Freitag, 25. Oktober 2024

Überall und dazwischen

Die wiederholten Luftschutzalarme haben mich nun wirklich schon überall überrascht:
  • beim Autofahren,
  • in einem Einkaufszentrum,
  • im Büro,
  • während einer geschäftlichen online-Besprechung (Sirenengeheul – alle israelischen Teilnehmer verschwinden in Sekundenschnelle vom Bildschirm, die amerikanischen Mitarbeiter bleiben verdutzt zurück),
  • natürlich in verschiedensten Situationen zu Hause,
  • an einem Dienstagmorgen im Training, wo der Alarm nach fünfzehn Minuten schweisstreibendem Konditionstraining fast schon ein willkommener Unterbruch war.
Unsere Situation ist aber nicht annähernd so schlimm wie im Norden Israels, wo seit einem Jahr Dauerbeschuss aus dem Libanon herrscht. Lest darüber bitte diesen Artikel.


Zwischen den Alarmen:
  • feiern wir das Laubhüttenfest,
  • brechen wir ob der Meldung über Shirel Golans Selbstmord an ihrem 22. Geburtstag kurz zusammen (Shirel, eine Nova-Überlebende aus einem Nachbardorf, war eine Jahrgängerin und Bekannte aus der Oberstufe von Lianne),
  • probieren wir Brautkleider an (für die näher rückende Hochzeit),
  • schalten wir das Radio aus und malen Mandalas,
  • erreichen uns auch ohne Radio täglich entsetzliche Nachrichten,
  • trinken wir einen Apéro am Dizengoffplatz in Tel-Aviv (aus Angst vor Terrorattentaten setzen wir uns in den hinteren Teil des Restaurants), 
  • freuen wir uns über den Tod von Yahya Sinwar,
  • stellen wir bei einem Morgenlauf fest, dass es endgültig Herbst geworden ist und dass die Felder mit frischen Erdbeersetzlingen bepflanzt worden sind,
  • halten wir einen Samstag lang den Atem an aufgrund eines sich wie ein Steppenfeuer ausbreitenden Gerüchts, dass die entführten, seit 386 Tagen in Geiselhaft gequälten Späherinnen freigekommen sind ("Späherinnen" bezieht sich auf die fünf jungen Soldatinnen, die von der Nahal-Oz Basis verschleppt worden sind),
  • sind wir mindestens einen Sonntag lang am Boden zerstört, weil das Gerücht in tausend Teile zerbricht,
  • freuen wir uns auf die bevorstehende Geburt von Zwillingen in der Familie,
  • verbleiben wir in angespannter Erwartung, dass einige Menschen in Gaza, die vielleicht auch Frieden wollen und froh sind über den Tod des "Schlächters von Chan Yunis" auf die Strassen gehen, weisse Fahnen schwenken und die Geiseln freigeben,
  • beobachten wir die Mandarinen, die am Baum vor dem Stubenfenster reifen.
Zwischen den Alarmen – rappeln wir uns immer wieder auf.





Was mir ein bisschen Kraft gibt, ist die vage und – wer weiss – vielleicht völlig utopische Hoffnung, dass dieser Krieg eine Chance für eine Neuordnung im Nahen Osten sein könnte. Eine Chance für einen friedlichen Nahen Osten, in dem die guten über die bösen Kräfte gesiegt haben. Ein naher Osten, in welchem zerstörerische Ideologien vernichtet und lebensbejahender Überzeugung gewichen sind. 
Es ist schwer, diese Hoffnung aufrechtzuerhalten, denn ein Blick in die ausser-israelischen Medien ergibt, dass Israel zu 99 Prozent alles falsch macht und der israelische Staat der Hauptschuldige an einem möglichen dritten Weltkrieg ist. Doch vielleicht, wenn sich die Israelis nicht beirren lassen und einige internationale Mächte mitziehen, könnte kreative Strategie, in Kombination mit ein bisschen Glück, 

oder vielleicht einem Wunder, 

in zehn, zwanzig oder mehr Jahren zur Entstehung eines neuen Nahen Ostens führen. 
Ich muss an diesem Hoffnungsschimmer festhalten, denn sonst ist unser Dasein, vor allem das der jungen Generation, das meiner Kinder, unerträglich schmerzhaft und deprimierend.



Montag, 21. Oktober 2024

Erste Hilfe

Wenn sie, liebe Leserin oder lieber Leser, bei mir zu Hause zu ersticken drohen, vom oberen in den unteren Stock stürzen, sich eine Hand abhacken, einen anaphylaktischen Schock oder einen Herzinfarkt erleiden, stehen die Chancen gut, zu überleben und umgehend vor Ort medizinisch richtig behandelt zu werden. Es gibt nämlich dreieinhalb gut ausgebildete Notfallsanitäter in meiner Familie.

Eyal absolvierte seinen vierjährigen Militärdienst vor vierzig Jahren als Ausbilder von Sanitätern. Nach dem Dienst leistete er viele Jahre Freiwilligenarbeit beim Magen David Adom (MDA, die israelische Organisation für medizinische Notfälle) und festigte so seine Erfahrung. Nicht immer waren diese Einsätze sehr dramatisch, ich kann mich jedoch noch gut erinnern, wie er einmal sehr aufgewühlt erzählte, sein Rettungsteam hätte ein Kleinkind vor dem Erstickungstod retten können.

Lianne ist das einzige unserer Kinder, welches die Familientradition, als Sanitäter/in in der IDF zu dienen, nicht weiterführen konnte. Obwohl sie schon vor dem Militärdienst einen Nothelferkurs für Jugendliche abgeschlossen hatte und auch schon etwas Freiwilligenarbeit als Nothelferin leistete, gab es zur Zeit ihrer Ausmusterung in der Armee einen wahren Ansturm auf die Rolle der Sanitäter. Daran war unter anderem die israelische Fernsehserie "Tagad" Schuld, welche in drei Staffeln die Handlungen der Militär-Notfallmediziner idealisierte und sehr populär machte. Lianne wurde also nicht Sanitäterin, wie sie es sich aus tiefster Seele gewünscht hätte, sondern, zu ihrer bodenlosen Enttäuschung, Späherin in der Marine. Eine Aufgabe, die, wie sie fand, weder ihren Fähigkeiten noch ihrem Charakter entsprach. Aber das Militär ist kein Wunschkonzert (ausser man hat sehr gute Beziehungen) und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Im zweiten Jahr ihres Dienstes versuchte sie, einer anderen Aufgabe zugeteilt zu werden, doch in diesem schwerfälligen System irgendetwas voranzutreiben, ist mühsam und dornenreich und oft gar unmöglich. Sie brachte ihre zwei Jahre zu Ende, jedoch mit einem sehr bitteren Nachgeschmack.

Itay diente drei Jahre als Soldat in einer Kampfeinheit, in welcher er nach entsprechender Ausbildung die Funktion des Sanitäters übernahm. Auch Itay verrichtete nach der Militärpflicht Freiwilligendienst im MDA. Die Einsätze waren vor allem Spitaltransporte auf Abruf und erste Hilfe für Drogensüchtige, Obdachlose oder andere soziale Randfiguren. Von diesen Einsätzen berichtete er oft Schockierendes. 
In aktivem Krieg kam Itay nur knapp eine Woche zum Einsatz, bevor er freigestellt wurde. Einer seiner spektakulärsten Notfalleinsätze, in zivilem Rahmen, war die nächtliche Rettung eines jungen Betrunkenen aus dem See in Zürich.

Sivan, unsere Älteste, diente, wie ihr Vater, als Ausbilderin von Sanitätern. Dieser Job ist hoch spannend, herausfordernd und belohnend. Die Ausbilder erlangen in intensiven Kursen fast ein Jahr lang fundiertes Wissen. Sie müssen fähig sein, grössere Gruppen von Auszubildenden zu leiten. Dabei sind diese Auszubildenden nicht etwa eingeschüchterte Erstklässler, sondern oft ziemlich freche junge Kampfsoldaten, die die Grenzen ausloten und sich nicht so leicht etwas sagen lassen. Man muss als Ausbilderin durchsetzungsfähig sein, die Gruppe begeistern können, über Talent in Gruppendynamik verfügen und natürlich die Thematik beherrschen. Sivan blühte in dieser Aufgabe vollkommen auf. Sie hatte eine fantastische Zeit, kam oft an ihre Grenzen, fühlte aber eine grosse persönliche Genugtuung. Etwa 70 Soldaten und Soldatinnen sind von ihr während ihrem Pflichtdienst insgesamt zu Sanitätern ausgebildet worden und alle bewundern sie bis heute.

Sivan beherrscht die Notfallmedizin – in der Theorie – vorwärts und rückwärts. Im wirklichen Leben wurde ihr Wissen aber nur für einige Bagatellfälle in Anspruch genommen. Die Ausbildung in der IDF ist jedoch in höchstem Masse praxisbezogen. Ich habe die Ausbildungsräume, in welchen die Lärmkulisse, Lichtverhältnisse und sogar der Geruch der möglichen Szenarien simuliert werden, besuchen dürfen und war überwältigt, wie viel Aufwand in realitätsbezogene Ausbildung gesteckt wird. So kann man sich darauf verlassen, dass die Sanitäter auch in wirklichen Horrorsituationen nicht die Nerven verlieren.


Sivan (links, mit Schirmmütze) bei einer Übung

Im Oktober 2023 explodierte aufgrund einer Munitionsfehlfunktion auf einem Boot der Marine an der Grenze zum Libanon eine Granate in den Händen der Kampfsoldatin Kamay und Itays Freund Alon. Die erst neunzehnjährige Soldatin wurde getötet, Alon lebensgefährlich und weitere sieben Soldaten leicht verletzt. Der anwesende, knapp zwanzigjährige Sanitäter, der seinen Kurs erst vor Kurzem abgeschlossen hatte, reagierte hervorragend. In diesem völligen Chaos behielt er die Übersicht und erkannte, wer am dringendsten behandelt werden musste. Er unternahm lebensnotwendige medizinische Versorgungen, legte Alon an den vier schwerst verletzten Extremitäten in kürzester Zeit Stauschläuche an und rettete ihn so vor dem sicheren Verbluten. Alon und sein Lebensretter haben heute eine besondere und sehr enge Beziehung.

Sivan wurde nach der grossen Mobilmachung, die dem 7. Oktober-Massaker folgte, eingezogen. Sie diente vier Monate in Reserve, um die Ausbildung der aufgebotenen Reservesanitäter auf Vordermann zu bringen. Unter anderem bildet sie im Rahmen ihrer Aufgabe auch Ärzte aus, die natürlich medizinisches Wissen mitbringen, nicht aber unbedingt in Notfallmedizin bewandert sind.

Ja, ich bin stolz auf meine Familienmitglieder und ihre herausragenden Leistungen, gerade auf diesem Gebiet der Sorge und Hilfe für Mitmenschen. Und ich finde, sie dürfen stolz auf ihre Errungenschaften sein.

Noch wünschenswerter wäre es, wenn sie diese Leistungen nicht bewaffnet und im Rahmen einer Armee vollbringen müssten, sondern friedlich in verschiedenen zivilen Rahmen das Beste aus sich herausholen könnten. Leider lassen das aber die nicht abbrechenden kriegerischen Bedrohungen durch die vielen Feinde Israels nicht zu.

Und so hat Sivan auch schon ihren nächsten Notabruf-Einsatzbefehl erhalten. Kommende Woche geht es ab in den Norden.



Donnerstag, 10. Oktober 2024

Noch lange nicht vorbei

Bis vor etwas mehr als einer Woche hatte ich den Eindruck, mich vom Schock des 7. Oktober-Massakers und der neuen Situation, die das Massaker mit sich gebracht hat, ein wenig erholt zu haben. Ein leises Gefühl, dass ich das Trauma verarbeiten könnte und dass irgendwann doch alles wieder gut wird, schlich sich ein. Ich öffnete diesem Gefühl alle Tore und rollte ihm den roten Teppich aus.

Doch jetzt bricht alles wieder auf.

Alon kommt am Tag vor Itays Abreise zu Besuch. Seine Freunde tragen ihn im Rollstuhl über die nicht rollstuhltaugliche Stufe am Eingang. Er lässt es sich nicht nehmen, sich auf sein eines Bein zu erheben, um uns zu begrüssen. Am Dienstag schaue ich mir die Reportage über ihn (und andere Schwerverletzte) auf Kanal 12 im israelischen Fernsehen an. Alon ist ein bewundernswerter Mensch. Er legt mehr Initiative an den Tag als viele von uns, die noch über alle Extremitäten verfügen. Er ist ein begabter Schauspieler, charismatisch, lustig und intelligent. In der Reportage ist auch Itay zu sehen und ich erkenne Aufnahmen aus ihren gemeinsamen Reisen. Die Konfrontation ist schwer und lässt mich zutiefst verwirrt zurück.

Zum ersten Mal vernehme ich die Geschichte von Roee, einem Bekannten von Sivan aus unserem Nachbardorf. Roee, seine Partnerin und eine beste Freundin suchten am 7. Oktober Schutz vor dem Kugelhagel unter zwei Autos. Seine Partnerin Agam und Hili, die Freundin, wurden neben ihm liegend erschossen, Roee überlebte mit mehreren Schusswunden und verharrte lange Stunden neben den zwei Ermordeten. Roees Mutter konnte die Situation nicht bewältigen, sie beging zwei Wochen nach seiner Rückkehr Selbstmord.
Sivan hat noch einen weiteren Bekannten und ehemaligen Klassenkameraden mit dem Namen Roee. Dieser ist am 19. November in Gaza gefallen.

Mein Arbeitgeber organisiert einen Vortrag von Meirav Tal, der 54-Jährigen, die aus dem Kibbutz Nir Oz nach Gaza verschleppt und Ende November freigelassen wurde. In der Geiselhaft wurde sie weder geschlagen noch sexuell misshandelt, doch nach ihren Berichten verstehe ich, dass jede einzelne Sekunde in dieser Hölle jenseits der Schmerzgrenze gewesen sein musste. Ihre Aussagen sind erschütternd.

Zum Gedenken an das Massaker sind die Medien voll von weiteren unerträglichen Berichten von Überlebenden und ehemaligen Geiseln. Darunter auch viele Kinder. Ich höre mir einige an und kann die Ausmasse der Gräueltaten einfach nicht fassen.

Bei Markus Lanz' Sendung vom 8. Oktober auf ZDF verfolge ich den Bericht des sehr aufgewühlten Alon Gat, der ganz offensichtlich schon ein Jahr lang Furchtbares durchmacht.

Immer wieder sprechen wir über Nitzan und dass ausgerechnet sie, die immer sehr ängstlich war, ihre letzten Stunden in panischer Angst verbringen musste.

Ich finde Lianne fast psychotisch lachend am Handy, wo sie sich alte Tiktok-Filmchen mit ihrer Freundin Shir ansieht. Lianne macht mir Angst. "Sie lebt nicht mehr", lacht Lianne, als wäre sie nicht bei Sinnen.

Ich weiss nicht – ist jemand von uns überhaupt bei Sinnen?

Es gibt jetzt Tausende solcher Schicksale in Israel. Und täglich, wirklich täglich, hören wir von neuen Ermordeten, von Attentaten in Tel-Aviv, Beersheva, Hadera, von Ermordeten durch Raketeneinschläge, und täglich von gefallenen Soldaten.




Dienstag, 8. Oktober 2024

Tage im Oktober

Meine Gefühle fahren Achterbahn. Die iranische Attacke, das Neujahrsfest, meine Geburtstagsfeier mit den Kindern in einem verwöhnenden Hotel, nur wenige Stunden danach Itays Flug in die Schweiz (ohne Rückflug), Krieg an allen Fronten, der Jahrestag des 7. Oktober-Massakers, unser 30. Hochzeitstag. Es ist alles ein bisschen viel.

Es sind schwere Tage um den 7. Oktober. Man konnte die Agonie des israelischen Volkes förmlich im ganzen Land spüren. Gedenkfeiern wurden abgehalten, auf den Friedhöfen, auf öffentlichen Plätzen, in Privathäusern. Die Medien sind übervoll mit unfassbaren Berichten. Mein Herz ist unendlich schwer. Ich gedenke der Opfer privat und im Stillen, wie ich es eigentlich seit dem 7. Oktober rund um die Uhr tue, doch heute etwas bewusster. Ich nutze dabei das Privileg der nicht ganz direkt Betroffenen und versuche, nicht allzu tief in das Elend einzutauchen.

Weiterhin werden von mehreren Fronten Raketen auf uns abgefeuert. Am Montag schlagen tagsüber Raketen im Gebiet Haifa und eine im Zentrum ein. An verschiedenen öffentlichen Gedenkfeiern müssen die Anwesenden vor den Raketenangriffen Schutz suchen.

Das alles sind keine idealen Bedingungen, um einen 30. Hochzeitstag zu feiern, was ja aber auch nicht weiter schlimm ist. Auch diesen Anlass feiere ich in Gedanken - wie ich es eigentlich seit dreissig Jahren tue, nur heute etwas bewusster.

Zu allem Übel deutet sich in unserem Vorgarten ein Rohrbruch ab. Mehrere schwitzende Männer brechen schon seit zwei Tagen mit Presslufthämmern die Bodenplatten auf und buddeln den Vorgarten und den Parkplatz um. Gestern bis spät in den Abend. Auch dies sind nicht gerade ideale Rahmenbedingungen für eine romantische Feier.

Am Abend des Jahrestages sehe ich mir doch noch die Sendung "Hamas-Angriff aufs Festival" auf ARTE an. Ich kann es einfach nicht lassen, mich in den westlichen Medien umzusehen, auch wenn ich dabei immer wieder schallende Ohrfeigen und Schläge in die Magengrube einstecke. Die Sendung ist realitätsbezogen, zeigt aber nur einen verschwindend kleinen Teil der ganzen Katastrophe auf. Immerhin, eine halbe Stunde ohne "aber, die Israelis haben doch auch...", wenigstens an diesem Tag, das ist schon viel, vor allem auf ARTE.
Ich selbst kenne diese Berichte aus erster Hand, von Freunden meiner Kinder, Bekannten und Verwandten.
Ich wünsche mir, dass Menschen in meinem Herkunftsland sich wenigstens eine halbe Stunde Zeit nehmen, sich so etwas anzusehen. Ich wünsche mir, dass Menschen Partei ergreifen und nicht schweigen. Schweigen ist keine Option. Schweigen ist Mittäterschaft. 

Kibbutz Netiv Ha'asara, der 7. Oktober 2023. Ein Hamas-Terrorist in der Stube der Familie Ta'asse. Der bestialischen Kreatur gegenüber sitzen die 8- und 12-jährigen Geschwister Shay und Koren, verletzt und panisch, nachdem der Terrorist ihren Vater vor ihren Augen ermordet hat. Das Scheusal öffnet kaltblütig den Kühlschrank und erlabt sich an einer Flasche Cola, bevor es seinen Mordzug weiterführt.
Meine Finger zittern, es fällt mir schwer, das Bild hier hineinzustellen.



Um 18:45 zurrt die HeimfrontApp auf dem Handy: Alarm in Tel-Aviv. Schon wieder müssen Sivan und Zehntausende in Israels Zentrum in die Schutzräume rennen. In Israels Norden ist das leider seit Monaten bitterer Alltag. Am späteren Montagabend wiederholt sich das Szenario in Tel-Aviv.

Kurz nach 23 Uhr durchschneidet Sirenengeheul aus unseren Nachbardörfern auch bei uns die Nacht. Zum feierlichen Abschluss des Tages erschüttern mehrere starke Knalle und dröhnendes Krachen die Region.

Ich warte noch einige Minuten, um mich zu versichern, dass die Sirenen nicht auch bei uns losgehen, dann gehe ich schlafen.

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Zum Jahrestag des 7. Oktobers veröffentlicht die IDF die Anzahl der Raketenabschüsse auf Israel im vergangenen Jahr.
Es sind:

13,200 aus dem Gazastreifen
12,400 aus dem Libanon
400 aus dem Iran
180 aus dem Jemen
60 aus Syrien



Montag, 7. Oktober 2024

Eine Liebesgeschichte

Mein Herz ist schwer. 
Ein schwerer Tag. 
Ein schweres Jahr.  
Der 7. Oktober. 
Was schreibt man an diesem Tag, seit am 7. Oktober 2023 eine neue Shoah für Israel und für das jüdische Volk losgebrochen ist?
Seit dem 7. Oktober 2023 haben all meine Blogbeiträge das Massaker, die Folgen, das Trauma, unseren Alltag im Krieg und die Alternativlosigkeit der Situation zum Thema. Und schon morgen, am 8. Oktober, wird es auf meinem Blog wohl oder übel in diesem Sinne weitergehen. Denn nichts anderes beschäftigt mich so sehr wie dieser Krieg und das Leid aller Betroffenen, zu denen auch ich und meine Familie gehören.

Doch heute, ausgerechnet am Jahrestag des 7. Oktobers, einem Datum, das eine Zäsur in unserem Leben, ja in der Weltgeschichte bedeutet, veröffentliche ich hier eine Liebesgeschichte, die nichts mit "dem" 7. Oktober zu tun hat. Es ist eine Geschichte, die aus einem Groschenroman oder einer Seifenoper stammen könnte. Ob sie frei erfunden oder wahr ist, sei dahingestellt.

Die Geschichte beginnt im Januar 1985, in einem warmen exotischen Land am Mittelmeer. Eine junge Frau, nennen wir sie Sandy, geniesst das angenehme Klima fern ihrer Heimat und gönnt sich vor der Qual der Wahl einer weiteren Ausbildung eine Auszeit. Sandy sehnt sich nach den anstrengenden Jahren im Gymnasium im grauen und kalten Europa vor allem nach Sonne, Sorglosigkeit, Lebensfreude und exotischen Kulturen. Die Wintermonate in diesem heissen Land entsprechen genau ihren Erwartungen. Die Menschen sind fröhlich, lustig und interessant, die Religionen und Kulturen vielfältig gemischt, das Wetter ist fantastisch und auch im Januar perfekt zum Reisen, Baden und Sonne geniessen.

An einem lauschigen Abend kommt Sandy in der Fussgängerzone der Touristenstadt ein hübscher junger Mann mit dunklen Augen entgegen, nennen wir ihn Danny. 
Manchmal kreuzen sich die Wege von zwei Menschen rein zufällig und bleiben dann von diesem Moment an verbunden. 
Als sich die Beiden in die Augen sehen, fühlen sie sofort, dass eine kosmische Verbindung besteht. Danny ist ebenfalls zwanzigjährig, zurzeit Soldat und an diesem Wochenende auf Urlaub. 
Den Ablauf ihrer ersten Begegnung mögen sich die Leser selbst erdenken. Zweifellos müssen besondere Kräfte am Walten gewesen sein, denn die Beiden finden in der Menge zusammen, obwohl Sandy in männlicher Begleitung unterwegs ist.
Sandy und Danny ziehen sich vom ersten Augenblick an wie Magnete und sie verbringen zwei magische Tage miteinander. Doch schon bald ruft die Pflicht, Dannys Urlaub von der Armee ist zu Ende. Danach ist vorerst Funkstille. In einem Zeitalter vor Handys und WhatsApp hören die Beiden einige Monate lang nichts voneinander. Sandy hat keinen festen Wohnsitz und Danny übernachtet bestenfalls in olivgrünen Zelten. 
Am Tag ihres Abflugs, einige Monate nach den gemeinsam verbrachten Tagen, wartet Danny zu Sandys grosser Überraschung in staubiger Militäruniform am Flughafen auf sie. Sie hat Danny wohl damals das Datum ihres Fluges bekanntgegeben, obwohl sie sich jetzt gar nicht mehr daran erinnert. Doch Danny hat das Datum nicht vergessen und er erhascht einige Stunden Urlaub, indem er seinen Kommandanten bestürmt und überzeugt, dass dieses Treffen schicksalsträchtig für seine Zukunft sei. Die Reise zum Flughafen mit dem Bus ist lang und unbequem. All das nimmt Danny in Kauf, um sich von Sandy zu verabschieden und sie zu beschwören, unbedingt bald wiederzukommen.

Es vergehen vier lange Jahre, bis Sandy und Danny endlich länger zusammen sein können. Unzählige dicht beschriebene Luftpostbriefe finden in dieser Zeit ihren Weg über das Mittelmeer. Wenn es die kurzen Urlaube und die knappen Finanzen der jungen Leute erlauben, reist Sandy für einige Tage in das exotische Land, zu Danny. Von diesen Reisen beiben Sandy später vor allem die durchgeweinten Retourflüge in Erinnerung. Danny schliesst die Offiziersausbildung ab und dient ein weiteres Jahr in Reserve. Als Sanitäter verdient er sich an den Wochenenden im Rettungsdienst an den Badestränden oder als Begleiter von Reisegruppen und Pfadfinderlagern einen kleinen Lohn. Von diesem Ersparten reist er am ersten Tag nach Abschluss seines Militärdienstes zu Sandy. Doch er bleibt nur einige Tage, dann bricht er auf eine längere Reise auf: Er trampt in 18 Monaten ostwärts einmal um die Erdkugel. Sandy hat weder Verständnis noch Erspartes für ein solches Unterfangen, also verabschieden sich die Beiden ein weiteres Mal, schreiben weiter fleissig Briefe und führen Ferngespräche zu nachtschlafenden Stunden. Die Post von Danny trägt nun Briefmarken aus exotischen Ländern wie Nepal, Vietnam, Korea, Japan, Thailand, Hawaii und vielen mehr. Einem der Briefe liegt ein Foto von einem Stein auf dem Thorong La Pass im Himalaya-Gebirge bei (auf 5,400 Meter Höhe). Der Stein ist von Dannys Handschuhen umrahmt und trägt, mit Kreide gekritzelt, Sandys Namen.

Nach eineinhalb Jahren erschöpft sich Dannys Reiselust und er kehrt in seine Heimat zurück. Sandy wirft die ohne besondere Überzeugung begonnene Ausbildung über den Haufen und reist ein weiteres Mal in das exotische Land, dieses Mal mit einem etwas grösseren Koffer, doch ohne genauere Pläne.

Das Leben in dem Land am Mittelmeer mit den lebensfrohen Menschen gefällt ihr, obwohl vieles auch seltsam und ungewöhnlich ist. Warum sollte sie bei Dannys Eltern nach dem Essen keinen Milchkaffee trinken? Warum scheinen die Menschen immer aufgeregt zu schreien, wenn sie sich doch einfach nur unterhalten? Warum tragen sie Wintermäntel, sobald ein paar vereinzelte graue Wölkchen am Himmel erscheinen? Warum wünschen sie sich mitten im Herbst ein gutes neues Jahr?

Sandy und Danny mieten gemeinsam eine Wohnung und können mit ihrer Liebe die meisten Probleme überbrücken. Ein eventuelles Leben in Europa wird oft diskutiert, doch es bleibt nur ein Fantasiegebilde, das mit den Jahren immer mehr in die Ferne rückt. Sandy büffelt die fremde Sprache mit den seltsamen Schriftzeichen. Zusammen meistern Sandy und Danny auch verschiedene Kurse und Prüfungen, nach deren Abschluss Sandy zu seinem Glauben konvertiert. Fast ein Jahrzehnt nach ihrem ersten Treffen heiraten sie. Zum Hochzeitsfest reist eine ansehnliche, fröhliche und neugierige Delegation von Gästen aus Europa an, die die traditionellen Zeremonien weder kulturell noch sprachlich versteht, deswegen aber nicht minder Spass an dem Anlass hat.

Es gibt viele Probleme zu meistern. Drei Kinder, Krankheiten, Kriege, Sehnsucht nach der Familie in der fernen Heimat, kulturelle Differenzen. Es ist nicht immer einfach und beide gehen viele Kompromisse ein. Doch wenn sie sich streiten, denken sie an den magischen Moment ihres ersten Treffens. So leben sie trotz aller Schwierigkeiten viele Jahre zusammen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben Sandy und Danny noch heute. 
Und feiern gerade am heutigen Tag, dem 7. Oktober 2024, ihren 30. Hochzeitstag.


In Amsterdam, in einem anderen Zeitalter



Mittwoch, 2. Oktober 2024

Grossangriff aus dem Iran

Wie erleben wir den Raketengriff mit fast 200 ballistischen Raketen aus dem Iran? Wie sehr viele Israelis bin auch ich an diesem Dienstagabend vor dem Neujahrsfest ausser Haus, um letzte Besorgungen zu erledigen. Ich hatte den ganzen Tag kein gutes Gefühl, irgendetwas braute sich zusammen. Das Gefühl wird nicht besser, als gegen Mittag eine Rakete aus dem Libanon etwa 20 Kilometer von mir im östlichen Scharongebiet in eine Autostrasse einschlägt und am späteren Nachmittag eine weitere Rakete wohl knappe zehn Kilometer von unserem Büro im Meer landet. Die zweite Rakete nehme ich mit einem sehr lauten Schlag und starken Detonationswellen wahr. 

Gegen Ende des Arbeitstages werden Meldungen über einen bevorstehenden Angriff aus dem Iran laut, die meisten Mitarbeiter verlassen eilig die Büros. Ich bleibe noch etwas, denn ich muss Lianne bald vom Bahnhof abholen. Danach geht es zu einem Arztbesuch. Während wir beim Arzt warten, bis wir an der Reihe sind, treffen Meldungen über ein schreckliches Terrorattentat in Tel Aviv ein. Zwei Palästinenser aus der Terrorhochburg Hebron erschießen mit einem Maschinengewehr kaltblütig sechs Passanten und verletzen mehrere, vier davon lebensbedrohend.

All dieser katastrophalen Meldungen zum Trotz möchte ich doch noch das in unmittelbarer Nähe der Arztpraxis liegende kleine Einkaufszentrum aufsuchen, um ein Geschenk für unsere Gastgeber des Neujahrsfestessens zu kaufen. Wenige Hundert Meter bevor wir das Einkaufszentrum erreichen, gehen die Luftschutzalarme los. Zuerst schrecken uns mehrere Meldungen im Autoradio auf, dann folgt das Zurren der Handys, schließlich die markdurchdringenden Sirenen vor Ort. Schnell wird klar, dass sich das ganze Land, vom Norden bis zum Süden, unter Attacke befindet. Aufgeregte Passanten rennen, um sich in Schutz zu bringen. Ich fahre noch schnell auf den Parkplatz, lasse das Auto stehen, dann eilen auch Lianne und ich, zusammen mit Dutzenden weiteren Menschen, zum nächsten Schutzraum. Der kleine Raum ist schon völlig überfüllt, doch wir drängen uns hinein. Draußen schrillen die Sirenen wieder und wieder und starke Detonationen lassen die Wände erzittern. Einige Menschen, die den Schutzraum ungeduldig zu früh verlassen, kommen schockiert umgehend wieder zurück. Es wird heiß und stickig in dem kleinen Raum. Eine Frau wurde wohl beim Friseurbesuch unterbrochen, sie hat Haarfarbe und ein Frottiertuch auf dem Kopf. Ein asiatisch aussehender Mann und sein Sohn sehen besonders hilflos aus. Wir erklären ihnen auf Englisch, was los ist, obwohl wir es ja selbst nicht wissen. Einige Kinder weinen. Eine Mutter weint, weil ihre Kinder alleine zu Hause sind.

Wie vorgeschrieben, bleiben wir mindestens zehn Minuten in dem Schutzraum, aber jedes Mal, wenn wir ihn verlassen wollen, ertönen erneut Alarme und der Zehn-Minuten Countdown beginnt von neuem. Als es etwas länger ruhig wird, wagen wir uns wieder ins Freie. Ich habe kein gutes Gefühl und wäre gerne noch länger geblieben, doch Lianne muss dringend auf die Toilette. Wir laufen zum Auto und beschließen, so schnell wie möglich nach Hause zu fahren. Doch kaum sind wir unterwegs, ertönen die Sirenen erneut. Es ist unklar, ob sie aus dem Radio, dem Handy oder vor Ort lärmen, im ganzen Land und auf allen Kanälen schrillen Alarme, es ist ein markdurchdringendes Orchester. Der Himmel wird von unzähligen Objekten und Detonationen hell erleuchtet. Die Raketen scheinen nah, die meisten werden verfolgt von den rotierenden Geschossen der Abwehrsysteme. Menschen kauern unterwegs an Hausmauern. 

Nach kurzer Fahrt wird uns klar, dass Autofahren in dieser Situation keine Option ist. Nach der nächsten Kurve halten wir wieder an und laufen unter eines der Gebäude, wo wir zusammen mit anderen Menschen fragwürdigen Schutz suchen.

In dieser ganzen Zeit haben wir keinen Kontakt mit den Familienangehörigen, alle Verbindungen sind abgebrochen. Als es wieder einige Minuten lang ruhig ist, unternehmen wir einen weiteren Versuch, nach Hause zu fahren. Das Autofahren ist nach wie vor gefährlich, alle fahren viel zu schnell und wild durcheinander. Autos stehen unerwarteterweise am Straßenrand, wo sie von ihren schutzsuchenden Fahrern verlassen worden sind. Als wir zwanzig Minuten später endlich zu Hause eintreffen, bin ich so erleichtert wie schon lange nicht mehr.

Irgendwann kommt das Netz zurück, mehrere Dutzend WhatsApp Nachrichten treffen auf einmal ein.

Eyal ist an eine Hochzeit gefahren, die Alarme haben ihn kurz vor Ashdod erreicht. Die Hochzeit sucht er trotzdem noch auf. Doch anstelle der Hunderten erwarteten Gäste treffen nur etwa 30 Hartgesottene ein.

Auch Sivan, unsere Tochter in Tel Aviv, war an eine Hochzeit eingeladen. Sie brezelt sich zu Hause aufwändig auf, stylt die Haare, zieht ein schönes Kleid an und schminkt sich. Perfekt aussehend bricht sie auf, gelangt aber nur bis ans Ende der Straße, als die Luftschutzsirenen sie zwingen, den öffentlichen Schutzraum aufzusuchen und dort den Abend zu verbringen. Nur einen Katzensprung von ihrer Wohnung entfernt, aber immerhin in glamourösem Look. Dass die Hochzeit ihrer Freundin, die natürlich schon im weißen Kleid in der Festhalle auf die Gäste wartete, ins Wasser fällt, oder besser gesagt, in Feuer und Flammen aufgeht, betrübt Sivan zutiefst.

Itay sucht während dem Grossangriff in Tel-Aviv mit Bekannten Schutz unter verschiedenen Gebäuden und auf der Strasse, denn in dem alten Mehrfamilienhaus, in welchem seine Wohnung liegt, gibt es keinen Schutzraum.

Meine 84-jährige Schwiegermutter verbringt den Abend mit den Nachbarn im gemeinsamen Schutzraum ihres Mehrfamilienhauses, für welchen sie sechs Stöcke hinuntersteigen muss.

Die Alarmmeldungen über Israel



Der weitere Abend verläuft für uns ruhig, abgesehen vom Lärm der israelischen Luftwaffe, die immer wieder über uns hinwegsaust. Das iranische Regime hat fast 200 Raketen innerhalb einer kurzen Zeitspanne auf dichtbevölkerte zivile Ziele in ganz Israel abgefeuert. Dass es nicht Hunderte oder gar Tausende Tote und Verletzte gibt, sondern dass wir alle schlussendlich mehr oder weniger heil in unseren Betten liegen, scheint an ein Wunder zu grenzen. Doch tatsächlich ist das den israelischen Technologien, der Luftabwehr und den Abwehrschirmen verschiedener Sorte zuzuschreiben, unter anderem dem Abwehrsystem "Iron Dome", einer lebensrettenden Einrichtung, in welche enormer Aufwand und Unmengen von Geldern investiert werden und die zu den fortschrittlichsten der Welt gehört.


Heute Abend und in den kommenden zwei Tagen feiern wir das neue jüdische Jahr 5785. Ich wünsche dem jüdischen Volk weitere prosperierende 5785 Jahre hoch zehn, doch vorerst wünsche ich uns allen ein paar Tage Ruhe.


Mittwoch, 25. September 2024

Alarm im Scharongebiet

Aussicht vom lieblichen Baselland


Schlussendlich hatte ich doch noch einen Flug in die Schweiz ergattert. Doch mit dem Dilemma, ob wir in Israel bleiben oder flüchten sollten, habe ich bis auf Weiteres abgeschlossen. An die vielen verschiedenen emotionalen Phasen, die ich seit dem 7. Oktober durchgehe, reiht sich in letzter Zeit, ausgerechnet jetzt, unerklärliche Gelassenheit. Ziel der Reise in die Schweiz war ein kurzer Besuch bei der Familie. Ich reiste alleine, mit einem fixen Retourdatum.

Bestimmt war auch das wunderbare Wetter daran schuld, dass mir dieses Mal die Schweiz noch perfekter als sonst erschien. Auf Schritt und Tritt – oder besser, Kilometer auf Kilometer, denn ich hatte ein Auto gemietet – staunte ich wie ein Wesen von einem anderen Stern, wie wunderbar geregelt, gemässigt und logisch einfach im Vergleich zu Israel in der Schweiz alles ist. Die Strassen sind in perfektem Zustand, der Verkehr rollt, die Richtungen sind klar beschildert, die Fahrer sind zuvorkommend oder mindestens gelassen. Auch der öffentliche Verkehr ist wie immer vortrefflich organisiert, das Tram fährt auf die Minute genau überall hin. In Basel gibt es weder kaputte Gehsteige noch Ratten. Das Personal in den Läden ist freundlich und hilfsbereit. Die Sonne brennt nicht schon frühmorgens erbarmungslos nieder. Der Regen bleibt nicht fünf Monate lang aus und prasselt dann wolkenbruchartig vom Himmel. Und vor allem hängen keine Bilder von Entführten an jeder Ecke, die jungen Menschen tragen keine Maschinengewehre oder Uniformen und die meisten haben noch alle Beine und Arme.

Eins passt einfach perfekt zum andern und ich komme aus dem Staunen kaum mehr heraus. Wie vernünftig und geordnet die Dinge sein können!
In Israel ist alles extrem, masslos, laut, kaputt, unausgeglichen, ja verrückt. Natürlich haben die israelische Unvollkommenheit und der alltägliche Wahnsinn im Vergleich zur schweizerischen Gemässigtheit auch ihren Reiz. Doch jetzt, wo der Topf der Tollheit am Überbrodeln ist, erscheinen die schweizerische Vernunft und Perfektion einfach nur frappant und verführerisch.

Obwohl sich die Lage in Israel zuspitzt, fliege ich aber doch am geplanten Tag zurück. Ich konnte am frühen Morgen ja auch noch nicht wissen, dass gerade an diesem Tag in Israel der Ausnahmezustand im ganzen Land ausgerufen wurde. Doch auch hätte ich es gewusst, war mir klar, wo mein Platz ist: bei meiner Familie in Israel.

Die Raketenangriffe aus dem Libanon hatten sich tatsächlich schon tief ins Zentrum ausgeweitet. Die Raketen reichten am Dienstag schon bis in die Umgebung Haifas und nach Nazareth, Afula and Yokne'am. Der Krieg konnte offensichtlich jeden Moment vollkommen ausarten. Rund um die Uhr, auch nachts, werfe ich immer wieder einen Blick auf das Smartphone, um über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu sein.

Und heute Morgen ist es dann auch bei uns so weit. Um 6 Uhr dreissig – ich bin schon angezogen und bereit, das Haus zu verlassen – erschüttern starke Detonationswellen unser Haus. Die Fenster und Wände rütteln und zittern. Sofort renne ich die Treppe hoch, um mich auch bei den noch schlafenden Familienmitgliedern zu vergewissern, dass ich nicht spinne. Bevor ich oben ankomme, zurrt das Handy, die Heimatfront-App zeigt Raketenalarm in Tel-Aviv an, wo Sivan und Itay leben. Dann, im Bruchteil einer Sekunde, geht auch bei uns der Alarm los, laut und markdurchdringend. Eyal und Lianne springen aus den Betten, wir stürmen in den Schutzraum und ziehen die Türe zu. Im Familienchat bestätigen die Kinder in Tel-Aviv, dass sie den Alarm gehört haben und sich in ihren Pyjamas im Treppenhaus befinden (in älteren Gebäuden gibt es keine Schutzräume). Solche Situationen sind nur noch mit Humor zu bewältigen, deshalb fragt Eyal den Sohn, der sich sonst wochenlang nicht meldet "Ach, bist du noch im Lande?". "Ja", antwortet dieser, und schiebt nach "ich kann es selbst nicht verstehen".

Nach einigen Minuten scheint die Gefahr gebannt zu sein und wir dürfen wieder hinaus – zurück zum Alltag. Der Nachbar dreht die Morgenrunde mit dem Hund, das Taxi holt den Nachbarsjungen ab, der in eine Sonderschule geht (er ist heute verständlicherweise etwas verspätet dran) und ich fahre zur Arbeit. Die Detonation, die ich gehört habe, ist dem Raketenabwehrsystem zuzuschreiben. Die aus dem Libanon abgefeuerte Rakete ist über dem Großraum Tel Aviv abgefangen worden, bevor sie grösseren Schaden anrichten konnte.

Die Heimfront-App heute Morgen: Alarm im Zentrum Israels


Mir ist aufgefallen, dass ein Grossteil der Schweizer mit den Schultern zuckt, wenn man den Nahostkrieg anspricht. Zu komplex, meinen sie damit, sie verstehen die Situation nicht. Vielleicht ist es ja sogar auch besser, nichts zu wissen, angesichts der breiten Desinformations- und Denunziationskampagne, die im Westen zum Standard geworden ist. Doch eigentlich ist der Nahostkrieg ganz einfach erklärt: die einen betreiben Terror, die anderen Terrorbekämpfung.