Dienstag, 26. November 2024

Raketen hier und da

Der furchtbare Ausnahmezustand ist Alltag geworden. Katastrophen passieren einfach so nebenbei. Das Sirenengeheul, die Raketenangriffe, die Attentate, die Verschleppten, die Überlebenden, die Gefallenen, die zerstörten Familien, die Beerdigungen, die Binnenflüchtlinge, die leerstehenden, zerfallenden Dörfer und Städte, die abgebrannten Wälder und Haine, die Traumas - sie sind zu den Rahmenbedingungen geworden, zwischen denen sich Arbeit und wenige private Vergnügen abspielen. Es ist erschreckend, an welche Umstände man sich gewöhnen kann, wenn man nur die Gedanken daran geflissentlichst verdrängt. Viele Familien bezahlen jedoch einen unerträglich hohen Preis in diesem Krieg ohne absehbare Wendung. Wer weniger direkt betroffen ist, verdrängt. Dass auch wir, die Privilegierten hier in Israels Zentrum, alle paar Tage in den Schutzraum rennen müssen, gehört unterdessen zu unserem Alltag wie der Verlauf der Wochentage. Die Alarme bescheren einige Minuten Aufregung, dann atmen wir kurz durch und machen weiter. An einem Morgen überrascht mich der Alarm, als ich an der Arbeit gerade aus der Dusche steige. Nur mit einem Frottiertuch bedeckt, ziehe ich es vor, einfach im Umkleideraum auszuharren, anstatt mich in den gemeinsamen Schutzraum zu begeben. Dass das gefährlich sein kann, wissen wir unterdessen. Die Hisbollah zielt absichtlich auf zivile Einrichtungen und immer wieder werden Menschen durch die Raketen oder herabfallende Trümmer verletzt oder getötet. Auch der Sonntag beginnt diese Woche mit Raketenalarm und bis zum Abend wird er zu einem Rekordtag mit über 250 Raketenangriffen aus dem Libanon. Trotz aller Abwehrsysteme werden acht Menschen verletzt. Während wir im Schutzraum sitzen, bebt das Haus und die Fenster zittern, als würde alles gleich in sich zusammenbrechen. An diesem Sonntag fallen auch Bruchstücke einer Rakete auf eine Strasse in meiner unmittelbaren Nachbarschaft.

Wir versuchen durchzuhalten. Was das bedeutet, beschreibt meine Bloggerkollegin Schreibschaukel, die sich nicht beirren lässt und sich aus der Schweiz unermüdlich für Israel einsetzt.

Durchhalten klappt jedoch schlecht und recht, nur wenn man sich gezielt beschäftigt, die Gedanken nicht zulässt und das Unbehagen bewusst unterdrückt. Gedanken an die in den - in der kalten und regenreichen Jahreszeit nasskalten - Tunnels in Gaza festgehaltenen Verschleppten schiebe ich schnell weg, sobald sie aufkommen. Die täglich fallenden Soldaten mag ich nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Sie werden für mich zu einer schmerzlichen Masse von auf tragische Weise abrupt beendeten schönen jungen Leben.

Das Schlimmste ist jedoch, dass die ganze Welt um uns herum vollkommen aus den Fugen geraten zu sein scheint. Skandalöse mediale Desinformation und willkürlich verbreitete Lügen haben dazu geführt, dass der Hass auf Israel und auf Juden rund um den Globus wieder salonfähig ist. Überall werden Juden gejagt, verfolgt, ausgeschlossen, diffamiert, beschuldigt. Falsche Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien schüren Misstrauen und Hass und schaffen ein Klima der Diskriminierung und Gewalt. Antisemitische Straftaten sind an der Tagesordnung, jüdische Gemeinschaften fühlen sich bedroht und jüdische Menschen leben auf der ganzen Welt, einmal mehr, auf gepackten Koffern.

Doch es ist nicht einmal "nur" der Antisemitismus. Die Welt steht kopf, in allen Bereichen. Wie zutreffend, dass wir in diesen Zeiten unsere letzten Hoffnungen auf einen verrückten orangefarbenen Mann setzen!


Wie der orangefarbene Mann aber vielleicht tatsächlich nicht nur Amerika, sondern auch die Welt neu gestalten könnte, das schreibt Douglas Murray in zehn Punkten in seinem Artikel in der New York PostHier ein übersetzter Auszug aus dem zehnten und abschließenden Punkt: 

"Das bringt mich zu dem wichtigsten Punkt, den Trump im Nahen Osten tun kann. Jetzt ist es an der Zeit, die Sanktionen wieder in Kraft zu setzen. Der Iran hat im vergangenen Jahr erlebt, wie seine Terror-Stellvertreter durch das israelische Militär und den israelischen Geheimdienst lahmgelegt wurden. Jetzt ist es an der Zeit, der Schlange den Kopf abzuschlagen. Wer weiß, vielleicht wird das schmutzige, barbarische islamische Regime in Teheran endlich fallen und das iranische Volk kann endlich sein Land zurückbekommen. Wenn dem so ist, kann Trump vielleicht bis zum Ende seiner nächsten Amtszeit den Iran in das Abraham-Abkommen aufnehmen. Das wäre etwas, das sogar das Nobelkomitee bemerken müsste."

Ich gebe zu, diese Vorstellung ist etwas zu schön, um wahr zu sein. Doch was bleibt uns anderes als die Hoffnung?


Wenn der Ausnahmezustand Alltag wird, kann man auch Ausflüge unternehmen.
Am Wochenende in der Umgebung Jerusalems.

Dem Alltag entfliehe ich unter anderem mit Lesen. Das Buch, das ich zur Zeit verschlinge, beschreibt zwar ebenfalls das schwierige Leben verzweifelter und bedrängter Menschen in beschwerlichen Zeiten, aber es ist eines der wenigen, das es schafft, mich vom endlosen Scrollen auf dem Handy fern zu halten.

Meine Schwiegermutter ist in Bagdad geboren. Obwohl sie nur elf Jahre ihrer Kindheit vor der Flucht mit der Familie im Irak verbracht hat, ist die Kultur, mit der sie aufgewachsen ist und die ihre Eltern nach Israel gebracht haben, tief in ihr verwurzelt. Ich habe von ihr und ihren zahlreichen Geschwistern viel über die Jahre ihrer Kindheit in dieser für mich völlig fremden Welt gehört. Als mir das Buch "Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom" von Mona Yahia unter die Finger kam, war meine Neugierde sofort geweckt. Würde es mir diese unerreichbare und unvorstellbare Stadt näherbringen? Jetzt bin ich erst zwei Drittel durch und ich bin begeistert. Die Handlung ist fesselnd und Mona Yahia hat eine wunderbare Gabe, Situationen überwältigend realitätsnah zu beschreiben. 

"Ein Militärjeep hält vor unserem Haus. Eine Fliegenklatsche stoppt mitten in der Bewegung. Ein Satz vergisst sein Ende. Ein ungeknackter Kürbiskern liegt zwischen zwei Schneidezähnen. Zwei Soldaten springen aus dem Jeep. Vater sitzt wie gelähmt auf seinem Stuhl. Mutter fleht zu Gott. Ich nehme Curry (die Katze) auf den Schoss. Die Soldaten gehen zum Kühler ihres Autos, heben die Haube und inspizieren den Motor...."

Wer geglaubt hat, die irakischen Juden wären vielleicht der schönen Mittelmeerstrände wegen nach Israel gekommen, für den ist diese Lektüre Pflicht. Doch auch etwas informierteren Lesern empfehle ich das Buch wärmstens.



Mittwoch, 6. November 2024

When life gives you lemons

Die Demonstrationen und die Aufruhr in den Medien, die der Entlassung des Verteidigungsministers Gallant folgen, frustrieren mich enorm. Mir reicht es. Ich will einfach nur Ruhe, Harmonie und Vernunft – etwas, von dem man hier nur träumen kann. In einer sehr unruhigen Nacht träume ich hingegen von einer chaotischen Zukunft, geprägt von Bürgerkriegen, einer unfähigen Kamala Harris als Präsidentin und – wieder einmal – von einem Umzug in die ruhige Schweiz. Mein Herz fliegt zwischen den Ländern dahin, verwirrt und heimatlos.

Weil ich nicht mehr schlafen kann, stehe ich schon um sechs Uhr auf. Eine Runde im Garten beruhigt mich. Wo auf der Welt ist es sonst noch so hell und mild in diesen frühen Stunden? Ich pflücke einige Mini-Zitronen vom Baum, lasse mich von ihrem Geruch betören und setze mich dann unter die Pergola zum Lesen, bis der Tag richtig anbricht.



Meine Laune wird sogar noch besser, als bestätigt wird, dass Trump die Wahlen zum US-Präsidenten gewonnen hat. Ja, ich weiss, für diese Aussage werden mich die Leser in Europa verachten, doch für uns in Israel wäre die Wahl von Harris eine wahre Katastrophe gewesen. Mit Trump stehen die Chancen für Israels Zukunft um Vieles besser. Es ist für uns eben weniger wichtig, dass Trump zum Essen nicht auf Ketchup verzichten kann und dass er ein Chauvinist und rhetorischer Trampel ist. Auf diesen sehr aufschlussreichen Artikel von Ayaan Hirsi Ali bin ich bei meiner Bloggerkollegin aufmerksam geworden und für mich sind die Erläuterungen der Autorin absolut stichhaltig.

Um 11:20 dröhnen die Luftschutzalarme in unserer Gegend und ich eile in den Schutzraum. Kurz darauf erschüttern mehrere sehr beunruhigende Bumms die Region.


Kein Wunder, dieses Bild stammt aus Raanana, nur knapp mehr als 15 Kilometer von unserem Dorf entfernt. Dort wohnt meine Arbeitskollegin. Und ist das nicht ihr Auto? Ich werde sie morgen darauf ansprechen…

Doch das hier ist kleiner Schnickschnack. Nach Beschuss durch etwa 50 Raketen der Hisbollah aus dem Libanon kommt es in Avivim, etwas nördlich von Haifa, zu grossen Schäden mit zwei Toten, Verletzten und umfangreichen Bränden.

Wieder ein Tag …




Montag, 4. November 2024

Zwischen den Katastrophen

Wolken bedeuten in Israel, dass der Sommer zu Ende ist
Zwischen den Katastrophen fliessen die Tage dahin. Natürlich nicht für jedermann. Bestimmt nicht für die in Gaza festgehaltenen Geiseln, die seit 396 Tagen unvorstellbare Qualen durchleiden. Für sie und ihre Angehörigen fliessen die Tage nicht, im Gegenteil, jede Minute muss sich für sie ins Unendliche ziehen. Auch für die Zehntausenden israelischen Binnenflüchtlinge fliessen die Tage nicht, und ebenso nicht für die Soldaten, die unter Lebensgefahr an allen Fronten kämpfen, damit wir vielleicht irgendwann wieder sicher leben können.

Aber für uns, die wir an einem nicht rund um die Uhr gefährdeten Ort wohnen, köchelt der Krieg auf kleinem Feuer. Damit meine ich folgendes:

An einem vereinzelten Tag vergangene Woche jagt uns ein Luftschutzalarm in den frühen Morgenstunden in den Schutzraum. An einem anderen Tag tötet eine Hisbollah-Rakete in Metulla fünf Menschen in einem Früchtehain. Später werden eine Frau und ihr erwachsener Sohn in einem Olivenhain am Rande der Küstenstadt Haifa durch Granatsplitter getötet. Freitagnacht schlägt eine Rakete in Tira ein, einem arabischen Dorf, das nur etwa 10 Kilometer Luftlinie von uns entfernt liegt. Der Einschlag um 02:18 schreckt uns aus den Betten. 19 Menschen werden verletzt. Jeden Tag werden die Namen der gestern gefallenen Soldaten bekanntgegeben, viele junge Burschen, aber auch viele Familienväter. Im Büro gehe ich an einen Vortrag von Eyal Eshel, dem Vater der Soldatin Roni Eshel, die am 7. Oktober in der Basis Nahal-Oz von den Hamas-Terroristen ermordet wurde. 34 Tage wartete Ronis Familie auf eine Bestätigung über das Verbleiben der Tochter. Eyals Aussagen sind haarsträubend. Ich nehme all diese Ereignisse, Fakten und Katastrophen zur Kenntnis und stecke sie weg. So fliessen die Tage eben dahin.

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Hat da nicht der Falsche die Kippa auf?

Alon ist aufgrund seines charismatischen und aufgestellten Gemüts, seinem Tatendrang und nicht zuletzt aufgrund des fragwürdigen Titels, einer der schwerstverletzten Soldaten dieses Krieges zu sein, zu einer kleinen Berühmtheit in Israel geworden. Nach Teilnahme an einer Modekampagne mit amputierten Models und in der Reportage über schwerverletzte Kampfsoldaten auf Kanal 12 im israelischen Fernsehen, folgte vergangene Woche die Audienz beim Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche – dem Papst, mit einer Delegation aus dem Sheba-Spital. Wer des Hebräischen mächtig ist, findet in diesem Artikel ein kurzes Gespräch mit Alon über den Besuch im Vatikan. Alon erzählt, dass ihn die päpstliche Segnung ausserordentlich berührt hat. Auf dem offiziellen Instagram-Konto "State of Israel" kann man sich ein paar Bilder des Treffens ansehen.
Auch ich sehe mir die Fotos immer wieder an und komme aus dem Staunen nicht heraus. Es ist tatsächlich Alon, aus der Rimonstrasse in unserem Dorf. Alon und der Papst. Alons Eltern, die ich von vielen Klassen- und Pfadfindertreffen in sehr lockerer Kleidung kenne, haben sich für das offizielle Treffen in Schale geworfen. Ganz in Schwarz, in Anzug und Krawatte, sehen sie sehr schick aus.

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Wie für die meisten jungen "Tel-Avivi" ist Schick-Essen-Gehen eine der bevorzugten Tätigkeiten unserer Tochter Sivan. Beim Betrachten ihres Instagram-Feeds läuft einem zu jeder Tageszeit das Wasser im Mund zusammen und man bekommt den Eindruck, ihr Leben bestehe nur aus Streetfood und Essen in Restaurants. Fotos von verführerischen Häppchen, saftigen Steaks, Saucen, Beilagen und farbigen Drinks, toll gestylt und angerichtet, sind an der Tagesordnung. Natürlich sind auch auf ihren Reisen nach Paris, London und New York die bekanntesten Gourmettempel festes Programm. Ich staune ja, wo die junge Generation das Geld für diese Vergnügen hernimmt. Mir persönlich ist es meistens zu schade, mein schwer verdientes Erspartes sozusagen "Aufzuessen". Aber bekanntlich ist ja alles eine Frage der Prioritäten. Ausserdem hat diese junge Generation mehr als wir erfahren, wie endlich das Leben ist und sie ahnen, dass man mit dem Ersparten im Grab auch nicht mehr viel unternehmen kann.

Nun ist Sivan im Militärdienst, zum zweiten Mal in Reserve seit dem 7. Oktober. Doch ihr hungriges Instagram-Publikum muss gefüttert werden. Also präsentiert Sivan in ihren Instagram-Storys einfach weiter Essbares – nur zeigen die Fotos und Videoclips nun, aus dem kulinarischen Angebot der IDF, die eher erbärmlichen Varianten der Kochkunst. Auf Bilder von trockenen Hühnerkeulen und zu Brei verkochten Beilagen folgen verschrumpelte Äpfel und Gurken. Ab und zu beisst Sivan genüsslich in von Fett triefende Toasts, die sich die hungrigen Soldaten in Imbisskiosks von ihrem eigenen Geld kaufen, weil das Angebot in den Kantinen nicht geniessbar ist. Die Clips aus den Armeebasen und -Küchen werden von Sivans lustigen Kommentaren und Verbesserungsvorschlägen untermalt. Meistens gibt sie noch locker-flockig eine Bewertung von 1 bis 10 ab, wobei diese in den wenigsten Fällen eine 4 übersteigt. Nur nicht den Humor verlieren, ist die Devise.



Freitag, 25. Oktober 2024

Überall und dazwischen

Die wiederholten Luftschutzalarme haben mich nun wirklich schon überall überrascht:
  • beim Autofahren,
  • in einem Einkaufszentrum,
  • im Büro,
  • während einer geschäftlichen online-Besprechung (Sirenengeheul – alle israelischen Teilnehmer verschwinden in Sekundenschnelle vom Bildschirm, die amerikanischen Mitarbeiter bleiben verdutzt zurück),
  • natürlich in verschiedensten Situationen zu Hause,
  • an einem Dienstagmorgen im Training, wo der Alarm nach fünfzehn Minuten schweisstreibendem Konditionstraining fast schon ein willkommener Unterbruch war.
Unsere Situation ist aber nicht annähernd so schlimm wie im Norden Israels, wo seit einem Jahr Dauerbeschuss aus dem Libanon herrscht. Lest darüber bitte diesen Artikel.


Zwischen den Alarmen:
  • feiern wir das Laubhüttenfest,
  • brechen wir ob der Meldung über Shirel Golans Selbstmord an ihrem 22. Geburtstag kurz zusammen (Shirel, eine Nova-Überlebende aus einem Nachbardorf, war eine Jahrgängerin und Bekannte aus der Oberstufe von Lianne),
  • probieren wir Brautkleider an (für die näher rückende Hochzeit),
  • schalten wir das Radio aus und malen Mandalas,
  • erreichen uns auch ohne Radio täglich entsetzliche Nachrichten,
  • trinken wir einen Apéro am Dizengoffplatz in Tel-Aviv (aus Angst vor Terrorattentaten setzen wir uns in den hinteren Teil des Restaurants), 
  • freuen wir uns über den Tod von Yahya Sinwar,
  • stellen wir bei einem Morgenlauf fest, dass es endgültig Herbst geworden ist und dass die Felder mit frischen Erdbeersetzlingen bepflanzt worden sind,
  • halten wir einen Samstag lang den Atem an aufgrund eines sich wie ein Steppenfeuer ausbreitenden Gerüchts, dass die entführten, seit 386 Tagen in Geiselhaft gequälten Späherinnen freigekommen sind ("Späherinnen" bezieht sich auf die fünf jungen Soldatinnen, die von der Nahal-Oz Basis verschleppt worden sind),
  • sind wir mindestens einen Sonntag lang am Boden zerstört, weil das Gerücht in tausend Teile zerbricht,
  • freuen wir uns auf die bevorstehende Geburt von Zwillingen in der Familie,
  • verbleiben wir in angespannter Erwartung, dass einige Menschen in Gaza, die vielleicht auch Frieden wollen und froh sind über den Tod des "Schlächters von Chan Yunis" auf die Strassen gehen, weisse Fahnen schwenken und die Geiseln freigeben,
  • beobachten wir die Mandarinen, die am Baum vor dem Stubenfenster reifen.
Zwischen den Alarmen – rappeln wir uns immer wieder auf.





Was mir ein bisschen Kraft gibt, ist die vage und – wer weiss – vielleicht völlig utopische Hoffnung, dass dieser Krieg eine Chance für eine Neuordnung im Nahen Osten sein könnte. Eine Chance für einen friedlichen Nahen Osten, in dem die guten über die bösen Kräfte gesiegt haben. Ein naher Osten, in welchem zerstörerische Ideologien vernichtet und lebensbejahender Überzeugung gewichen sind. 
Es ist schwer, diese Hoffnung aufrechtzuerhalten, denn ein Blick in die ausser-israelischen Medien ergibt, dass Israel zu 99 Prozent alles falsch macht und der israelische Staat der Hauptschuldige an einem möglichen dritten Weltkrieg ist. Doch vielleicht, wenn sich die Israelis nicht beirren lassen und einige internationale Mächte mitziehen, könnte kreative Strategie, in Kombination mit ein bisschen Glück, 

oder vielleicht einem Wunder, 

in zehn, zwanzig oder mehr Jahren zur Entstehung eines neuen Nahen Ostens führen. 
Ich muss an diesem Hoffnungsschimmer festhalten, denn sonst ist unser Dasein, vor allem das der jungen Generation, das meiner Kinder, unerträglich schmerzhaft und deprimierend.



Montag, 21. Oktober 2024

Erste Hilfe

Wenn sie, liebe Leserin oder lieber Leser, bei mir zu Hause zu ersticken drohen, vom oberen in den unteren Stock stürzen, sich eine Hand abhacken, einen anaphylaktischen Schock oder einen Herzinfarkt erleiden, stehen die Chancen gut, zu überleben und umgehend vor Ort medizinisch richtig behandelt zu werden. Es gibt nämlich dreieinhalb gut ausgebildete Notfallsanitäter in meiner Familie.

Eyal absolvierte seinen vierjährigen Militärdienst vor vierzig Jahren als Ausbilder von Sanitätern. Nach dem Dienst leistete er viele Jahre Freiwilligenarbeit beim Magen David Adom (MDA, die israelische Organisation für medizinische Notfälle) und festigte so seine Erfahrung. Nicht immer waren diese Einsätze sehr dramatisch, ich kann mich jedoch noch gut erinnern, wie er einmal sehr aufgewühlt erzählte, sein Rettungsteam hätte ein Kleinkind vor dem Erstickungstod retten können.

Lianne ist das einzige unserer Kinder, welches die Familientradition, als Sanitäter/in in der IDF zu dienen, nicht weiterführen konnte. Obwohl sie schon vor dem Militärdienst einen Nothelferkurs für Jugendliche abgeschlossen hatte und auch schon etwas Freiwilligenarbeit als Nothelferin leistete, gab es zur Zeit ihrer Ausmusterung in der Armee einen wahren Ansturm auf die Rolle der Sanitäter. Daran war unter anderem die israelische Fernsehserie "Tagad" Schuld, welche in drei Staffeln die Handlungen der Militär-Notfallmediziner idealisierte und sehr populär machte. Lianne wurde also nicht Sanitäterin, wie sie es sich aus tiefster Seele gewünscht hätte, sondern, zu ihrer bodenlosen Enttäuschung, Späherin in der Marine. Eine Aufgabe, die, wie sie fand, weder ihren Fähigkeiten noch ihrem Charakter entsprach. Aber das Militär ist kein Wunschkonzert (ausser man hat sehr gute Beziehungen) und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Im zweiten Jahr ihres Dienstes versuchte sie, einer anderen Aufgabe zugeteilt zu werden, doch in diesem schwerfälligen System irgendetwas voranzutreiben, ist mühsam und dornenreich und oft gar unmöglich. Sie brachte ihre zwei Jahre zu Ende, jedoch mit einem sehr bitteren Nachgeschmack.

Itay diente drei Jahre als Soldat in einer Kampfeinheit, in welcher er nach entsprechender Ausbildung die Funktion des Sanitäters übernahm. Auch Itay verrichtete nach der Militärpflicht Freiwilligendienst im MDA. Die Einsätze waren vor allem Spitaltransporte auf Abruf und erste Hilfe für Drogensüchtige, Obdachlose oder andere soziale Randfiguren. Von diesen Einsätzen berichtete er oft Schockierendes. 
In aktivem Krieg kam Itay nur knapp eine Woche zum Einsatz, bevor er freigestellt wurde. Einer seiner spektakulärsten Notfalleinsätze, in zivilem Rahmen, war die nächtliche Rettung eines jungen Betrunkenen aus dem See in Zürich.

Sivan, unsere Älteste, diente, wie ihr Vater, als Ausbilderin von Sanitätern. Dieser Job ist hoch spannend, herausfordernd und belohnend. Die Ausbilder erlangen in intensiven Kursen fast ein Jahr lang fundiertes Wissen. Sie müssen fähig sein, grössere Gruppen von Auszubildenden zu leiten. Dabei sind diese Auszubildenden nicht etwa eingeschüchterte Erstklässler, sondern oft ziemlich freche junge Kampfsoldaten, die die Grenzen ausloten und sich nicht so leicht etwas sagen lassen. Man muss als Ausbilderin durchsetzungsfähig sein, die Gruppe begeistern können, über Talent in Gruppendynamik verfügen und natürlich die Thematik beherrschen. Sivan blühte in dieser Aufgabe vollkommen auf. Sie hatte eine fantastische Zeit, kam oft an ihre Grenzen, fühlte aber eine grosse persönliche Genugtuung. Etwa 70 Soldaten und Soldatinnen sind von ihr während ihrem Pflichtdienst insgesamt zu Sanitätern ausgebildet worden und alle bewundern sie bis heute.

Sivan beherrscht die Notfallmedizin – in der Theorie – vorwärts und rückwärts. Im wirklichen Leben wurde ihr Wissen aber nur für einige Bagatellfälle in Anspruch genommen. Die Ausbildung in der IDF ist jedoch in höchstem Masse praxisbezogen. Ich habe die Ausbildungsräume, in welchen die Lärmkulisse, Lichtverhältnisse und sogar der Geruch der möglichen Szenarien simuliert werden, besuchen dürfen und war überwältigt, wie viel Aufwand in realitätsbezogene Ausbildung gesteckt wird. So kann man sich darauf verlassen, dass die Sanitäter auch in wirklichen Horrorsituationen nicht die Nerven verlieren.


Sivan (links, mit Schirmmütze) bei einer Übung

Im Oktober 2023 explodierte aufgrund einer Munitionsfehlfunktion auf einem Boot der Marine an der Grenze zum Libanon eine Granate in den Händen der Kampfsoldatin Kamay und Itays Freund Alon. Die erst neunzehnjährige Soldatin wurde getötet, Alon lebensgefährlich und weitere sieben Soldaten leicht verletzt. Der anwesende, knapp zwanzigjährige Sanitäter, der seinen Kurs erst vor Kurzem abgeschlossen hatte, reagierte hervorragend. In diesem völligen Chaos behielt er die Übersicht und erkannte, wer am dringendsten behandelt werden musste. Er unternahm lebensnotwendige medizinische Versorgungen, legte Alon an den vier schwerst verletzten Extremitäten in kürzester Zeit Stauschläuche an und rettete ihn so vor dem sicheren Verbluten. Alon und sein Lebensretter haben heute eine besondere und sehr enge Beziehung.

Sivan wurde nach der grossen Mobilmachung, die dem 7. Oktober-Massaker folgte, eingezogen. Sie diente vier Monate in Reserve, um die Ausbildung der aufgebotenen Reservesanitäter auf Vordermann zu bringen. Unter anderem bildet sie im Rahmen ihrer Aufgabe auch Ärzte aus, die natürlich medizinisches Wissen mitbringen, nicht aber unbedingt in Notfallmedizin bewandert sind.

Ja, ich bin stolz auf meine Familienmitglieder und ihre herausragenden Leistungen, gerade auf diesem Gebiet der Sorge und Hilfe für Mitmenschen. Und ich finde, sie dürfen stolz auf ihre Errungenschaften sein.

Noch wünschenswerter wäre es, wenn sie diese Leistungen nicht bewaffnet und im Rahmen einer Armee vollbringen müssten, sondern friedlich in verschiedenen zivilen Rahmen das Beste aus sich herausholen könnten. Leider lassen das aber die nicht abbrechenden kriegerischen Bedrohungen durch die vielen Feinde Israels nicht zu.

Und so hat Sivan auch schon ihren nächsten Notabruf-Einsatzbefehl erhalten. Kommende Woche geht es ab in den Norden.



Donnerstag, 10. Oktober 2024

Noch lange nicht vorbei

Bis vor etwas mehr als einer Woche hatte ich den Eindruck, mich vom Schock des 7. Oktober-Massakers und der neuen Situation, die das Massaker mit sich gebracht hat, ein wenig erholt zu haben. Ein leises Gefühl, dass ich das Trauma verarbeiten könnte und dass irgendwann doch alles wieder gut wird, schlich sich ein. Ich öffnete diesem Gefühl alle Tore und rollte ihm den roten Teppich aus.

Doch jetzt bricht alles wieder auf.

Alon kommt am Tag vor Itays Abreise zu Besuch. Seine Freunde tragen ihn im Rollstuhl über die nicht rollstuhltaugliche Stufe am Eingang. Er lässt es sich nicht nehmen, sich auf sein eines Bein zu erheben, um uns zu begrüssen. Am Dienstag schaue ich mir die Reportage über ihn (und andere Schwerverletzte) auf Kanal 12 im israelischen Fernsehen an. Alon ist ein bewundernswerter Mensch. Er legt mehr Initiative an den Tag als viele von uns, die noch über alle Extremitäten verfügen. Er ist ein begabter Schauspieler, charismatisch, lustig und intelligent. In der Reportage ist auch Itay zu sehen und ich erkenne Aufnahmen aus ihren gemeinsamen Reisen. Die Konfrontation ist schwer und lässt mich zutiefst verwirrt zurück.

Zum ersten Mal vernehme ich die Geschichte von Roee, einem Bekannten von Sivan aus unserem Nachbardorf. Roee, seine Partnerin und eine beste Freundin suchten am 7. Oktober Schutz vor dem Kugelhagel unter zwei Autos. Seine Partnerin Agam und Hili, die Freundin, wurden neben ihm liegend erschossen, Roee überlebte mit mehreren Schusswunden und verharrte lange Stunden neben den zwei Ermordeten. Roees Mutter konnte die Situation nicht bewältigen, sie beging zwei Wochen nach seiner Rückkehr Selbstmord.
Sivan hat noch einen weiteren Bekannten und ehemaligen Klassenkameraden mit dem Namen Roee. Dieser ist am 19. November in Gaza gefallen.

Mein Arbeitgeber organisiert einen Vortrag von Meirav Tal, der 54-Jährigen, die aus dem Kibbutz Nir Oz nach Gaza verschleppt und Ende November freigelassen wurde. In der Geiselhaft wurde sie weder geschlagen noch sexuell misshandelt, doch nach ihren Berichten verstehe ich, dass jede einzelne Sekunde in dieser Hölle jenseits der Schmerzgrenze gewesen sein musste. Ihre Aussagen sind erschütternd.

Zum Gedenken an das Massaker sind die Medien voll von weiteren unerträglichen Berichten von Überlebenden und ehemaligen Geiseln. Darunter auch viele Kinder. Ich höre mir einige an und kann die Ausmasse der Gräueltaten einfach nicht fassen.

Bei Markus Lanz' Sendung vom 8. Oktober auf ZDF verfolge ich den Bericht des sehr aufgewühlten Alon Gat, der ganz offensichtlich schon ein Jahr lang Furchtbares durchmacht.

Immer wieder sprechen wir über Nitzan und dass ausgerechnet sie, die immer sehr ängstlich war, ihre letzten Stunden in panischer Angst verbringen musste.

Ich finde Lianne fast psychotisch lachend am Handy, wo sie sich alte Tiktok-Filmchen mit ihrer Freundin Shir ansieht. Lianne macht mir Angst. "Sie lebt nicht mehr", lacht Lianne, als wäre sie nicht bei Sinnen.

Ich weiss nicht – ist jemand von uns überhaupt bei Sinnen?

Es gibt jetzt Tausende solcher Schicksale in Israel. Und täglich, wirklich täglich, hören wir von neuen Ermordeten, von Attentaten in Tel-Aviv, Beersheva, Hadera, von Ermordeten durch Raketeneinschläge, und täglich von gefallenen Soldaten.




Dienstag, 8. Oktober 2024

Tage im Oktober

Meine Gefühle fahren Achterbahn. Die iranische Attacke, das Neujahrsfest, meine Geburtstagsfeier mit den Kindern in einem verwöhnenden Hotel, nur wenige Stunden danach Itays Flug in die Schweiz (ohne Rückflug), Krieg an allen Fronten, der Jahrestag des 7. Oktober-Massakers, unser 30. Hochzeitstag. Es ist alles ein bisschen viel.

Es sind schwere Tage um den 7. Oktober. Man konnte die Agonie des israelischen Volkes förmlich im ganzen Land spüren. Gedenkfeiern wurden abgehalten, auf den Friedhöfen, auf öffentlichen Plätzen, in Privathäusern. Die Medien sind übervoll mit unfassbaren Berichten. Mein Herz ist unendlich schwer. Ich gedenke der Opfer privat und im Stillen, wie ich es eigentlich seit dem 7. Oktober rund um die Uhr tue, doch heute etwas bewusster. Ich nutze dabei das Privileg der nicht ganz direkt Betroffenen und versuche, nicht allzu tief in das Elend einzutauchen.

Weiterhin werden von mehreren Fronten Raketen auf uns abgefeuert. Am Montag schlagen tagsüber Raketen im Gebiet Haifa und eine im Zentrum ein. An verschiedenen öffentlichen Gedenkfeiern müssen die Anwesenden vor den Raketenangriffen Schutz suchen.

Das alles sind keine idealen Bedingungen, um einen 30. Hochzeitstag zu feiern, was ja aber auch nicht weiter schlimm ist. Auch diesen Anlass feiere ich in Gedanken - wie ich es eigentlich seit dreissig Jahren tue, nur heute etwas bewusster.

Zu allem Übel deutet sich in unserem Vorgarten ein Rohrbruch ab. Mehrere schwitzende Männer brechen schon seit zwei Tagen mit Presslufthämmern die Bodenplatten auf und buddeln den Vorgarten und den Parkplatz um. Gestern bis spät in den Abend. Auch dies sind nicht gerade ideale Rahmenbedingungen für eine romantische Feier.

Am Abend des Jahrestages sehe ich mir doch noch die Sendung "Hamas-Angriff aufs Festival" auf ARTE an. Ich kann es einfach nicht lassen, mich in den westlichen Medien umzusehen, auch wenn ich dabei immer wieder schallende Ohrfeigen und Schläge in die Magengrube einstecke. Die Sendung ist realitätsbezogen, zeigt aber nur einen verschwindend kleinen Teil der ganzen Katastrophe auf. Immerhin, eine halbe Stunde ohne "aber, die Israelis haben doch auch...", wenigstens an diesem Tag, das ist schon viel, vor allem auf ARTE.
Ich selbst kenne diese Berichte aus erster Hand, von Freunden meiner Kinder, Bekannten und Verwandten.
Ich wünsche mir, dass Menschen in meinem Herkunftsland sich wenigstens eine halbe Stunde Zeit nehmen, sich so etwas anzusehen. Ich wünsche mir, dass Menschen Partei ergreifen und nicht schweigen. Schweigen ist keine Option. Schweigen ist Mittäterschaft. 

Kibbutz Netiv Ha'asara, der 7. Oktober 2023. Ein Hamas-Terrorist in der Stube der Familie Ta'asse. Der bestialischen Kreatur gegenüber sitzen die 8- und 12-jährigen Geschwister Shay und Koren, verletzt und panisch, nachdem der Terrorist ihren Vater vor ihren Augen ermordet hat. Das Scheusal öffnet kaltblütig den Kühlschrank und erlabt sich an einer Flasche Cola, bevor es seinen Mordzug weiterführt.
Meine Finger zittern, es fällt mir schwer, das Bild hier hineinzustellen.



Um 18:45 zurrt die HeimfrontApp auf dem Handy: Alarm in Tel-Aviv. Schon wieder müssen Sivan und Zehntausende in Israels Zentrum in die Schutzräume rennen. In Israels Norden ist das leider seit Monaten bitterer Alltag. Am späteren Montagabend wiederholt sich das Szenario in Tel-Aviv.

Kurz nach 23 Uhr durchschneidet Sirenengeheul aus unseren Nachbardörfern auch bei uns die Nacht. Zum feierlichen Abschluss des Tages erschüttern mehrere starke Knalle und dröhnendes Krachen die Region.

Ich warte noch einige Minuten, um mich zu versichern, dass die Sirenen nicht auch bei uns losgehen, dann gehe ich schlafen.

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Zum Jahrestag des 7. Oktobers veröffentlicht die IDF die Anzahl der Raketenabschüsse auf Israel im vergangenen Jahr.
Es sind:

13,200 aus dem Gazastreifen
12,400 aus dem Libanon
400 aus dem Iran
180 aus dem Jemen
60 aus Syrien