Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
Samstag, 29. Dezember 2018
Feiertage
Die Weihnachts- und Neujahrstage gehen bei uns, erwartungsgemäss, sang- und klanglos vorbei. Kein Urlaub, kein Umherrennen, um Geschenke zu besorgen, kein Weihnachtsbaum, keine Silvesterparty. Arbeit, Alltag, die üblichen Verrichtungen, alles ganz unweihnachtlich. Kein Zeichen von Festlichkeit. In Haifa und anderen Orten, in denen Christen leben, soll es einige Feierlichkeiten geben, aber davon bekomme ich nichts mit, denn ich verbringe die Tage im Büro. Wenigstens geht es hier etwas ruhiger zu und her, denn auch unsere amerikanischen Arbeitskollegen sind im Feiertagsurlaub. Und ich? Zum Kaffee esse ich Weihnachtsgebäck, das ich per Post erhalten habe. Ich bringe Schokoladekläuse ins Büro und behänge damit die Topfpflanzen. Und in Gedanken verweile ich bei meiner Familie in der Schweiz.
Dass diese Tage hier so unbeachtet vorbeigehen, lässt mich nicht kalt. Einst konnte ich es sogar kaum ertragen. Unterdessen bin ich aber wohl schon einiges integrierter, oder einfach ernüchtert. Ich weiss, dass die meisten Feiernden in Europa Weihnachten nur als Pflichtprogramm angehen. Niemand hat so richtig Lust auf Familientreffen mit zu vielen Anwesenden, zu viel Lärm und zu viel Durcheinander. Die Kommerzialisierung des Festes finde ich abstossend. Und – die Geburt Jesu feiern? Zum Glück muss ich mich damit nicht auseinandersetzen. Ich hätte grösste Mühe, die traditionellen Festlichkeiten mitzufeiern oder gar meinen Kindern zu überliefern, ohne den tieferen Sinn zu hinterfragen. Und doch. Ganz gleichgültig werden mich diese Tage nie lassen. Denn Erinnerungen und Traditionen sind das, was in uns nie sterben kann.
Wenn ich an Weihnachten meiner Kindheit denke, erinnere ich mich an Tage des ungeduldigen Wartens auf das bezaubernde Fest. An Abende am Familientisch im Advent mit Kerzen, Liedern und Naschereien. An versteckte Geschenke im Kämmerchen, die wir durch das Schlüsselloch erspähen konnten. An nächtliche Schneeballschlachten auf dem Weg zur Weihnachtsmesse. An Schokolade, von welcher jede Nacht immer mehr vom geschmückten Baum verschwand, während der Dieb nie gefunden wurde. Auch Neujahr wurde immer gefeiert, und wenn es nur ein Rimuss war, den wir Kinder am Silvesterabend feierlich aus Sektgläsern trinken durften. Vor allem aber denke ich wehmütig an die klirrende Kälte, den Schnee und die ruhige, verzauberte Winterlandschaft.
Wer die „Heimat“ verlässt, wird auf Ewig als Entwurzelter zwischen zwei Welten leben. Das bedeutet auch, dass ich von beiden Welten das wählen kann, das mir zusagt. Unterdessen habe ich das viel beschaulichere und bescheidenere Chanukka lieben gelernt. Und doch vermisse ich etwas Unklares schmerzlichst, wobei mir ganz rationell bewusst ist, dass es sich wohl grösstenteils um Illusionen handelt. Illusionen einer Heimat. Sie werden nie verschwinden, auch wenn man nicht mehr an sie glaubt.
Mittwoch, 26. Dezember 2018
Unfall am Kinafluss
Empfangskomitee in der Wüste |
Unter der Woche sind Eyal und ich oft rund um die Uhr viel zu beschäftigt, deshalb gehen wir die Wochenenden gerne etwas gemütlicher an. Wir tun möglichst einfach NICHTS und es kann schon vorkommen, dass sich die Kinder wundern, wieviele Stunden wir müssig auf dem Sofa ausharren, während sie kommen und gehen. Nur ab und zu, wenn ich mich selbst vor Langeweile nicht mehr riechen kann, treffen wir uns mit Freunden, gehen ins Kino oder unternehmen einen Ausflug oder eine Wanderung.
Hier lächelt Eyal noch nichtsahnend in die Kamera, während der Gestürzte im Hintergrund schon am Boden liegt |
Wie aufregend die Wanderung am Wochenende werden würde, das konnten wir nicht ahnen, als wir der Einladung von einigen wanderfreudigen Bekannten zusagten. Unser Ziel war eine Rundwanderung in der Judäa-Wüste. Die Route verläuft im trockenen Flussbett des Kinaflusses und steigt schon im ersten Drittel in eine schmale Schlucht hinab, in welche der Fluss – in der kurzen Zeit des Jahres, in welcher er Wasser führt – über eine schroffe Felswand stürzt. Als wir am am oberen Teil der Felswand eintrafen, war kurz vor uns schon eine grössere Wandergruppe dort angekommen und mir fiel auf, dass unter den herumstehenden Wanderern eine seltsame Unruhe herrschte und mehrere der Leiter aufgeregt in ihre Funkgeräte sprachen. Wir hielten uns aber nur sehr kurz auf, um die spektakuläre Schlucht im Hintergrund zu fotografieren. Dann begannen wir den Abstieg in die Schlucht. Nach wenigen Minuten hatten wir das untere Becken des Wasserfalles erreicht, in welchem sich auch in der trockenen Jahreszeit immer Wasser befindet. Aus einem erfrischenden Bad wurde aber nichts, denn bald entdeckten wir mit Grauen, dass am Rande des Beckens ein schwer verletzter Wanderer lag, der am ganzen Körper zitterte und lautstark stöhnte. Nach einem kurzen Wortwechsel mit anderen Wanderern kapierten wir schockiert das Unfassbare: der Mann, der zu der Gruppe gehörte, die wir eben überholt hatten, war offensichtlich wenige Minuten vorher die ganze etwa zwanzig Meter hohe Felswand hinuntergestürzt. Er hatte Glück im Unglück und war unten im Wasserbecken gelandet. Jemand hatte ihn herausgefischt und einige Herbeigeeilte leisteten erste Hilfe.
Wir entfernten uns und legten an einem der nächsten kleinen Wasserbecken eine Pause ein, versuchten uns von dem Schock zu erholen, kochten Kaffee und rätselten, wie der Verletzte wohl aus der Schlucht transportiert werden würde. Zu uns gesellten sich weitere Wanderer und eine Familie mit drei kleineren Kindern und einem Hund, die allesamt badeten.
Bald sahen wir Rettungsleute in leuchtendorangen Shirts und grossen Rucksäcken emsig die Schlucht hinunterklettern. Wenige Minuten später tauchte auch schon die Ambulanz in Form eines grossen Rettungshelikopters über unseren Köpfen am Rande der Schlucht auf. Wenn wir aber bis vor Kurzem gedacht hatten, dass wir von hier aus gemütlich dem Rettungsspektakel beiwohnen könnten, wurde uns nun blitzschnell klar, dass die kommenden Minuten alles andere als beschaulich sein würden. Der Helikopter versuchte, sich dem Wasserbecken am schmalen Ende der Schlucht zu nähern und verursachte dabei einen ohrenbetäubenden Lärm. Sand und Kieselsteine peitschten uns ins Gesicht und schon flogen die ersten Mützen, Kleidungsstücke, Brillen und Rucksäcke durch die Luft. Augenblicklich stoben alle Wanderer davon und flüchteten in die entgegengesetzte Richtung, in den flächer werdenden Teil der Schlucht. Auch ich packte meinen Rucksack und kletterte eilig auf allen Vieren davon. Zurückblickend sah ich, dass Eyal der Familie half, die badenden Kinder aus dem Wasserbecken zu ziehen. Weitere Männer kümmerten sich um den grossen Hund, der vor Schreck erstarrt keinen Schritt mehr vor- oder rückwärts zu machen gewillt war. Ich nahm mich der grösseren beiden Kinder an, die nun zu mir gestossen waren, schnappte ihre Schuhe, Kleider und Rücksäcke und gemeinsam suchten wir Schutz hinter einem Felsvorsprung. Während unsere Eingeweide und Trommelfelle ob dem höllischen Lärm zu zerbersten drohten, konnten wir beobachten, wie zwei Männer und eine Bahre aus dem Helikopter abgeseilt wurden.
Dann drehte der Helikopter ab und flog einige Runden über der Schlucht, während – so nehme ich an, denn das entzog sich unseren Blicken – der Verletzte behandelt und auf der Bahre festgezurrt wurde. Diese Pause benutzten wir, um unsere in alle Richtungen davongestobenen Wanderkollegen wiederzufinden und dann die Wanderung weiterzuführen. Wie der Verletzte in den Helikopter hochgezogen wurde, sahen wir dann erst am Abend zuhause in den Nachrichten.
Die Wanderung legten wir noch wie geplant zurück, aber unsere Gedanken und Gespräche drehten sich den ganzen Tag nur um den unglücklich Gestürzten. So sorgfältig wie an diesem Samstag habe ich noch auf keiner Wanderung jeden einzelnen Schritt gewählt. Und nun bin ich wieder bereit für einige langweilige Wochenenden in der heimischen Stube.
Wasserbecken laden zum Baden ein |
Dann drehte der Helikopter ab und flog einige Runden über der Schlucht, während – so nehme ich an, denn das entzog sich unseren Blicken – der Verletzte behandelt und auf der Bahre festgezurrt wurde. Diese Pause benutzten wir, um unsere in alle Richtungen davongestobenen Wanderkollegen wiederzufinden und dann die Wanderung weiterzuführen. Wie der Verletzte in den Helikopter hochgezogen wurde, sahen wir dann erst am Abend zuhause in den Nachrichten.
Die Kamele scheren sich einen Deut um das ganze Spektakel |
Donnerstag, 20. Dezember 2018
Regen
Wenn sie denken, dass der in den Sommermonaten in Europa ausgebliebene Regen irgendwo im Universum verdunstet wäre, dann täuschen sie sich. Er ist einfach geographisch umgezogen und ergiesst sich nun bei uns. Wie aus Kübeln. Das ist fantastisch. Wir können die Wassermassen gut gebrauchen. Schon ist alles grün. Es lebe der Klimawandel!
Samstag, 15. Dezember 2018
Guten Morgen!
Kurz vor sieben Uhr morgens laufe ich durch das morgensonnendurchflutete Porat. Porat ist ein verschlafenes Provinzkaff am Ende der Welt. Einige Bauernhöfe, Gewächshäuser, halbverrostete landwirtschaftliche Geräte, ein angebundener Esel, streunende Hunde. Das deutsche Äquivalent für Porat wäre wohl Hintertupfingen. Mein Gott, denke ich nun, während ich über die Dorfstrasse trabe, was hat ein halbwegs vernünftiger Mensch zu dieser frühen Morgenstunde in Hintertupfingen verloren? Bin ich eigentlich noch bei Trost? Ich habe laufend schon acht Kilometer hinter mir und ahne nun, dass ich wohl noch mindestens ebensoviele vor mir habe, um wieder nach Hause zurückzukehren. Nach Hintertupfingen bin ich geraten, weil ich kurz vor Vordertupfingen (hebr. Eyn Sarid) spontan eine unbekannte Abzweigung gewählt habe. Dann war die Gegend entlang den Erdbeerplantagen und Zitrushainen so verlockend, dass ich mich einfach vom Weg leiten liess. Während Laufen im israelischen Sommer eine Qual ist, weil man der Hitze zu keiner Tageszeit entkommen kann, ist es im Winter umso belebender. Besonders verfallen bin ich der Frische der frühen Morgenstunden. Der Himmel ist heute wolkenlos, als die Sonne um halb sieben aufgeht und der neue Tag anbricht. Kaum hat die Sonne den Horizont überstiegen, blendet sie schon in voller Kraft und verheisst einen fantastischen Tag. Trotzdem bleibt es angenehm kühl. Abgesehen von einigen oft kaum zu umgehenden Pfützen auf den Feldwegen – ein Überbleibsel vom letzten Regen – sind die Bedingungen zum Laufen ideal. Wie von selbst legen meine Füsse Kilometer um Kilometer zurück und als ich um acht Uhr wieder zuhause eintreffe, zeigt meine GPS-Uhr 17 Kilometer. Ja, ich bin nicht bei Trost und jetzt kann der Tag beginnen!
Dienstag, 4. Dezember 2018
Chanukka-Makrönchen
Santa in Jerusalem |
Ich bin in der Schweiz aufgewachsen, lebe schon drei Jahrzehnte in Israel und spreche und schreibe fast perfekt hebräisch. Gerade deshalb weiss ich persönlich nur zu gut, wie komplex und vielschichtig die Problematik der Entwurzelung ist. So gibt es bei uns zum Beispiel am ersten Chanukka-Abend – während in allen herkömmlichen jüdischen Familien Kartoffellatkes gebraten werden – Raclette. Wenn Weihnachten und Chanukka zeitlich zusammenfallen, kann es vorkommen, dass unsere Chanukkia mit Christbaumschmuck dekoriert ist. An Pessach sind die Matzen viel erträglicher, wenn man sie grosszügig mit Osterhasenschokolade belegt. Und im Dezember kommt früher oder später immer die Lust auf Weihnachtsgebäck. Manchmal habe ich aber den Verdacht, dass dieses, seit ich zum Judentum konvertiert habe, nicht mehr so recht gelingen will. Die Chräbeli, die ich kurz vor Chanukka gebacken habe, sahen noch ganz vielversprechend aus. Bis sich herausstellte, dass sie nach dem Backen am Blech klebten und beim Abkratzen in Stücke zerfielen.
Heute backe ich Mandel/Pistazien-Makronen (Betty Bossi!). Weil ich nicht allzuviel Zeit habe, besorge ich eigens zu diesem Zweck einen Spritzsack mit gezackter Tülle. Damit werde ich die Makrönchen in wenigen Minuten ruckzuck aufs Blech spritzen. Beim Aufschrauben der Tülle reisse ich aber noch vor dem ersten Gebrauch ein Loch in den Sack. Was nun? Lange starre ich fassunglos das Loch an. Aber ha! So schnell lasse ich mich nicht unterkriegen! Ich bastle einen Spritzsack mit der Tülle und einem herkömmlichen Plastikbeutel. Dabei sollte ich doch wirklich schon wissen, dass, wer Abkürzungen sucht, schlussendlich immer länger unterwegs ist. Wie erwartet, platzt der Makrönchenteig mit der Tülle aus dem improvisierten Beutel. Ich bin verzweifelt. Ich werde wohl nicht darum herumkommen, die Makrönchen einzeln in mühsamer Handarbeit zu formen. Zuerst versuche ich aber, den Teig möglichst ohne Verluste aus dem Plastikbeutel zu schaben. Bald sind viel zu viel Geschirr, meine Hose, fast die ganze Küche und meine Arme bis zu den Ellenbogen mit klebrigem Teig verschmiert. Entmutigt wasche ich mir die Hände. Vom Fenstersims flackern mir dabei mahnend die Flämmchen der Chanukkakerzen entgegen. Täusche ich mich oder flüstern sie „Versuch’s doch mal mit Sufganiot?“
Chräbeli = Anisgebäck
Latkes = Kartoffelpuffer
Matzen = dünne ungesäuerte Brotfladen
Matzen = dünne ungesäuerte Brotfladen
Sufganiot = rundes Teiggebäck mit Konfitürenfüllung, das am jüdischen Chanukkafest gegessen wird
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