Ganz an der Spitze der Skala überwältigender Lebensphasen rangieren zweifellos die Geburten unserer Kinder – lange her. Vor allem die Geburt unseres Sohnes. Eine tragischer Fehler – eine falsch berechnete Dosis Schmerzmittel nach der Brit Mila, brachte unser Neugeborenes in Lebensgefahr. Der Tag endete in der Notfallaufnahme. Heute ist diese Zeit eine fast amüsante Anekdote in unseren unberechenbaren Leben. 
Zu den weiteren chaotischen Höhepunkten auf der Achterbahnfahrt des Lebens zählt unsere Hochzeit. Es war ein aufregendes, schicksalsträchtiges Fest, zu dem zahlreiche Verwandte aus der Schweiz angereist waren. Da wir in unserer kleinen Junggesellenwohnung Gäste beherbergten, verbrachten wir die Hochzeitsnacht auf einer Matratze auf dem Balkon. 
Viele freudige sowie auch schmerzliche Ereignisse und Zeiten folgten. Hochzeiten und Geburten, Kriege und Krebs.
Doch die vergangenen zwei Wochen übertreffen aus meinem jetzigen Blickwinkel alles, was das Leben an Turbulenzen bisher zu bieten hatte. 
Wenige Stunden nach meinem Besuch starb meine Mutter. Es war absehbar – und doch ist man auf den Moment nie vorbereitet. Nach ihrem Tod überlegte ich, bis zur Beerdigung nach Israel zurückzureisen. Wieder einmal war ich hin- und her gerissen zwischen meiner Familie in der Schweiz und der Familie in Israel. 
Längere Aufenthalte in meinem Elternhaus hatte ich in den letzten Jahren vermieden: die Stille, die Dunkelheit, der abgestandene Pfeifenrauch waren bedrückend. Und jetzt kam noch die Abwesenheit meiner Mutter hinzu – wo doch jeder Gegenstand von ihrer Nähe erzählt. In einem Beutel, den jemand aus dem Spital brachte, liegt ihre Bürste, in der noch silberne Haare hängen. Ihre Brille. Sie ruht nun im Nachttischchen, bei den warmen Socken, die einst ihre Füsse wärmten. 
Doch diesmal war die letzte Gelegenheit gekommen, mich all dem zu stellen. Ich beschloss spontan, bei meinem Vater zu bleiben. 
Die folgenden zwei Wochen waren von einem leisen, unerwarteten Wandlungsprozess geprägt. Ich half meinem Vater bei den kleinen Dingen des Alltags, die ihm immer schwerer fielen. Und er, einst streng und unnachgiebig, machte sich nun klein und nahm meine Hilfe dankbar an. Langsam verschwand die Mauer zwischen uns, und an ihre Stelle traten Demut, Vergebung, Nähe und Dankbarkeit.
Die Beerdigung meiner Mutter war wunderschön und doch erschütternd. Die Kirche war randvoll mit Menschen, die sie geliebt haben – sie war ein selbstloser Mensch mit einem grossen Herzen. 
Doch der Anblick der Urne zog mir den Boden unter den Füssen weg. Wie wenig von uns bleibt, wenn wir unser Leben zurückgeben! Eine Handvoll nichts und einige Erinnerungen. 
Der Himmel weinte an diesem Tag. Der strömende Regen, das Wiedersehen mit Cousins und Cousinen, ehemaligen Nachbarskindern, Bekannten und Verwandten, von denen ich viele seit vierzig Jahren nicht gesehen hatte, und dabei meine Mutter in einer Urne – das alles verlieh dem Tag etwas vollkommen Surreales. 
Unterdessen habe ich mein Elternhaus und meinen Vater wieder verlassen, ungewiss, ob wir uns je wiedersehen werden. Wie bezeichnend, dass er ausgerechnet auf meinem letzten Foto unscharf ist und zu verblassen scheint.
Das Leben gleicht einer Berg- und Talfahrt. Es nimmt uns immer wieder erbarmungslos in die Mangel, wirbelt uns durch und spuckt uns aus, damit wir uns von Neuem aufrappeln. Und das ist gut so. Denn am Ende bleibt von uns allen nicht mehr als ein Häufchen Staub.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen