Samstag, 23. August 2025

Ein kleiner Ausflug

„Sehr geehrtes Fräulein S.,
gestatten Sie mir, dass ich mich Ihnen vorstelle? ....
... Ich möchte Sie nun höflich einladen, an das Sommernachtsfest vom nächsten Samstag....
Darf ich Ihren angenehmen Bericht erwarten?
Ich grüsse Sie hochachtungsvoll.“

Der Brief ist auf einen Sommertag vor 67 Jahren datiert. Die Seiten sind schon etwas vergilbt, doch man sieht ihnen an, dass sie sorgfältig aufbewahrt wurden und viel mehr bedeuten, als ein Stück Papier.
Ob die „angenehme Antwort“ ebenfalls per Post erfolgte, oder über die fünfstellige Telefonnummer am Fuss des Briefes, ist mir nicht bekannt.

Sicher ist nur: Im Sommer 1960, zwei Jahre nachdem mein Vater diesen höflichen Brief versandte, heirateten meine Eltern.
Sie bekamen Kinder, bauten ein Haus.

Diesen Sommer fiel mein Besuch bei ihnen just auf den Eisernen Hochzeitstag. 65 gemeinsame Ehejahre. Der Gemeindeammann überbrachte amtliche Glückwünsche und einen Blumenstrauss zum besonderen Jubiläum.
Einen Tag danach wurde meine Mutter ins Spital eingeliefert. Sie ist nun unheilbar krank und wird nicht mehr nach Hause zurückkehren.
Mein Vater, inzwischen 92 Jahre alt, lebt jetzt alleine in dem grossen Haus mit Umschwung, das sie in meinem ersten Lebensjahr gebaut und gemeinsam bezogen haben.
Täglich fahren ihn meine Geschwister, Schwäger und liebe Bekannte ins Spital in der nahe gelegenen Stadt, damit er bei meiner Mutter sein kann.

Das Auto meines Vaters steht noch in der Garage. „Ich mag nicht selbst in die Stadt fahren, ich bin zu müde“, sagt mir mein Vater am Telefon. Wir alle schätzen es sehr, dass er das endlich eingesehen hat. Auch wenn er selbst dem Tod schon ein paar Mal von der Schippe gesprungen zu sein scheint, ist er schwach und, abgesehen von einigen Pausen, immer müde. Er nimmt täglich belastende Medikamente ein.

Doch als zwei Tage in der Folge niemand anbietet, ihn zu fahren, schlägt er seine eigenen Vorbehalte in den Wind und nimmt den Autoschlüssel zur Hand. Er steuert das etwas veraltete, handgeschaltete Auto zielsicher auf die Autobahn und biegt nach einer zwanzig-minütigen Fahrt kurz vor Stadteingang in Richtung Spital ab. Auf wackligen Beinen, mit dem Stock, geht er durch die langen Spitalkorridore zu meiner Mutter.

Für gesunde Menschen mag dieser Weg ein Kinderspiel sein. Für einen alten Mann im Zustand meines Vaters ist er eine prüfende Anstrengung. Eine Kraft, die stärker ist als Müdigkeit, Alter oder Vernunft trägt ihn zu meiner Mutter. Wie in den vergangenen 65 Jahren nehmen sie das Mittagessen gemeinsam ein. Er bleibt noch eine Weile, dann fährt er nach Hause und stellt das Auto wieder in die Garage. Wer weiss, wie oft es noch gefahren werden wird.

Wir hätten wohl nie etwas von diesem kleinen Ausflug erfahren, hätte meine Schwester nicht zufällig angerufen.

Meine Eltern haben im Laufe der Jahre eine symbiotische Verbundenheit entwickelt. Sie begrüssten sich über sechs Jahrzehnte lang jeden Morgen täglich mit einem Kuss. Mehr als einmal nimmt meine Mutter meinen Anruf im Spital mit einem schwachen „Schätzli?“ ab, weil sie meinen Vater am Telefon vermutet.

Ich will nichts verklären. Auch diese Partnerschaft ist alles andere als perfekt, auch unsere Familie alles andere als makellos. Dass mein Vater Auto fährt, ist absolut unverantwortlich. Aber einen kleinen Blogbeitrag, finde ich, hat diese Geschichte einer unerschütterlichen Liebe, die wie aus einer anderen Zeit gefallen scheint, schon verdient.




Mittwoch, 20. August 2025

Fake News oder Pflaumenmarmelade

Es fällt mir zunehmend schwer, diesen Blog weiterzuführen. Angesichts des Ausmasses anti-israelischer Stimmung und Ereignisse in Europa gehen mir die Worte aus. Es war erfrischend, zwischendurch einmal über eine gelungene Wanderung zu schreiben – doch das ist nicht das, was mich im Alltag beschäftigt.
Auch heute Morgen habe ich mich nach einem kurzen Blick in die deutsche Medienlandschaft frustriert gleich wieder ausgeklinkt. Seither versuche ich, meinen Ärger über ein Interview in „Die Zeit“ mit Nimrod Sheffer herunterzuschlucken.
Nimrod Sheffer, ein pensionierter General der IDF, eignet sich mit seiner klaren Gegnerschaft zur Politik Netanyahus hervorragend für das in Europa gängige Narrativ. Stimmen aus anderen politischen Lagern wären leicht zu finden, doch sie würden das eingefahrene Weltbild der Leserschaft nur stören.
Da ist ein beruhigender Bericht über die Herstellung von Pflaumenmarmelade gerade sehr willkommen.

 
Wie mit Fake News ein Narrativ gebildet wird, macht Neville Berman mit „Fake News, zweierlei Mass und Appeasement“ deutlich. Anhand anschaulicher Beispiele zeigt der Artikel auch für nicht-fachkundige Leser nachvollziehbar, wie sich Fake News und Narrative gegenseitig verstärken. Hier geht es zur deutschen Übersetzung.
 
Der folgende Ausschnitt bringt die Kernaussage auf den Punkt:

"Es gibt keinen Zweifel, dass Nachrichten, die erklären oder implizieren, Israel begehe Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermord, das ist, was die Mehrheit der 2,4 Milliarden Christen und 2 Milliarden Muslime in den sozialen Medien lesen, hören oder auf dem Fernsehschirm sehen wollen. Es ist ein rund um die Uhr andauernder Angriff auf Israel, begangen von der weit überwiegenden Mehrheit der Nachrichtenmedien der Welt. Es handelt sich um eine Hass-Kampagne auf Grundlage von 2.000 Jahren christlicher Ritualmordlügen gegen Juden und einer islamistischen Ansicht zu muslimischer Weltherrschaft. Ob die Nachrichten wahr oder falsch sind, hat absolut keine Bedeutung. Israel ist schuldig, egal, was Israel macht."


Ungewöhnlich und darum bemerkenswert ist Chaim Nolls Beitrag „Israel nimmt Europa nicht mehr ernst“. Noll kommt zu dem Schluss, dass die Mehrheit der Israelis, besonders die jüngeren, gegen die Stimmung in Europa eine Art Immunität entwickelt hat.

Ich selbst arbeite noch daran, mir diese Immunität anzueignen. Ein wenig beneide ich dabei die israelische Jugend, auf die Noll verweist, um die Gnade, die deutsche Sprache nicht zu beherrschen.
Doch was wäre ich, ohne meine geliebte deutsche Muttersprache? Auch wenn sie mir ermöglicht, nicht nur Erfreuliches zu verstehen.

Das beklemmende Gedicht „ach wenn“ von Ramona Ambs lässt mich nicht mehr los.
Es spiegelt wider, wie deprimierend die aktuelle Atmosphäre in Europa für viele Juden ist.






Donnerstag, 14. August 2025

Ausflug in eine Märchenwelt: Der Panixersee


Morgengrauen in Vuorz

Der Nebel hängt noch tief zwischen den Berggipfeln, man kann die Aussicht nur erahnen. Doch auf dem Balkon unseres Chalet sind alleine die Kälte an einem Julimorgen und das Schauspiel der wandernden Nebelschwaden und Wolken spektakulär. 

Die Mission

Am Vortag um dieselbe Zeit noch in Israel, fand ich mich nach einer Tagesreise im Flugzeug, Zug und Auto in einem Chalet mit fantastischer Aussicht im Kanton Graubünden wieder. Das Wetter war regnerisch und unstabil in diesen Tagen, aber einige trockene Stunden an meinem ersten Tag in Vuorz schienen passend für eine geplante Wanderung.

Mit mir im Chalet wohnen zwei meiner Schwestern, die genau wie ich noch nicht bereit sind, vor den altersbedingten Veränderungen zu kapitulieren: Eine von uns leidet an einer Knieverletzung, sie wanderte nur die ersten paar Kilometer mit und leistete uns dafür geschätzte Fahrdienste. Die zweite Schwester hatte eine akute Achillessehnenentzündung und ich selbst leide an chronischen Knieschmerzen aufgrund von Knorpelverschleiss! Doch an diesem Freitag hatten wir eine Mission: den Panixersee erreichen.
Wir beschlossen, direkt von unserem Chalet loszuwandern. Über das Dorf Andiast und die Weiler Curwengia und Sogn Giusep, mit Blick auf Pigniu auf der rechten Talseite, eröffnete sich nach etwa 9 Kilometern Wanderung unser Ziel, der Lag da Pigniu (Panixersee).



Der steile Irrweg

Die Wege waren angenehm, doch ausgerechnet ein sehr steiler Abschnitt war aufgrund des Regens gefährlich matschig und sogar auf allen Vieren nur schwer zu bezwingen. Da wurde uns schon etwas mulmig und ich informierte mich bei meiner Schwester schon mal, unter welcher Nummer die Bergrettungsdienste zu erreichen wären. Offensichtlich hatten wir aus Versehen gerade die steilere Abzweigung eingeschlagen, die wir gemäss Besprechung am Vorabend eigentlich vermeiden wollten.


Der Lohn: Wasserfälle im Felsamphitheater

Der See belohnte uns für alle Mühe, bei seinem Anblick vergassen wir die schmerzenden Glieder! Der Stausee ist wunderbar in die Berge eingebettet und die imposanten Panixer- und Aua dil Mer Wasserfälle auf der Nordseite des Sees sind der absolute Höhepunkt.


Geheimtipp

Zum Panixersee gelingt man über unzählige Wanderrouten zu Fuss, aber er ist auch mit dem Auto erreichbar! (Abbiegung von der Hauptstrasse H19, die von Ilanz nach Disentis führt, nach Rueun und in Richtung Pigniu) Es gibt einen fast direkt unter der Staumauer liegenden Parkplatz, von welchem aus man den See in etwa einer Stunde umwandern kann. Von dort holte uns die dritte havarierte Schwester mit dem Auto ab. So ergab unsere Wanderung insgesamt etwa 13 Kilometer. Der Weg um den See (etwa 4 Kilometer) führt an einem Ufer auf stellenweise schmalem Pfad an das Seeende und die Wasserfälle und auf der anderen Seeseite auf einem breiteren Weg wieder zurück. Für das Bestaunen der Wasserfälle und vielleicht eine Rast in der Nähe der Fälle, empfehle ich, eine bis zwei weitere Stunden einzuplanen!

Traum oder Wirklichkeit?


Noch immer spüre ich das Donnern und den kalten Sprühnebel der Panixerfälle, höre die Kuhglocken und das Glucksen der Bächlein, rieche das nasse Moos und die klare Bergluft.
Wenn ich an diesen Wandertag und überhaupt die Tage in Vuorz zurückdenke, bin ich nicht sicher, ob es sich um einen Traum handelt, oder ob die Tage in dieser Parallel-Märchenwelt Wirklichkeit waren. Zum Glück gibt es Fotos, auf denen ich tatsächlich drauf bin! Gerade angereist aus dem staubigen, tropisch-heissen und turbulenten Israel, war die Wanderung für mich ein surrealistisch anmutendes Erlebnis. Meine Augen konnten sich nicht satt sehen – während meine Seele noch irgendwo zwischen Tel-Aviv und Zürich unterwegs war.




Es ist eine lange Anfahrt aus der Nordschweiz (und erst recht aus Israel), aber ich hoffe, dass ich irgendwann noch einmal die Gelegenheit haben werde, die Panixerfälle, die Cascada da Pigniu, aus nächster Nähe und mit weniger schmerzenden Knien bestaunen zu können.







Dienstag, 12. August 2025

Jenseits der Schlagzeilen

Massada, Juli 2025


Vermutlich kommen auf diesem Blog auch Menschen vorbei, die sich fragen: "Was meckert sie überhaupt? Klar sind Israelis (und mit ihnen die Juden…) in Europa nicht sonderlich beliebt, wenn man sieht, was Israel im Nahen Osten so treibt." (Unter Bezug auf meinen letzten Beitrag
Viele von ihnen verfügen vielleicht über eine vorgefertigte Meinung, ohne sich im Geringsten irgendwo informiert zu haben.

In meinem Blog schreibe ich mir meine Gefühle vom Herzen und manchmal versuche ich auch, Unaussprechliches in Worte zu fassen.
Ich weiss: Das wird niemanden bekehren, der schon mit einem fertigen Narrativ im Kopf mitliest.

Ich mag keine Aufklärungsarbeit leisten. Es gibt viele, die das tun – und einige tun es hervorragend, standhaft, mutig und unbeugsam. Wer diese Stimmen hören will, wird sie auch finden.

Natürlich würde ich Menschen gerne zeigen, warum die Fährte falsch ist, der sie folgen. Doch es ist schlicht unmöglich, in ein paar Sätzen das Wissen zu bündeln, das ich in vier Jahrzehnten in Israel gesammelt habe: aus täglichen Erlebnissen, Begegnungen, Gesprächen, Eindrücken, unzähligen Büchern und Hintergrundinformationen – meinem Leben.

Man könnte täglich Fakten posten oder Artikel verlinken, die eigentlich jedermann überzeugen sollten.
Aber mal ehrlich: Wer will schon seine eigene Meinung hinterfragen?
Oder, wie Ramona Ambs heute auf Facebook schreibt

"Die Realität scheint den meisten völlig schnuppe zu sein."


Massada, Januar 1985



Samstag, 9. August 2025

Meine Kinder sind keine Monster

Andiast, Kanton Graubünden


Und Schwups – schon ist der Urlaub vorbei. Die Tage mit meinen Kindern in der Schweiz waren intensiv, eine Mischung aus Spass, Freude, Schrecken, Trauer und Sorge. Ehrlich gesagt: Ein bisschen zu viel von allem, um erholsam zu sein.
Wie befürchtet, lag über allem nicht nur der Schatten grosser Sorgen um meine kranken, alten Eltern, sondern noch dazu – als Israelis, ein beklemmendes Gefühl, das uns begleitete: die spürbare Abneigung, der unterschwellige oder offene Hass.

Der Hunger in Gaza ist DAS Thema in der Schweiz. In jeder Nachrichtensendung wird darüber berichtet. Jede Stunde. Beim Autofahren wollen meine Töchter immer wieder, dass ich die Nachrichten übersetzte. Sie hören und verstehen nur … Israel, Gaza, Israel, Gaza.... Gibt es eigentlich noch andere Konfliktherde auf der Welt?
Was ist mit dem Hunger im Sudan, wo über 25 Millionen Menschen akut von Nahrungsmittelknappheit betroffen sind und etwa 770‘000 Kinder unter fünf Jahren an schwerer Mangelernährung leiden? In welchen Nachrichten wird darüber berichtet?

Uns hingegen erreichen in der (na ja, nicht mehr so) idyllischen Schweiz die von der Hamas veröffentlichten Videos der Geiseln Evyatar David und Rom Braslavski – zwei Männer, jünger als meine Kinder, die seit 22 Monaten von der Hamas in Gaza unter katastrophalen Bedingungen festgehalten werden. Sie sind Haut und Knochen. Es sind Bilder, die an die Leichenberge in den KZs erinnern. Die Videos lassen uns nicht mehr los, doch hier in der Schweiz berichtet man kaum darüber. Unsere Herzen sind schwer, wir fühlen uns allein, missverstanden, diffamiert.

Wenn meine Töchter gefragt werden, woher sie kommen, sagen sie, geübt: „aus Malta“. „Dort spricht man Maltesers“, schieben sie lachend nach, denn den Humor haben sie trotz allem noch nicht verloren. Nur einmal sagt Sivan wahrheitsgemäss „Israel“, worauf sich die Haltung der freundlichen jungen Frau hinter der Theke sofort sichtlich verändert. Sie strahlt jetzt Feindlichkeit aus, bricht die Unterhaltung ab, schickt böse Blicke.
Der arabisch-stämmige Kassierer im Lidl, der bei unserem früheren Urlaub die Braue bis zum Haaransatz hochgezogen hat, als wir „aus Israel“ antworteten, lächelt nun hingegen – einige Monate später – vielsagend. Er kann sich an uns erinnern, er wähnt sich unterdessen in der Siegerpartei und er ist sicher, dass er am längeren Hebel sitzt.

An einigen Hauswänden in Basel steht „In Gaza verhungern Kinder“. Ich möchte ergänzen „... und israelische Geiseln. Wegen Hamas“, aber ich habe keine Spraydose dabei. Also schlucke ich meinen Protest herunter. Aber wir tragen die Erinnerung an Nitzan und Lidor, an Yuval und Shir, an die 1200 Ermordeten, an die 900 seit Kriegsbeginn gefallenen Soldaten und die Tausenden Verletzen in unseren Herzen und jedes „Free Palestine“-Graffiti, jedes Palästinensertuch treffen uns tief und ziehen uns den Boden unter den Füssen weg.

Eine Anti-Israel  Demo verpassen wir zum Glück um wenige Minuten. Ich bin froh darüber, denn es ist äusserst unangenehm, in eine Menge zu geraten, die die Auslöschung deines Volkes skandiert, während Passanten desinteressiert zusehen. Mein ehemaliger Schulkamerade Gabriel Strenger, unterwegs nach Kleinbasel, verpasste die Demo nicht, er ging mutig in der Menge mit und rief, als einziger Lichtblick unter Verwirrten „Am Israel Chai“. Hier sein Video und Kommentar auf Facebook.

Ja, wir lachen, geniessen Momente – doch niemand lebt in einer Blase, nicht einmal im Urlaub. Am Ende sehnen wir uns zurück nach Israel, wo die Menschen unseren Informationsstand, unsere Sorgen und Gedanken teilen. Wo wir nichts erklären und uns nicht verstecken müssen.
In unserer Heimat ist Krieg. Wir sind traumatisiert. In der Schweiz empfinde ich kein Mitgefühl, keine Empathie. Im Gegenteil – das Thema ist zu heiss, keiner spricht es an. Aber Schweigen ist auch eine Haltung.


Medienflut und Selbstschutz

Weil ich im Urlaub kaum Zeit für Social Media habe, schaffe ich doch etwas Abstand. Facebook und Instagram sind meine Haupt-Nachrichtenquellen. Ich schaue kein Fernsehen, auch zu Hause nicht. Auf Social Media lese ich Meinungen und bekomme immer die neuesten Artikel. Natürlich filtert der Algorithmus für mich – und der Überfluss an negativen Nachrichten über das Geschehen in Nahost überflutet mich.

Zurück nach Israel beschliesse ich, meinen Facebook- und Instagram-Konsum auf 15 Minuten pro Tag zu beschränken.
Doch noch vor diesem Vorsatz kommentiere ich auf Instagram einen Post. Ein kleines dänisches Wollunternehmen, von dem ich schon gekauft habe, startet eine Spendenaktion „für hungernde Kinder in Gaza“. Ich schreibe einen pro-israelischen Kommentar. In kürzester Zeit hat er über 50 Likes – und noch mehr völlig absurde Hasskommentare. Der gesamte Post der Firma bekommt mehr als 1500 Kommentare, sonst sind es höchstens 70. Gaza polarisiert. Genau das wollen die Hamas und der Iran, ihr politischer und militärischer Unterstützer: dass selbst die hinterletzten Strickerinnen irgendwo auf der Welt hasserfüllt aufeinander losgehen.
Viele ziehen Holocaust- und KZ-Vergleiche. Jemand schreibt: „Ärzte berichten, dass die Kinder von der IDF direkt in den Kopf geschossen werden. Absichtlich ins Visier genommen. Sie sind Monster.“


Echt jetzt? Meine drei Kinder haben alle je drei Jahre in der IDF gedient, Eyal sogar vier, dazu noch unzählige Reservedienste, vor und nach dem 7. Oktober Pogrom. Die Männer in Kampfeinheiten. Meine Kernfamilie verfügt über mindestens 15 Jahre IDF-Erfahrung. Ich habe immer wieder verschwitzte Uniformen gewaschen und mehr Eindrücke gehört, als man je zählen könnte – direkt und ungefiltert. Wir haben viele Freunde und Bekannte, die in Gaza im Einsatz sind. Ich habe also ein bisschen eine Ahnung, was in der IDF passiert.
Und dann sitzt da jemand irgendwo in Skandinavien und verbreitet, die IDF – also meine Kinder! – würden palästinensischen Kindern absichtlich in den Kopf schiessen.
Wie absurd das alles ist!

Die ersten Tage mit reduziertem Social Media Konsum verlaufen gut. In meinen Ruhestunden höre ich Podcasts, schaue mir einen Film an, lese viel. „Martha und die Ihren“ von Lukas Hartmann schliesse ich am Abend nach meiner Rückkehr ab (ein mitreissendes Zeitdokument, aber der emotional distanzierte, nüchterne Stil ist nicht mein Ding). Danach überfliege ich „Altern“ von Elke Heidenreich (viel weniger eindrücklich als die Person Elke Heidenreich selbst). Gerade habe ich die ersten Kapitel von „Tabak und Schokolade“ des Basler Autors Martin R. Dean verschlungen (sehr vielversprechend).

Vielleicht werde ich in Zukunft gezielt die Zeitungsartikel aufsuchen, die mir bisher von Facebook zugespült worden sind. Ich werde meine Augen nicht vor den Entwicklungen auf der Welt verschliessen, aber es muss mir ja nicht täglich in unkontrollierter Menge eingehämmert werden, wie schrecklich die Situation ist. Das tut keinem gut.
Die Nachrichten werden mich finden, wenn es sein muss. Und wenn nicht – umso besser!

Immerhin empfangen uns die Sonnenblumen am Eingang zum Dorf meiner Eltern einladend und wohlgesinnt.




Samstag, 19. Juli 2025

Was bleibt



In diesen Wochen, wo der Sommer seinen Höhepunkt erreicht, ist die Luft Tag und Nacht so unerträglich heiss und feucht, dass ich mich heute morgen nicht einmal zu meinem gewohnten Früh-morgen-Spaziergang aufraffen konnte. Statt über die Felder zu rennen, sitze ich im Garten. Bis acht Uhr ist es dort erstaunlich angenehm und so lasse ich mich von einem Buch forttragen, während der Tag erwacht. Nur Schmetterlinge und zwitschernde Vögel lenken mich ab. Unser Garten ist zur Zeit ein kleines Paradies. Ich sollte mir wirklich öfter die Zeit nehmen, ihn zu geniessen. Nach über zehn Jahren, in denen ich ihn mit laienhafter Hingabe selbst gepflegt habe, wurde er kürzlich von einem geschätzten Gärtner liebevoll überarbeitet. 
Sogar unser grosser Mangobaum wurde radikal gestutzt. Leider bedeutete das auch den Verlust seiner wenigen Früchte – bis auf eine! Eine einzige Mango hängt noch am Ast. Ich mache mir etwas Sorgen um ihre Zukunft. In wenigen Tagen reise ich in die Schweiz. Wird sie auf mich warten, gereift und golden?



Am Donnerstag waren wir Gäste auf einer Hochzeit – vielleicht die bewegendste, der ich je beiwohnen durfte. Der Anlass war tief berührend, auf eine ganz andere Weise als die Hochzeit meiner eigenen Tochter. Den ganzen Abend über liess mich der Gedanke nicht los, wie zerbrechlich der Faden war, an welchem das Zustandekommen dieses Festes hing. Nur die Handlungsfähigkeit und Bestimmtheit der involvierten Personen und unfassbares Glück in einem bestimmten Augenblick machten den Anlass möglich. Denn es war Yotam, der an diesem Abend seine Liebe feierte – ein Überlebender des Nova-Massakers.
Yotam kenne ich seit seiner Geburt – genau genommen, sogar schon vorher. Aus persönlichen Gründen erinnere ich mich noch lebhaft an den Moment, als meine Freunde uns von ihrer Schwangerschaft erzählten. Unsere erste Tochter wurde nur wenige Monate nach Yotam geboren. Sie teilten sich das Geburtsjahr, und jetzt auch das Hochzeitsjahr.

Doch Yotam wurde am 7. Oktober 2023 ein zweites Mal geboren. Hier ist seine Geschichte.

Dass er heute lebt, liebt und heiratet, erfüllt mich mit einer Freude, die kaum in Worte zu fassen ist. Die Feier war ausgelassen. Jung und Alt tanzten in purer Freude. Wir tanzten auch für jene, die das Massaker oder den Krieg nicht überlebt haben. Für ein paar Stunden rückten der Horror, das Schlachtfeld und der Krieg in den Hintergrund. Man kann nur so leidenschaftlich tanzen, wenn man weiss, dass der Schmerz nicht weit ist. 

Das Leben geht weiter, irgendwie. Neue Familien werden gegründet, Kinder werden geboren. Ich wünsche dem jungen Paar von Herzen eine liebevolle, aufrichtige Partnerschaft und eine erfreuliche und friedliche Zukunft.

Auch beim Blick aus dem Fenster ist der Garten eine Augenweide






Mittwoch, 9. Juli 2025

Vorfreude mit Schatten

Auf diesem neu veröffentlichten Foto ist der 12-jährige Yagil Yaakov in Unterwäsche zu sehen, brutal von Terroristen misshandelt, unmittelbar nach seiner Entführung aus dem Haus der Familie im Kibbuz Nir Oz am 7. Oktober 2023. 
Sein Vater Yair war gerade ermordet worden, seine Leiche wurde nach Gaza verschleppt. 
Yagil musste 52 schreckliche Tage in Gefangenschaft ertragen, bevor er schliesslich im Rahmen eines Geiselaustauschs freikam. 
Der Leichnam seines Vaters Yair wurde erst vor wenigen Wochen gefunden und nach Israel zuruckgebracht.





Meine Sommerferien in der Schweiz rücken näher! Noch zwei Wochen! Ich freue mich, zähle die Tage. Ich sehne mich danach, meine Familie wiederzusehen, durch Schweizer Städte zu bummeln, zu Wandern – und vor allem: endlich für einige Tage die Last der Gedanken ablegen zu können, die sich in Israel rund um die Uhr um die elende Sicherheitslage drehen. Natürlich wird der Krieg in Israel nicht innehalten, nur weil ich nicht vor Ort bin. Doch die Leichtigkeit der Schweiz ist ansteckend. Nach einigen Tagen gelingt es mir meist, abzuschalten und einfach die Schweizer "Normalität" zu geniessen.

Leider überschattet ein nagendes Unbehagen meine Vorfreude. Ich weiss, dass ich in Europa etwas begegnen werde, das mir Angst macht. Pro-Palästina-Demos und steigender Antisemitismus sind das eine, von ihnen werde ich mich hoffentlich fernhalten können. Doch das ist nur die Oberfläche. Das eigentliche Problem sitzt tiefer. Es sind die harmlos klingenden Floskeln, die mich fassungslos machen.

"Ach, weisst du, Politik interessiert mich nicht. Ich verstehe diese ganzen Kriege wirklich nicht, der Nahost-Konflikt ist ja auch sooo komplex."

Fast immer stecken dahinter weiterführende Gedanken:

Der Konflikt ist komplex –
  • aber was sollen die Palästinenser tun, wenn ihnen immer mehr Land weggenommen wird?
  • die Hamas mögen Terroristen sein, aber die jüdischen Siedler sind auch militant.
  • aber der Krieg dort unten dauert schon Jahrzehnte. Die Gewaltspirale muss endlich durchbrochen und es müssen Verhandlungen auf Augenhöhe geführt werden.
  • aber der 7. Oktober ist jetzt 21 Monate her, das muss doch mal ein Ende haben.
  • aber Vierzigtausend ermordete palästinensische Kinder — ist das wirklich noch verhältnismässig?
  • aber man muss doch wohl Israel kritisieren dürfen, ohne gleich Antisemit zu sein.
  • aber hätten ausgerechnet die Juden nicht aus der Vergangenheit lernen sollen?

Meist hüten sich die höflichen Schweizer, mir gegenüber so etwas auszusprechen. Und wenn sie es manchmal doch tun – was kann man solchen Plattitüden entgegnen? Sie zeugen von totalem Unverständnis und Gehirnwäsche.

Ich weiss, wie die relativierenden Gedanken und ihre Steigerungsform, der Israelhass, zustande kommen: Jeder Schweizer Bürger bekommt seit Jahren ein feines stetiges Tröpfchen Anti-Israel-Propaganda verabreicht. Es reicht, hin und wieder eine Zeitung aufzuschlagen oder beim Autofahren das Radio oder zu Hause den Fernseher laufen zu lassen. Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Tröpfchen-Dosis noch beachtlich aufgedreht worden. Für Involvierte ist die offensichtliche Desinformation empörend, doch auf alle Anderen wirkt die Meinungsmache unaufhaltsam. Sie schafft einen moralischen Nebel, in dem Täter und Opfer, Angreifer und Verteidiger unkenntlich werden.

Aber ich lebe in diesem Land, das im Mittelpunkt aller Newsticker steht. Ich lebe in diesem Land, das im Nahen Osten seit Jahrzehnten um sein Überleben ringt und sich dabei noch rechtfertigen muss. Ich höre die Sirenen, ich lese täglich die Namen der Toten, ich kenne unzählige Menschen, deren Leben in Trümmern liegt. Ich weiss ein oder zwei Dinge über die Hintergründe. Und mir bangt und graut davor, wie die Realität in Europa ignoriert, verdreht, nicht verstanden oder nicht geglaubt wird.

Die Ausmasse der gegenwärtigen Anti-Israel-Propaganda lassen sich mit der antisemitischen Hetze im dritten Reich durchaus vergleichen. Wir sind (noch) nicht so weit, dass Juden wieder versteckt werden müssen – doch wir sind so weit, dass sich Juden in Europa nicht mehr sicher fühlen. Genauso wie die Menschen damals irgendwann glaubten, Juden seien "Ungeziefer", glauben viele heute, Israel sei an allem Übel im Nahen Osten schuld, oder bedienen das nicht weniger schlimme "Beide-Seiten"-Narrativ.
Es braucht nur ein tägliches, kaum merkliches Tröpfchen Propaganda – damals wie heute.

Übertreibe ich? Ich glaube nicht. Mein Leben in Israel, der Krieg, die ständige Bedrohung, all das beschäftigt mich Tag und Nacht. Ich kann nicht behaupten, dass ich dafür kein Verständnis bekomme, doch ich verzichte gerne auf das Mitgefühl, wenn mein Volk – und damit ich – im gleichen Atemzug mit völkermörderischen Milizen und Terroristen in einen Topf geworfen wird. Neutralität mag schön und gut sein, ist aber oft nur ein Deckmantel für Gleichgültigkeit und Ignoranz.

Doch damals wie heute gibt es in dieser Zeit des moralischen Zusammenbruchs eine kleine Minderheit, die unbeirrt weiss, was richtig ist. Einige wenige, die verstehen, dass Israel dieselben freiheitlichen und demokratischen Ideale verkörpert, die auch ihre eigene Gesellschaft tragen. Menschen, die sich mit Israel solidarisch fühlen, weil sie wissen, dass Israel für den Westen den Krieg gegen die Barbarei ausfechtet. Die wissen, dass uns freiheitliche Werte nicht in den Schoss fallen, sondern dass sie seit Jahrhunderten erkämpft worden sind und dass man weiterhin für sie einstehen muss. Menschen, die die Geschichte gut genug kennen, um zu wissen, dass das Judentum die Wurzel des Christentums ist – und dass ein Baum ohne Wurzeln nicht bestehen kann.

Kann ich es jemandem zum Vorwurf machen, nicht zu wissen, worum es geht? Wie bewahrt man sich eine eigene, unabhängige Sicht trotz Manipulation?
Es sind nur wenige, die sich nicht beirren lassen. Unter meinen Bekannten in Europa kann ich sie an einer Hand abzählen. Woher nehmen sie ihre Überzeugung? Was ist anders an ihrem moralischen Leitsatz im Vergleich zu dem der Relativierer und der Mitläufer? Ich weiss es ehrlich gesagt nicht.

Und was ist mit mir? Lebte ich in der Schweiz, zu welcher Seite würde ich gehören?

 

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Hier sind zwei Artikel zum Thema "Nahost", die aufschlussreiche Einsichten vermitteln. Sie sind beide schon etwas älter, aber immer noch sehr aktuell.