Die genauen Zahlen sind mir nicht bekannt, aber ich schätze, dass von 350 Mitarbeitern, die bis vor Kurzem an meinem Arbeitsplatz angestellt waren, etwa 150 im vergangenen Quartal wegrationiert worden sind. Nun stehen zahlreiche Büros leer. Im Zuge der Umstrukturierung sollen demnächst etwa 100 Mitarbeiter von einem anderen Sitz hierher verlegt werden. Darüber bin ich nicht sonderlich erfreut, denn ich habe eine gravierende Merkschwäche für Gesichter und Namen. Dass die vereinzelten Personen, die ich mir mit Mühe habe merken können, jetzt mit unzähligen neuen Gesichtern durchgemischt und aufgefrischt werden sollen, ist für mich verheerend.
In Vorbereitung für die „neuen“ Mitarbeiter und um das Durcheinander komplett zu machen, wird unsere Sitzordnung in den Büros neu organisiert und diese Woche findet der grosse Umzug statt.
Vor einigen Tagen musste auch ich umziehen. Die mysteriöse höhere Macht, die über die Büro-Zuteilung entscheidet, teilte mir ein Zweier-Zimmer mit einem mir unbekannten (wie könnte es anders sein) Mann von einer anderen Abteilung zu.
Im israelischen Fernsehen gibt es eine Reality-Show, in welcher ledige Frauen und Männer verheiratet werden, ohne sich vorher zu kennen, nachdem sie von einem Expertenteam für passend befunden worden sind. Im Ernst. Das ist unglaublich und absurd, aber genau so fühlt sich auch meine neue Büro-Partnerschaft an. Während ich meinen Mann jahrelang prüfte, bevor wir heirateten, obwohl ich mit ihm schlussendlich nur wenige Wochenstunden mehr verbringe als mit meinem Büropartner (und die meisten davon im Schlaf), werde ich nun den Grossteil meiner Zeit mit einem Unbekannten teilen, den ich noch nie gesehen habe. Ich bin aufgeregt. Werden wir harmonieren? Für alle Fälle lege ich als erste Massnahme die Fernbedienung der Klimaanlage demonstrativ auf MEINEN Tisch.
Als der junge Mann sich bei mir vorstellt, macht er – das kann ich nicht bestreiten – einen formidablen Eindruck: jung, nett, gutaussehend, gute Manieren, gebildet, mit schönem französischem Namen und charmantem französischem Akzent. Besser hätte ich selbst nicht wählen können.
Und doch wird mir nach wenigen Stunden im gemeinsamen Büro klar, dass aus dieser Partnerschaft nichts werden kann – denn F. ist ein Zappelphilipp. Wer mich kennt, weiss, dass zappelnde Glieder für mich ein absolutes Tabu sind. Zappelnde Beine, Füsse oder Arme bringen mein inneres Gleichgewicht aus der Ruhe, deshalb meide ich die angenehmste Person, wenn sie die Glieder nicht stillhalten kann. Zappeln bringt mich an den Rand des Wahnsinns.
Genau genommen sehe ich den charmanten Zappler in meinem Büro gar nicht, wenn ich den Blick auf meinen Bildschirm richte, denn er sitzt im 90-Grad-Winkel zu meiner Linken und er verschwindet, bis auf die untersten 30 Zentimeter, hinter Bildschirm und Tisch.
Das sind eigentlich ideale Bedingungen – wäre da nicht der zappelnde Fuss, den ich in meinem linken Augenwinkel ungewollt wahrnehme. So sehr ich auch versuche, mich nur auf meinen Bildschirm zu konzentrieren und alles darum herumliegende auszuschalten, zieht der zappelnde Fuss meine Aufmerksamkeit magisch an. Sobald der Fuss zu zappeln beginnt, ist es mit meiner Konzentration augenblicklich dahin und ich verliere den roten Faden inmitten der kompliziertesten Aufgabe oder einer wichtigen Telefonbesprechung.
Der Zappelfuss, soviel weiss ich nach einem ersten gemeinsamen Bürotag, zappelt während etwa 50% meiner Arbeitszeit. Wenn es mit dem Zappeln ganz schlimm wird, steht der Zappelphilipp auf, dreht einige Runden im Korridor und setzt sich dann beruhigt wieder hin. Bis... – bis er wieder zu zappeln anfängt. Jetzt vermisse ich schon fast meine frühere Bürokollegin, obwohl mich ihr lautes Schlucken beim Kaffeetrinken immer ärgerte. Als ich am Abend das Büro verlasse, bin ich selbst schon ganz hibbelig und mache mir ernsthafte Sorgen um meine zukünftige Leistungsfähigkeit. Sollte ich mit meinem Vorgesetzten darüber sprechen? Wobei – wenn die Firma die Kündigung von mehr als einem Drittel Mitarbeiter ohne weiteres verkraftet, wird wahrscheinlich die zu erwartende Leistungseinbusse meiner Wenigkeit niemanden aus der Fassung bringen. Ich werde mich mit dem Zappelphilipp abfinden müssen. In Beziehungen muss man Kompromisse eingehen. Aber die Klimaanlage bleibt auf jeden Fall unter meiner Kontrolle.
Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
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4 Kommentare:
Kann ich sehr gut verstehen. Ich mach mir auch schon ein bisschen Sorgen der rund zwanzig Zappelphilippe wegen in meinem zukünftigen "Büro".
Danke für dieses ausnehmend amüsant geschriebene Lesevergnügen.
Herzliche Grüsse
Sibylle
Liebe Schreibschaukel, Auweia, sich mit 20 Zappelphilippen auseinandersetzen zu müssen ist wahrlich kein Kinderspiel. Aber immerhin solltest du dankbar sein, dass du nicht in Israel Lehrerin bist, sonst hättest du um die 35 davon!
Liebe wegwunder, Vielen Dank auch an dich!
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