Mittwoch, 12. November 2025

Meistgelesen - zum Schweigen gebracht




Tuvia Tenenbom ist Autor, Regisseur und Theaterleiter. Er wuchs im Jerusalemer Stadtteil Me'a Sche'arim in einer chassidischen Familie auf, sein Vater war Rabbiner, der Grossvater Oberrabbiner. Mit siebzehn Jahren verliess Tuvia die streng religiöse Gemeinschaft und zog nach New York. Dort fand er die Freiheit, Menschen zu beobachten und in seiner ganz eigenen, unvoreingenommenen und oft provokanten Art über sie zu schreiben. 

In New York und Jerusalem studierte Tenenbom Literatur, Dramaturgie, Mathematik und Informatik und absolvierte zudem ein Studium als Rabbiner. Er weiss also wovon er spricht - in mehr als einer Hinsicht. 

Ich habe Tuvia vor allem als witzigen, frechen und scharfsinnigen Autor kennengelernt. Er lässt sich nicht schubladisieren - und er schubladisiert auch niemanden. Er beobachtet, hört zu und er lässt sich auf jeden ein, der bereit ist, zu sprechen. Dabei hält er oft seine Herkunft oder sein Jüdischsein geheim, um zu provozieren. Und ja, er sagt, was er denkt - ohne Blatt vor dem Mund. 

Sein 2014 erschienenes Buch Allein unter Juden – Eine Entdeckungsreise durch Israel hat mir damals einen vielschichtigen, humorvollen und erfrischend unkonventionellen Einblick in den sogenannten "Israel-Palästina-Konflikt" gegeben. Seitdem verfolge ich Tuvias Arbeit in unterschiedlichen Medien, auf Instagram und Facebook und in den Zeitungen, für die er schreibt.

Über viele Jahre - genauer gesagt siebzehn - war Tuvia Tenenbom erfolgreicher Kolumnist bei Die Zeit. Seine Artikel gehörten dort regelmässig zu den meistgelesenen Beiträgen - wer einmal etwas von ihm gelesen hat, weiss warum.

Im März dieses Jahres gewann der palästinensische Film No Other Land den Oscar für den besten Dokumentarfilm. Tenenbom reiste nach Masafer Yatta, den Ort des Geschehens, um vor Ort zu recherchieren - auf seine unverkennbare, schonungslose Art. 

Die daraus entstandene Filmkritik wurde zunächst von den Redakteuren der Zeit gelobt. Doch dann wurde die Veröffentlichung mit fadenscheinigen Begründungen immer weiter hinausgezögert und schlussendlich abgelehnt. Der Vorgang führte zum Bruch: Tuvia Tenenbom wird künftig nicht mehr für Die Zeit schreiben. In einem aufschlussreichen Interview mit dem Titel Warum Tuvia Tenenbom nicht mehr für Die Zeit schreibt, schildert er detailliert, wie es dazu kam. 

Die Zeitung bevorzugt offenbar Beiträge, die sich widerspruchslos in das gängige Narrativ von israelischen "Unterdrückern" und palästinensischen "Opfern" einfügen.

Tuvias Filmkritik wurde später auch von anderen deutschen Medien abgelehnt, bevor sie schliesslich in der Berliner Zeitung erschienAuf Mena-Watch kann man die Kritik hier nachlesen. Ich persönlich finde die Kritik spannend, augenöffnend, und einmal mehr witzig. Tuvia kennt in seiner Frechheit keine Grenzen, und er scheint sich auch vor nichts zu fürchten.

Es ist bezeichnend, dass Stimmen wie die von Tuvia Tenenbom immer häufiger verdrängt oder zum Schweigen gebracht werden - besonders seit dem 7. Oktober Pogrom.

Ich hoffe, Medienkonsumenten in Europa sind sich bewusst, wie einseitig das Bild Israels in den Medien gezeichnet wird. Was nicht in den Mainstream passt, wird ausgeblendet. Dass Tuvia längst ein bekannter Name ist, schützt ihn dabei nicht. Selbst beliebte Stimmen wie die von Tenenbom werden unterdrückt. Es gibt keinen ehrlichen, differenzierten Journalismus mehr. Und genau deshalb sind Stimmen wie seine heute wichtiger denn je.



Donnerstag, 6. November 2025

Heimat im Gepäck

Ich bin mit Mann und Kindern unterwegs in den Familienurlaub. Beim Zwischenstopp auf einem mir unbekannten Flughafen muss ich den Koffer öffnen. Darin liegen – sorgfältig zwischen den Kleidern in Plastikbeutel verpackt – mehrere Katzen. Zwei erwachsene Tiere sind einzeln verstaut, während sich in einem weiteren Beutel ein Knäuel undefinierbarer Jungkätzchen bewegt.

Die Katzen sind wohlauf, sie strecken und recken sich zufrieden. Ich finde zunächst nichts Ungewöhnliches daran, lebende Katzen in meinem Koffer mitzutransportieren – bis meine Familie die Fracht entdeckt. In diesem Moment wird mir mit erschreckender Deutlichkeit klar, welch unlösbare Probleme ich uns allen aufgebürdet habe.
Dass Eyal Katzen nicht mag, ist dabei noch das kleinste. Plötzlich begreife ich, dass die Tiere bei einer Weiterreise elendiglich ersticken könnten. Irgendwann müssten sie auch ihre natürlichen Bedürfnisse verrichten – in meinen sauberen Kleidern? Aber selbst das scheint mir nun noch das geringere Problem. Die Grenzkontrolle im Zielland würde die Katzen ohnehin nicht hineinlassen. Und selbst wenn ich sie durchschmuggeln könnte – wie sollte ich sie vor dem Besitzer des Ferienhauses verbergen?
Was hatte ich mir nur gedacht?
Die beiden erwachsenen Katzen sind Bubu und Tschätterli, die Katzen aus meiner Kindheit. Ich kann sie unmöglich hier zurücklassen.

Was soll ich nur tun? Zurückreisen ist keine Option, weiterreisen mit den Katzen auch nicht. Meine Familienmitglieder sagen nichts, doch ihre Blicke sprechen Bände. Ich bin verzweifelt. Eine ausweglose Situation!

Dann wache ich schweissgebadet auf. Es dauert eine Weile, bis der Schrecken von mir abfällt und ich erleichtert erkenne: Es war nur ein Traum.

Ich reise gar nicht in die Ferien. Und vor allem, habe ich keine Katzen im Koffer.

Doch der Traum lässt mich nicht los. Noch Tage später denke ich darüber nach. Es ist offensichtlich, dass mich etwas beschäftigt – etwas, das mir Wichtig ist und zugleich mich und meine Familie belastet.


Im Oktober verbrachte ich zwei Wochen in der Schweiz, in meinem Elternhaus, in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. So lange war ich seit Jahren nicht mehr dort. 
Fast fühlte ich mich wieder wie eine Schweizerin. Ich gewann Abstand zu Israel. Was hat der ganze "Balagan" dort überhaupt mit mir zu tun? Während sich meine Verbindung zu Israel lockerte, frischte ich Erinnerungen an meine Kindheit auf. Ich blätterte in den vergilbten Büchern, staunte über den Teddybären, der fast so alt ist wie ich. Durch die Nähe zu meinem Vater besserte sich unser Verhältnis, zwischen uns kehrte Frieden ein.

Dann liess ich einmal mehr alles zurück.

Doch in der Schweiz sehnte ich mich nach der Wärme und dem Licht Israels. Nach meiner Rückkehr geniesse ich die Sonne in vollen Zügen, atme auf, als die Dunkelheit von mir abfällt. 
Doch schon nach wenigen Tagen erscheint mir die Landschaft, durch welche ich auf meinem Arbeitsweg fahre, staubig, farblos und ernüchternd eintönig.

Jetzt denke ich mit Sehnsucht an die leuchtenden Herbstfarben der Bäume und Wälder auf den Hügeln meiner Heimat, der Schweiz.



Es gibt schlimmere Albträume, schlimmere Probleme, als zwischen zwei Ländern und Kulturen hin- und hergerissen zu sein. Doch einige Tage nach diesem Traum finde ich es einfach faszinierend, wie uns unsere inneren Konflikte oft mit einer Klarheit einholen, der man sich nicht entziehen kann. 
Träume haben auch etwas Tröstliches, sie zeigen, dass unser Inneres unermüdlich darum bemüht ist, Ordnung in das Chaos unserer Gefühle zu bringen. Und das auch noch überwältigend fantasievoll.


Das "Inseli" in Rheinfelden im Herbst




Donnerstag, 30. Oktober 2025

Berg und Tal



Das Leben ist eine unaufhaltsame Welle, ein turbulentes Auf und Ab, das uns zwischen Glück und Schmerz hin- und her wirft. Gerade habe ich vielleicht die zwei emotional aufwühlendsten Wochen meines Lebens hinter mir. Sie begannen mit einem Wunder: Die zwanzig noch im Gazastreifen verbliebenen lebenden Geiseln kamen frei. Etwas, an das kaum noch jemand zu glauben wagte. Ein Hoffnungsschimmer inmitten dunkler Tage. An jenem historischen Morgen katapultierte mich ein vierstündiger Flug diesmal nicht nur in ein anderes Land, sondern ans Sterbebett meiner Mutter – in ihren letzten Stunden. 

Ganz an der Spitze der Skala überwältigender Lebensphasen rangieren zweifellos die Geburten unserer Kinder – lange her. Vor allem die Geburt unseres Sohnes. Eine tragischer Fehler – eine falsch berechnete Dosis Schmerzmittel nach der Brit Mila, brachte unser Neugeborenes in Lebensgefahr. Der Tag endete in der Notfallaufnahme. Heute ist diese Zeit eine fast amüsante Anekdote in unseren unberechenbaren Leben. 
Zu den weiteren chaotischen Höhepunkten auf der Achterbahnfahrt des Lebens zählt unsere Hochzeit. Es war ein aufregendes, schicksalsträchtiges Fest, zu dem zahlreiche Verwandte aus der Schweiz angereist waren. Da wir in unserer kleinen Junggesellenwohnung Gäste beherbergten, verbrachten wir die Hochzeitsnacht auf einer Matratze auf dem Balkon. 
Viele freudige sowie auch schmerzliche Ereignisse und Zeiten folgten. Hochzeiten und Geburten, Kriege und Krebs.

Doch die vergangenen zwei Wochen übertreffen aus meinem jetzigen Blickwinkel alles, was das Leben an Turbulenzen bisher zu bieten hatte. 

Wenige Stunden nach meinem Besuch starb meine Mutter. Es war absehbar – und doch ist man auf den Moment nie vorbereitet. Nach ihrem Tod überlegte ich, bis zur Beerdigung nach Israel zurückzureisen. Wieder einmal war ich hin- und her gerissen zwischen meiner Familie in der Schweiz und der Familie in Israel. 

Längere Aufenthalte in meinem Elternhaus hatte ich in den letzten Jahren vermieden: die Stille, die Dunkelheit, der abgestandene Pfeifenrauch waren bedrückend. Und jetzt kam noch die Abwesenheit meiner Mutter hinzu – wo doch jeder Gegenstand von ihrer Nähe erzählt. In einem Beutel, den jemand aus dem Spital brachte, liegt ihre Bürste, in der noch silberne Haare hängen. Ihre Brille. Sie ruht nun im Nachttischchen, bei den warmen Socken, die einst ihre Füsse wärmten. 

Doch diesmal war die letzte Gelegenheit gekommen, mich all dem zu stellen. Ich beschloss spontan, bei meinem Vater zu bleiben. 

Die folgenden zwei Wochen waren von einem leisen, unerwarteten Wandlungsprozess geprägt. Ich half meinem Vater bei den kleinen Dingen des Alltags, die ihm immer schwerer fielen. Und er, einst streng und unnachgiebig, machte sich nun klein und nahm meine Hilfe dankbar an. Langsam verschwand die Mauer zwischen uns, und an ihre Stelle traten Demut, Vergebung, Nähe und Dankbarkeit.

Die Beerdigung meiner Mutter war wunderschön und doch erschütternd. Die Kirche war randvoll mit Menschen, die sie geliebt haben – sie war ein selbstloser Mensch mit einem grossen Herzen. 

Doch der Anblick der Urne zog mir den Boden unter den Füssen weg. Wie wenig von uns bleibt, wenn wir unser Leben zurückgeben! Eine Handvoll nichts und einige Erinnerungen. 
Der Himmel weinte an diesem Tag. Der strömende Regen, das Wiedersehen mit Cousins und Cousinen, ehemaligen Nachbarskindern, Bekannten und Verwandten, von denen ich viele seit vierzig Jahren nicht gesehen hatte, und dabei meine Mutter in einer Urne – das alles verlieh dem Tag etwas vollkommen Surreales. 

Unterdessen habe ich mein Elternhaus und meinen Vater wieder verlassen, ungewiss, ob wir uns je wiedersehen werden. Wie bezeichnend, dass er ausgerechnet auf meinem letzten Foto unscharf ist und zu verblassen scheint.

Das Leben gleicht einer Berg- und Talfahrt. Es nimmt uns immer wieder erbarmungslos in die Mangel, wirbelt uns durch und spuckt uns aus, damit wir uns von Neuem aufrappeln. Und das ist gut so. Denn am Ende bleibt von uns allen nicht mehr als ein Häufchen Staub.




Mittwoch, 22. Oktober 2025

Leise Spuren



Vor etwas mehr als einer Woche ist meine Mutter gestorben. Es war absehbar. Ich bin rechtzeitig in die Schweiz geflogen, und sie konnte meine letzte Umarmung mit auf ihre Reise nehmen.

Der Tod ist zutiefst erschütternd in seiner Endgültigkeit - und zugleich ein Erweckungsmoment. Wie möchte ich leben, bevor er zu mir kommt? Diese Frage stellt sich unweigerlich, wenn jemand Nahestehendes diese Welt verlässt.

Als ich in ihren letzten Stunden an ihrem Bett sitze, sinne ich darüber nach, dass der Mensch im Grunde ein ganz einfaches Wesen ist – mit einer viel zu komplizierten Schaltzentrale.
Was brauchen wir wirklich mehr als ein paar liebe Menschen um uns, Sonne auf der Haut, vielleicht auch Regen und Wind, der uns die Haare zerzaust. Ein wenig Gemüse im Garten, damit wir mit den Händen in der Erde wühlen können.
Aber wir rennen umher, erfinden Gründe, Motive, Zusammenhänge. Geschichten, die wir für unser Leben halten.

An meine Kindheit habe ich nur wenige Erinnerungen. Meine Mutter hatte mit mehreren kleinen Kindern und der Last der Hausarbeit, für die es damals kaum moderne Hilfsmittel gab, alle Hände voll zu tun. Für jedes einzelne Kind blieb wenig Zeit.
Als Jugendliche ging sie mir oft auf die Nerven. Sie war – als verlängerter Arm meines Vaters – dafür zuständig, dass ich meine Ämtchen erledigte und mein tägliches Geigenüben nicht vernachlässigte. Mit ihrer ruhigen, zurückhaltenden Art war sie alles andere als durchsetzungsstark. Das führte zu Machtkämpfen, die ich genüsslich in die Länge zog. Später fand ich ihre Ansichten zu Partnerschaft, Familie und Religion altmodisch. Mit zwanzig zog ich in meine eigene Wohnung.

Aber meine Mutter war nicht nachtragend – im Gegenteil. Sie liebte bedingungslos. Als ich nach Israel zog, sorgte sie sich um mich und meine wachsende Familie aus der Ferne.
Auf ihre jährlichen Geburtstagspakete an jedes einzelne Familienmitglied war stets Verlass, liebevoll zusammengestellt und immer persönlich. Auch zu Ostern oder Weihnachten trafen regelmässig Päckchen ein, mit Schokolade, Christbaumschmuck oder kleinen Überraschungen – selbst lange, nachdem ich zum Judentum übergetreten war.

Jetzt liegen in meinem Elternhaus die sorgfältig gefalteten Leintücher in der Schublade, die sie nie mehr öffnen wird. Der Duft von Seifen und Lavendelsäckchen in der Wäscheschublade hat sie überlebt – stille Zeugen ihres Daseins. Sie erzählen davon, dass meine Mutter eine perfekte Hausfrau war. So hatte man es den jungen Frauen damals beigebracht. Die Familie, der Ehemann, die Kinder und der Haushalt waren ihr Lebensinhalt. Meine Mutter opferte sich mit grosser Liebe dafür auf.

Ich habe von meiner Mutter mitbekommen, dass ein Mensch auch leise, ja sogar stumm, wesentlichen Einfluss haben kann. Man muss kein Haudegen sein oder sich in den Vordergrund drängen, um sein Umfeld zu prägen.

Meine Eltern waren 65 Jahre verheiratet. Für meinen Vater war meine Mutter sein zweites Paar Augen, Ohren und Hände. Eine Stimme für alles, was er selbst nicht sehen konnte, sein Zugang zu anderen Welten. Sie war sein weiches Polster in einer harten Wirklichkeit. Nun hat er sie überlebt und steht vor einem tiefen Loch.

Ich bin traurig und nachdenklich, weil ein Kapitel meines Lebensgeflechts zu Ende gegangen ist. Wenn ich an dieses Kapitel zurückdenke, überwiegen die guten Erinnerungen. Das helle Lachen meiner Mutter wird mir für immer in den Ohren klingen.



Montag, 13. Oktober 2025

Mein Treffen mit Präsident Trump




Spontan fliege ich schon wieder in die Schweiz. Kaum habe ich den Entschluss gefasst und einen Flug gebucht, wird bekannt gegeben, dass Präsident Donald J. Trump höchstpersönlich Israel beehren und in der Knesset eine Ansprache halten wird. Ausgerechnet am Montag, dem Tag meiner Abreise!

In den dramatischen Stunden davor werden – nach Trumps Plan – endlich alle Geiseln freigelassen, auf die wir zwei lange Jahre inbrünstig gewartet haben. Wer hätte gedacht, dass dieser Horror tatsächlich ein Ende haben wird! Ganz Israel befindet sich in einem historischen Freudentaumel. Wir möchten Trump die Füsse küssen, auch wenn er ein chauvinistisches Ekel und eine kulturelle Banause ist. Soll sich doch die ganze Welt über den Mann mokieren, der an Staatsbanketts auf Ketchup besteht. Es ist uns egal. Unsere Brüder und Schwestern sind endlich frei, bei ihren Familien! 

Doch das Timing ist denkbar schlecht. Es hat das Potential für einen logistischen Albtraum: Mein Flug hebt nur zehn Minuten nach Trumps Landung ab!

Die Vorbereitungen am Flughafen Ben-Gurion und den zuführenden Verkehrsachsen laufen in den Stunden vor Trumps Ankunft auf Hochtouren. Die Schnellstrasse nach Jerusalem, die Hauptzufahrtstrasse an den Flughafen, ist gesperrt. Der Flughafen ist von bewaffneten Sicherheitskräften umzingelt. Und der Luftraum? Werden wir fliegen?
Immerhin hat man den Zugverkehr „intensiviert“ und ich reise trotz der Verkehrseinschränkungen bequem und pünktlich an.

Genau zur Zeit meines Abflugs findet am Ben-Gurion-Flughafen die grosse Begrüßungszeremonie statt. Präsident Herzog, Premierminister Netanyahu, Frau Netanyahu, die gesamte nationale Prominenz versammelt sich.
Und ich, mittendrin. 

Doch entgegen aller Befürchtungen verläuft mein Check-in wie am Schnürchen. Ich sitze rechtzeitig im Flugzeug. Kein Agent des Secret Service hält mich versehentlich auf. Kein Gedränge. Kein "Balagan". Nur eine Menge Israelis, die in diesen historischen Momenten der Weltgeschichte wie Bessessene über alle möglichen Bildschirme an den Nachrichten hängen.

Kurz vor dem Abflug spähe ich neugierig aus dem Fenster. Die eindrückliche Maschine der Air Force One ist eben angerollt. Da liegt der rote Teppich – und da – sind das nicht King Bibi und seine Frau Sara? 
Und dann sehe ich IHN, Präsident Trump, wie er mit wehenden orangen Haaren die Gangway hinunterschreitet.

Unsere Blicke treffen sich. Die Zeit steht still. 
Ich winke. 
Er winkt zurück.

Melania verengt die Augen zu gefährlichen Schlitzen – aber ich bleibe standhaft. Ich blinzle Präsident Trump verschwörerisch zu und flüstere durch das Doppelfenster ein leises „Danke!“

Dann heben wir ab. Ich bestelle einen Orangensaft und lehne mich zurück, in der Gewissheit auf den Beginn einer neuen politischen Realität im Nahen Osten.

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Was wahr ist an der Geschichte:
Ich fliege in die Schweiz.
Präsident Trump landet genau zur Zeit meines Abflugs.
Natürlich bekomme ich ihn nicht zu Gesicht.
Während ich fliege, hält Trump eine Rede in der Knesset.
Zwanzig lebende Geiseln sind endlich frei!





Sonntag, 12. Oktober 2025

Vermeidbares Leid

In meinem Beitrag "die Kindertränen-Show" schrieb ich vor einigen Tagen, dass auch in Israel erschütternde und verzweifelte Schicksale existieren. Geschichten, die in deutschen Talkshows nicht erzählt werden, weil sie nicht in das gängige Narrativ passen. 

Einer von ihnen war Roee Shalev, ein junger Mann im Alter von Sivan, aus einem Dorf in unserer Gegend, ein Überlebender des Nova-Festivals. Am Morgen des 7. Oktobers suchten Roee, seine Partnerin Agam und ihre Freundin Hili auf dem Festival-Gelände unter zwei Autos Schutz vor dem Kugelhagel. Neben ihm wurden Agam und Hili aus nächster Nähe erschossen. Roee überlebte mit mehreren Schusswunden, nach langen Stunden, in denen er hilflos neben den zwei Ermordeten lag. Gefangen in einen Albtraum, der kein Ende fand. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr nahm sich seine Mutter Rafaela das Leben, sie konnte den Schmerz ihres Sohnes und die Bilder des Grauens nicht ertragen. Und nun, zwei Jahre später, hat auch Roee am Freitag seinem Leben ein Ende gesetzt. „Ich halte diesen Schmerz nicht mehr aus, ich verbrenne innerlich“, schrieb er in seinem Abschiedspost.

Es gibt in Israel unzählige solcher Geschichten. Sie bleiben in Europa ungehört, denn sie passen nicht in die politische Debatte. Stattdessen zeigt man Bilder palästinensischer Kinder und fragt hinterlistig nach Verhältnissmässigkeit. Als wäre Leid vergleich- oder messbar. Als gänge es den Israelis um Rache. 

Am Montag sollen alle Geiseln – Tote wie Lebende – freikommen. Ganz Israel hält den Atem an, zwischen vorsichtiger Euphorie und banger Erwartung. Wenn alles gelingt, könnte dieser Montag einer der grössten Freudentage der letzten Jahre werden.

Einer der Geiseln ist Bar Kupperstein, ein aufrichtiger, fleissiger junger Mann, der als Sicherheitsmann beim Nova-Festival arbeitete. Mit seinem Einkommen unterstützte er seine Eltern, von denen der Vater nach einem Unfall schwerbehindert ist. Viele Israelis kennen ihre Gesichter: der Vater im Rollstuhl sitzend, unter grosser Anstrengung artikulierend und nur schwer verständlich, die Mutter erschöpft von der Last, die Familie mit den besonderen Bedürfnissen durchzubringen.
Auf einem der Videos, die die Terroristen am 7. Oktober verbreiteten, sieht man Bar am Boden liegen, die Hände gefesselt. Als er bemerkt, dass die Mörder filmen, nennt er geistesgegenwärtig seinen Namen, in der Hoffnung, jemand möge ihn erkennen.

Zwei Jahre! Zwei Jahre voller Ungewissheit, Schmerz und unfassbarem Leid.
Auch ich wünsche mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass diese Unschuldigen endlich freigelassen werden. Dass der Montag ein Tag der Freudentränen wird.

Doch bei aller Euphorie – ich komme nicht umhin, zu denken – wie viel einfacher wäre alles gewesen, wie viel Leid wäre vermeidbar gewesen, hätte man diese Menschen gar nicht erst verschleppt.




Dienstag, 7. Oktober 2025

Zum 7. Oktober

Über den 7. Oktober 2023, der alles verändert hat.

Über zwei Jahre täglicher Kampf mit dem Trauma.

Über den heutigen Gedenktag.

Über einen Krieg, der nicht am 7. Oktober begann – aber seit diesem Tag jede Grenze sprengt.

Über das ständige Ringen mit dieser unerträglichen neuen Realität.

Über die Geiseln, die seit zwei Jahren in Gaza festgehalten werden.

Schreibe ich heute nichts.