Mittwoch, 22. Juni 2022

Nazareth

Liebe Leser, falls Nazareth und die heiligen Stätten des Christentums dieser Stadt auf ihrer Wunschliste stehen, vielleicht im Rahmen einer Pilgerreise – seien sie gewarnt.

Es mag in Nazareth einige interessante Ecken geben, aber sonst ist der Besuch in Jesu Geburtsstadt ernüchternd. Die Altstadt ist heruntergekommen, in den Strassen rinnt schmutzig-braunes Wasser unklarer Herkunft. Die Fassaden und Gehsteige sind verrottet und nicht nur in den Hinterhöfen sammelt sich der Abfall. Gebäude sind schlecht unterhalten, die Stadt scheint chaotisch geplant. Alles in allem – eine stinkende, alles andere als einladende Stadt. Obwohl jedes Kellerloch zum Heiligtum deklariert wird, bleiben die Touristen aus. Der einst pulsierende Markt in der Altstadt ist verwaist. In den Kirchen knien einige verklärte Pilgerer vor den heiligen Altären und Ikonen, aber auch für sie empfinde ich keinerlei Art der Begeisterung, sondern eher Befremden.

Während dem Israelischen Unabhängigkeitskrieg (am Tag nach der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel 1948 rückten reguläre Armeeeinheiten der umliegenden arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak in das ehemalige britische Mandatsgebiet ein und griffen Israel an) erhielt Nazareth die Möglichkeit, sich zu ergeben, mit der Konsequenz, dass die etwa 17'000 Einwohner (davon etwa 60 Prozent Christen) in ihren Häusern bleiben konnten. Daraufhin kamen rund 20'000 arabische, meist muslimische Binnenflüchtlinge nach Nazareth.

In der offiziell ethnisch gemischten Stadt Nazareth leben heute über hunderttausend Einwohner, wovon etwa ein Drittel Juden und zwei Drittel muslimische und christliche Araber sind. Das macht Nazareth zur Stadt mit der heute größten Gemeinschaft arabischer Israelis in Israel. 

Die kulturellen Unterschiede zwischen den Ethnien sind haarsträubend: Der Übergang vom arabischen in den jüdischen Teil der Stadt, heute Nof Hagalil genannt, kommt einer Reise in ein anderes Land gleich. Hier sind die Strassen breit und sauber und die Häuser einigermassen modern und gut unterhalten, auch wenn Nof Hagalil nicht gerade eine der High-Society Städte Israels ist.

Im arabischen Teil der Stadt scheinen sich Auto-Rowdies uneingeschränkt austoben zu dürfen. Auffallend viele Autos der einschlägigen Marken rasen durch die engen steilen Strassen der Altstadt, sodass man als Fussgänger um sein Leben bangen muss, zumal man oft wegen der nicht vorhandenen oder nicht begehbaren Gehsteige gezwungen ist, mit den Rowdies die Fahrbahn zu teilen. Auch dass die Macho-Luxus-Karrossen überall da abgestellt werden, wo kein ausdrückliches Fahrverbot markiert ist, scheint hier keinen zu stören.
Damit einhergehend ist wohl das Ergebnis einer Studie im Auftrag des israelischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit, dass die Einwohner Nazareths von allen Bürgern Israels das größte Risiko haben, Opfer einer Straftat zu werden.


Schuld an der Misère der Stadt ist wohl hauptsächlich die arabische Stadtregierung. Der Disput „Warum sollen wir Steuern zahlen, wenn wir keine Dienste dafür bekommen?“ gegenüber „Wie sollen wir Dienste leisten, wenn keine Steuern bezahlt werden?“ ist so unlösbar wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Und das ist wohl nur eines der geringeren Probleme. In der Stadtregierung beschuldigt man sich gegenseitig über christliche Privilegien, welche die eine Front verteidige und islamischen Chauvinismus, den sich die andere Front zunutze mache.

Ich weiss nicht, was sich die ersten jüdischen Einwanderer oder die Staatsgründer Israels gedacht hatten. Hatten sie irgendwelche Vorstellungen, wie die unterschiedlichen kulturellen Werte der Völker, die hier zusammenleben sollten, in Zukunft zu überbrücken oder auch nur zu ertragen sein könnten? Bestimmt hatten sie keine Ahnung, welche Ausmasse die Probleme hundert Jahre später annehmen würden. Vielleicht dachten sie, die anderen Ethnien und die mit ihnen verbundenen Probleme würden sich mit den Jahren in Luft auflösen. Dabei ist genau das Gegenteil passiert.

Das Freiluftkonzert, welches wir am Donnerstagabend besuchten, war hingegen ein einschlägiger Erfolg, wie es von dem bekanntesten und beliebtesten israelischen Sänger Schlomo Artzi zu erwarten ist.

Während die Altstadt von Nazareth in einer Geländemulde liegt, ist das neue Amphitheater in Nof Hagalil (wo das Konzert stattfand) auf das umliegende Hügelland gebettet. An den meisten Sommertagen ist die Fernsicht aufgrund des Hitzedunstes schlecht, aber nachts ist es hier angenehm kühl und luftig und man kann in der Ferne den Berg Tabor, den See Genezareth und die Lichter Tiberias erkennen. Die markanten Umrisse des Berges Tabor in der Nacht erinnern mich daran, dass ich schon einmal in dieser Gegend „vorbeigekommen“ bin, anlässlich meiner Wanderungen auf dem Shvil Israel. Das entsprechende Foto ist schnell gefunden. 


Eine schöne Gegend! Schade, dass sowohl die Bewohner der Stadt als auch die zuständigen Behörden keinerlei Motivation, Initiative und vielleicht auch Möglichkeit haben, die Stadt auf Vordermann zu bringen.


Donnerstag, 16. Juni 2022

Von Basel nach Nazareth





Wie immer ist mein Besuch in der Schweiz von gemischten Gefühlen geprägt. Während der fünftägigen Reise durchlebe ich von himmelhochjauchzender Begeisterung bis zum dringenden Wunsch, möglichst schnell wieder zu verschwinden, das ganze Repertoire an Gefühlen, begleitet vom grossen Staunen eines Kindes über die Verschiedenheit der Orte, der Leben und der Kulturen.

Basel – was für eine wunderschöne Stadt! Ich flaniere durch die Altstadt, das Münster, die Einkaufsmeilen und bewundere den eindrücklichen Rhein, der breit und dominant die Stadt durchzieht und die zahlreichen Passanten und Touristen. Ich geniesse ein Schoggiweggli und Kaffee bei Sutterbeck. Einen feinen Flammenkuchen und ein Glas Wein am Spalenberg. Wie immer darf eine Rheinüberquerung mit der Fähre nicht fehlen. Ich bin begeistert von den langen Abenden, die die Bewohner Basels für ein gemütliches Chill-Out auf den Rheintreppen nutzen. Ich entdecke die perfekte Eiscreme von Gasparini. Meine Jahre am Basler „Gymi“ habe ich als eher bedrückend, geprägt von seelischem Durcheinander und Notenstress in Erinnerung. Für die Schöhnheit der Stadt hatte ich damals keine Augen. Jetzt dafür umso mehr.

Am Wochenende das Familientreffen im wunderschönen grossen Garten meiner Eltern. Es ist wie in einem klischeehaften französischen Film: ein langer gedeckter Tisch im Schatten eines riesigen Nussbaums, kühler Wein und feine Apero-Häppchen, im Hintergrund eine riesige Paëlla am Köcheln, fröhlich plaudernde Menschen, von den einige, um die filmartig kitschige Stimmung perfekt zu machen, auch noch französisch parlieren!

Am Sonntag reisen die Gäste ab, die Läden sind geschlossen und das Wetter schlägt um. Sturmartige Regenfälle stürzen auf uns hernieder. Ich fühle mich krank, eine Grippe oder Erkältung bahnen sich an. Ich treffe Leute, zu denen ich – obwohl sie Leben zu führen scheinen, die meinem ähneln – keinen Draht finde. 
Ich beginne wieder einmal zu ahnen, dass mir hier, in diesem Dorf in dem ich aufgewachsen bin, sehr schnell die Decke auf den Kopf fallen könnte.

 

Ein weiteres Familientreffen in kleinerem Rahmen, zum Abschluss sozusagen, dann fliege ich zurück in die Hexenküche Israel. Spätestens in Tel-Aviv, wo die Abfahrtstafel im Bahnhof um 18:54 einen Zug anzeigt, der um 18:51 abfahren „wird“ weiss ich, dass mich das Land des „Balagan“ wieder hat.

Leider habe ich aus der Schweiz ein völlig unnötiges Souvenir mitgebracht: Corona! Die Krankheit ist tatsächlich recht unangenehm, mit wechselnden Grippesymptomen, grosser Müdigkeit und leichter Atemnot, verläuft aber einigermassen erträglich, wahrscheinlich dank der Impfungen.

Etwa zehn Tage nach Ausbruch der Krankheit fühle ich mich fast wieder „wie gehabt“ und freue mich jetzt auf einen Wochenendausflug nach Nazareth, einschliesslich eines Konzertes am Abend und Übernachtung in einem vielversprechenden B&B.

Liebe Leser, ich werde die Gelegenheit nutzen und in den Kirchen Nazareths für uns alle beten! Dass wir von Corona und anderen Krankheiten verschont bleiben mögen, dass wir viel Eiscreme essen werden und überhaupt noch viele bereichernde Erlebnisse werden erfahren dürfen. Und dass vielleicht eines Tages auch in Israel Züge nach einem nachvollziehbaren Zeitplan fahren werden!