„Sehr geehrtes Fräulein S.,
gestatten Sie mir, dass ich mich Ihnen vorstelle? ....
... Ich möchte Sie nun höflich einladen, an das Sommernachtsfest vom nächsten Samstag....
Darf ich Ihren angenehmen Bericht erwarten?
Ich grüsse Sie hochachtungsvoll.“
Der Brief ist auf einen Sommertag vor 67 Jahren datiert. Die Seiten sind schon etwas vergilbt, doch man sieht ihnen an, dass sie sorgfältig aufbewahrt wurden und viel mehr bedeuten, als ein Stück Papier.
Ob die „angenehme Antwort“ ebenfalls per Post erfolgte, oder über die fünfstellige Telefonnummer am Fuss des Briefes, ist mir nicht bekannt.
Sicher ist nur: Im Sommer 1960, zwei Jahre nachdem mein Vater diesen höflichen Brief versandte, heirateten meine Eltern.
Sie bekamen Kinder, bauten ein Haus.
Diesen Sommer fiel mein Besuch bei ihnen just auf den Eisernen Hochzeitstag. 65 gemeinsame Ehejahre. Der Gemeindeammann überbrachte amtliche Glückwünsche und einen Blumenstrauss zum besonderen Jubiläum.
Einen Tag danach wurde meine Mutter ins Spital eingeliefert. Sie ist nun unheilbar krank und wird nicht mehr nach Hause zurückkehren.
Mein Vater, inzwischen 92 Jahre alt, lebt jetzt alleine in dem grossen Haus mit Umschwung, das sie in meinem ersten Lebensjahr gebaut und gemeinsam bezogen haben.
Täglich fahren ihn meine Geschwister, Schwäger und liebe Bekannte ins Spital in der nahe gelegenen Stadt, damit er bei meiner Mutter sein kann.
Das Auto meines Vaters steht noch in der Garage. „Ich mag nicht selbst in die Stadt fahren, ich bin zu müde“, sagt mir mein Vater am Telefon. Wir alle schätzen es sehr, dass er das endlich eingesehen hat. Auch wenn er selbst dem Tod schon ein paar Mal von der Schippe gesprungen zu sein scheint, ist er schwach und, abgesehen von einigen Pausen, immer müde. Er nimmt täglich belastende Medikamente ein.
Doch als zwei Tage in der Folge niemand anbietet, ihn zu fahren, schlägt er seine eigenen Vorbehalte in den Wind und nimmt den Autoschlüssel zur Hand. Er steuert das etwas veraltete, handgeschaltete Auto zielsicher auf die Autobahn und biegt nach einer zwanzig-minütigen Fahrt kurz vor Stadteingang in Richtung Spital ab. Auf wackligen Beinen, mit dem Stock, geht er durch die langen Spitalkorridore zu meiner Mutter.
Für gesunde Menschen mag dieser Weg ein Kinderspiel sein. Für einen alten Mann im Zustand meines Vaters ist er eine prüfende Anstrengung. Eine Kraft, die stärker ist als Müdigkeit, Alter oder Vernunft trägt ihn zu meiner Mutter. Wie in den vergangenen 65 Jahren nehmen sie das Mittagessen gemeinsam ein. Er bleibt noch eine Weile, dann fährt er nach Hause und stellt das Auto wieder in die Garage. Wer weiss, wie oft es noch gefahren werden wird.
Wir hätten wohl nie etwas von diesem kleinen Ausflug erfahren, hätte meine Schwester nicht zufällig angerufen.
Meine Eltern haben im Laufe der Jahre eine symbiotische Verbundenheit entwickelt. Sie begrüssten sich über sechs Jahrzehnte lang jeden Morgen täglich mit einem Kuss. Mehr als einmal nimmt meine Mutter meinen Anruf im Spital mit einem schwachen „Schätzli?“ ab, weil sie meinen Vater am Telefon vermutet.
Ich will nichts verklären. Auch diese Partnerschaft ist alles andere als perfekt, auch unsere Familie alles andere als makellos. Dass mein Vater Auto fährt, ist absolut unverantwortlich. Aber einen kleinen Blogbeitrag, finde ich, hat diese Geschichte einer unerschütterlichen Liebe, die wie aus einer anderen Zeit gefallen scheint, schon verdient.