen Parade stehen soll. Da bleibt für Kontaklinsen-Kram keine Zeit.
Aber das Militär, dieses undurchdringliche und träge System, hat für die Problemchen eines kleinen Mädchens kein Gehör. Lianne schreibt täglich Anträge und bittet um Verschiebung des Datums. Per Mail, WhatsApp und am Telefon legt sie ihre Bitte unzählige Male dar. Sie schreibt, dass sie wegen ihrer Kurzsichtigkeit eingeschränkt ist, dass sie Ende August einen Termin für die Laserbehandlung hat und dass die Erholung im Fall ihrer komplizierteren Operation bis zu einem Monat dauern kann. Doch im israelischen Militär scheint man andere Sorgen zu haben. An der zuständigen Stelle antwortet kaum jemand oder nur nach langer zermürbender Warterei. Wenn doch einmal jemand abnimmt, ist es meist eine Soldatin, deren Aufgabenbereich darauf begrenzt zu sein scheint, den Telefonhörer in der Hand zu halten. Niemand weiss etwas, niemand kennt jemanden, niemand kann jemanden erreichen, niemand kann helfen. Das unverrückbare Datum kommt drohend und unaufhaltsam näher. Dann trifft eine überraschende und unlogische Nachricht vom zuständigen Amt ein: „Malschabit jekara (Anrede für eine für den Sicherheitsdienst vorgesehene Frau), deine Bitte auf Änderung des Anforderungsprofils wird abgelehnt, dein Eintrittsdatum bleibt unverändert 6. August.“ Als Lianne anruft und nach nervenaufreibenden langen Minuten endlich jemanden am Telefon hat, stellt sich heraus, dass ihr Gesuch wohl aufgrund einer Verwechslung mit der Bitte einer anderen Soldatin abgelehnt worden ist. Lianne ist einem Nervenzusammenbruch nahe. In Tränen aufgelöst sieht sie sich schon wegen Dienstverweigerung als letzte Möglichkeit im Militärgefängnis.
Beim Militär irgendeinen Wunsch oder eine Änderung bewilligt zu bekommen, grenzt ans Unmögliche, es sei denn, man kennt eine Person an der entscheidenden Dienststelle. Da sich aber das ganze Personal in ständiger Rotation befindet, findet man eher eine Nadel im Heuhaufen als jemanden, der zur richtigen Zeit im richtigen Amt ist. Doch dann kommt Lianne freudig erregt von einem Pfaditreffen nach Hause: einer der Kollegen vom älteren Jahrgang, der gerade seinen Dienst absolviert, kennt einen Offizier aus dem Nachbarsdorf, der helfen könnte. Über mehrere Mittelmänner wird die vielversprechende Telefonnummer in Erfahrung gebracht, dann erklärt sie dem Offizier Ran ihr Anliegen.
Was empfinden Jugendliche, die nun gezwungenermassen in dieser unsicheren Zeit zu Hause herumhängen? Wie blicken sie in die Zukunft, wenn die Gegenwart nur aus Enttäuschungen, Angst und Ungewissheit besteht?
Nur etwas rückt unwiederruflich näher: der Einberufungsbefehl der Armee. Aber als wäre mit allen Enttäuschungen nicht genug, empfindet Lianne die Funktion, welche das Militär für sie vorgesehen hat, als Riesendämpfer. Sie fühlt sich völlig verkannt, das Amt entspricht weder ihrem Charakter noch ihren Fähigkeiten. Die zweijährige Militärpflicht ist an sich schon eine recht bedrohliche Herausforderung, wenn diese dann noch mit einer unpassenden Funktion einhergeht, sind das recht betrübliche Aussichten für den Verpflichteten. Auch das Datum – schon Anfang August, nur zwei Wochen nach der letzten Abschlussprüfung – kommt für sie viel zu schnell. Sie wollte doch noch wenigstens ein bisschen Freiheit von einschränkenden Institutionen schnuppern, nachdem sie sich nach zwölf Jahren Schule gleich in eine weitere Einrichtung ohne freie Entfaltungsmöglichkeit wird schicken müssen. Viele Tränen fliessen bei uns in diesen Wochen. Auch ich weiss schon bald nicht mehr, wo ich die Kraft hernehmen soll, meine Kinder in dieser unheilvollen Zeit aufzumuntern. Lianne ertrinkt in Selbstmitleid. Und ich mit ihr, weil ich als Mutter immer noch mit meinen Babies mitleide, wobei es keine Rolle spielt, dass das Baby schon achtzehn Jahre alt ist. Aber dann erinnere ich mich meiner Rolle als verantwortlicher Erwachsener und versuche sie zu motivieren. Ich erzähle ihr, dass auch in meinem Leben nicht immer alles so verlaufen ist, wie ich es mir vorgestellt oder gewünscht hätte, dass aber hinterher immer Alles sein Gutes hatte. Auch aus den unwillkommensten Schicksalsschlägen haben sich rückblickend erfreuliche Dinge entwickelt oder wenigstens wichtige Lektionen ziehen lassen. Wenn eine Türe zugeht, ist noch immer irgendwo eine andere aufgegangen, das habe ich immer wieder selbst erfahren. Lianne ist immer noch eher frustriert als überzeugt aber sie ahnt, dass sie im Moment an der unpassenden Einteilung wohl kaum etwas ändern kann.
Auf ein Ziel will sie aber auf keinen Fall verzichten: Noch vor dem Militärdienst möchte sie unbedingt ihre Augen lasern lassen. Dazu muss das Einrückdatum verschoben werden. Starke Kurzsichtigkeit ist eine echte Belastung im Alltag, vor allem wenn man im Dienst bei Feldbedingungen in nur fünf Minuten aus dem Schlaf fertig angezogen Parade stehen soll. Da bleibt für Kontaklinsen-Kram keine Zeit.
Aber das Militär, dieses undurchdringliche und träge System, hat für die Problemchen eines kleinen Mädchens kein Gehör. Lianne schreibt täglich Anträge und bittet um Verschiebung des Datums. Per Mail, WhatsApp und am Telefon legt sie ihre Bitte unzählige Male dar. Sie schreibt, dass sie wegen ihrer Kurzsichtigkeit eingeschränkt ist, dass sie Ende August einen Termin für die Laserbehandlung hat und dass die Erholung im Fall ihrer komplizierteren Operation bis zu einem Monat dauern kann. Doch im israelischen Militär scheint man andere Sorgen zu haben. An der zuständigen Stelle antwortet kaum jemand oder nur nach langer zermürbender Warterei. Wenn doch einmal jemand abnimmt, ist es meist eine Soldatin, deren Aufgabenbereich darauf begrenzt zu sein scheint, den Telefonhörer in der Hand zu halten. Niemand weiss etwas, niemand kennt jemanden, niemand kann jemanden erreichen, niemand kann helfen. Das unverrückbare Datum kommt drohend und unaufhaltsam näher. Dann trifft eine überraschende und unlogische Nachricht vom zuständigen Amt ein: „Malschabit jekara (Anrede für eine für den Sicherheitsdienst vorgesehene Frau), deine Bitte auf Änderung des Anforderungsprofils wird abgelehnt, dein Eintrittsdatum bleibt unverändert 6. August.“ Als Lianne anruft und nach nervenaufreibenden langen Minuten endlich jemanden am Telefon hat, stellt sich heraus, dass ihr Gesuch wohl aufgrund einer Verwechslung mit der Bitte einer anderen Soldatin abgelehnt worden ist. Lianne ist einem Nervenzusammenbruch nahe. In Tränen aufgelöst sieht sie sich schon wegen Dienstverweigerung als letzte Möglichkeit im Militärgefängnis.
Beim Militär irgendeinen Wunsch oder eine Änderung bewilligt zu bekommen, grenzt ans Unmögliche, es sei denn, man kennt eine Person an der entscheidenden Dienststelle. Da sich aber das ganze Personal in ständiger Rotation befindet, findet man eher eine Nadel im Heuhaufen als jemanden, der zur richtigen Zeit im richtigen Amt ist. Doch dann kommt Lianne freudig erregt von einem Pfaditreffen nach Hause: einer der Kollegen vom älteren Jahrgang, der gerade seinen Dienst absolviert, kennt einen Offizier aus dem Nachbarsdorf, der helfen könnte. Über mehrere Mittelmänner wird die vielversprechende Telefonnummer in Erfahrung gebracht, dann erklärt sie dem Offizier Ran ihr Anliegen.
„Wie wär’s mit Ende November?“, kommt dieser direkt zur Sache.
„Ja super!“ antwortet Lianne, nicht sicher ob sich der junge Mann einen Spass auf ihre Kosten erlaubt.
Und dann, als wäre es das Natürlichste der Welt, trifft schon am nächsten Morgen die Nachricht ein: „Malschabit jekara, dein Dienstdatum ist auf den 25. November verschoben worden.“ Immerhin ein Lichtblick! Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass sich die Zeiten bis dann etwas normalisieren.
Donnerstag, 9. Juli 2020
Weisses Haar und weisse Zähne
In den letzten Märztagen, als ich vor dem Lockdown noch zum letzten mal ins Büro fuhr, liess ich spontan den Friseurtermin sausen, der noch in meinem Kalender vermerkt war. Warum jetzt noch die Haare färben, fragte ich mich, wo doch die totale Apokalypse, oder doch sicher einige unheilvolle Monate vor uns standen. In den darauffolgenden Wochen ohne soziale Kontakte liess ich meine natürliche Haarfarbe mutig spriessen.
Unterdessen sind vier Monate vergangen und als es kürzlich gerade so aussah, als würden wir demnächst unseren gewohnten Alltag wieder aufnehmen, begann ich das Wachstum meiner Haare täglich ungeduldigst und milimeterweise herbeizufiebern. Mir gefällt das ungewohnte Grau, aber die Übergangszeit, in welcher rund um den Scheitel ein grauer Balken trohnt, während die ehemals gefärbten Haare immer undefinierter und bleicher werden, ist schwer zu ertragen. Müsste ich im Moment meine Haarfarbe definieren, wäre wohl Uringelb der am besten passendste Ausdruck.
„Oh, mais c’est dégueulasse! Es ist eine Katastrophe! Das kannst du dir unmöglich antun!“ meint mein französisch-stämmiger Friseur zum grau-gelben Fiasko auf meinem Kopf, als ich meine Haare etwas kürzen lasse. Er hat ja recht, mein Aussehen ist im Moment wirklich kaum zu verantworten. Dank der zweiten Welle darf ich aber zum Glück weiterhin noch etwas zuhause bleiben und ich ertrage so die temporäre farbliche Katastrophe etwas besser. Der einizige soziale Anlass, für den ich im letzten Monat das Haus verlassen musste, war eine Beerdigung, und da trug ich, weil die Zeremonie an der prallen Sonne stattfand, einen Sonnenhut.
Allzu alt und vernachlässigt möchte ich aber doch nicht aussehen und bei einem Blick in den Spiegel auf der Suche nach möglichen Verbesserungen beschliesse ich, meine Zähne aufhellen zu lassen. Leider bin ich von der Natur, was die Farbe meiner Zähne anbetrifft, nicht gerade gesegnet. Meine Zähne sind fast so gelb wie mein Haar, aber nicht Uringelb, sondern eher so ein schmutziges Maisgelb. Soviel Gelb steht keinem Mensch! Das scheint sogar für meine Zahnversicherung ein Grund zu sein, die rein ästhetische Behandlung zu bewilligen. Sie übernimmt zwei Drittel der Kosten und sobald die Corona-Beschränkungen etwas gelockert werden, melde ich mich beim Zahnarzt an. In der Zahnarztpraxis wird nach einem Abdruck meiner Zähne eine Silikonform angefertigt. In diese Form gebe ich nun abends ein Bleichmittel und gehe damit schlafen. In der ersten Nacht schlafe ich sehr unruhig. Die weiche und genau aufliegende Form ist zwar kaum spürbar, aber ich träume, dass mir das Mittel die Zähne zerfrisst. Aber die schlaflose Nacht lohnt sich. Am Morgen danach wache ich mit blendend weissen Zähnen auf! Na ja, natürlich übertreibe ich wieder einmal masslos, aber das Gelb weicht tatsächlich Morgen für Morgen einem etwas strahlenderen Ton und eines wunderschönen Morgens begrüsse ich stolz eine Reihe (fast) WEISSER Zähne. Nun noch etwas roter Lippenstift... Ich bin begeistert!
Unterdessen sind vier Monate vergangen und als es kürzlich gerade so aussah, als würden wir demnächst unseren gewohnten Alltag wieder aufnehmen, begann ich das Wachstum meiner Haare täglich ungeduldigst und milimeterweise herbeizufiebern. Mir gefällt das ungewohnte Grau, aber die Übergangszeit, in welcher rund um den Scheitel ein grauer Balken trohnt, während die ehemals gefärbten Haare immer undefinierter und bleicher werden, ist schwer zu ertragen. Müsste ich im Moment meine Haarfarbe definieren, wäre wohl Uringelb der am besten passendste Ausdruck.
„Oh, mais c’est dégueulasse! Es ist eine Katastrophe! Das kannst du dir unmöglich antun!“ meint mein französisch-stämmiger Friseur zum grau-gelben Fiasko auf meinem Kopf, als ich meine Haare etwas kürzen lasse. Er hat ja recht, mein Aussehen ist im Moment wirklich kaum zu verantworten. Dank der zweiten Welle darf ich aber zum Glück weiterhin noch etwas zuhause bleiben und ich ertrage so die temporäre farbliche Katastrophe etwas besser. Der einizige soziale Anlass, für den ich im letzten Monat das Haus verlassen musste, war eine Beerdigung, und da trug ich, weil die Zeremonie an der prallen Sonne stattfand, einen Sonnenhut.
Allzu alt und vernachlässigt möchte ich aber doch nicht aussehen und bei einem Blick in den Spiegel auf der Suche nach möglichen Verbesserungen beschliesse ich, meine Zähne aufhellen zu lassen. Leider bin ich von der Natur, was die Farbe meiner Zähne anbetrifft, nicht gerade gesegnet. Meine Zähne sind fast so gelb wie mein Haar, aber nicht Uringelb, sondern eher so ein schmutziges Maisgelb. Soviel Gelb steht keinem Mensch! Das scheint sogar für meine Zahnversicherung ein Grund zu sein, die rein ästhetische Behandlung zu bewilligen. Sie übernimmt zwei Drittel der Kosten und sobald die Corona-Beschränkungen etwas gelockert werden, melde ich mich beim Zahnarzt an. In der Zahnarztpraxis wird nach einem Abdruck meiner Zähne eine Silikonform angefertigt. In diese Form gebe ich nun abends ein Bleichmittel und gehe damit schlafen. In der ersten Nacht schlafe ich sehr unruhig. Die weiche und genau aufliegende Form ist zwar kaum spürbar, aber ich träume, dass mir das Mittel die Zähne zerfrisst. Aber die schlaflose Nacht lohnt sich. Am Morgen danach wache ich mit blendend weissen Zähnen auf! Na ja, natürlich übertreibe ich wieder einmal masslos, aber das Gelb weicht tatsächlich Morgen für Morgen einem etwas strahlenderen Ton und eines wunderschönen Morgens begrüsse ich stolz eine Reihe (fast) WEISSER Zähne. Nun noch etwas roter Lippenstift... Ich bin begeistert!
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