Sonntag, 28. Februar 2021

Endlich frei!

Jedes Alter hat seine guten und schlechten Seiten. Mit 56 sind die Gelenke schon rostig und es fällt etwas  schwerer, vom Sofa aufzustehen. Wenn man aufgestanden ist, hat man oft schon vergessen, wozu. Mit etwas Glück ist man aber doch noch soweit rüstig, um die endlich wiedergewonnene Freiheit zu geniessen.

Dieses Wochenende werden wir die Kinder nur per Videogespräch sehen. Die Älteste lebt in ihrer eigenen Wohnung, der Sohn schon länger in der Schweiz. Die Jüngste verbringt den Shabat in der Armee. Sogar das vierte Kind, ein Mädchen aus dem Internat, welches seit einigen Jahren die Wochenenden bei uns verbringt, fährt zu einer Tante. Mein Mann Eyal ist ziemlich pflegeleicht. Das bedeutet: Niemand braucht etwas von mir! Auch meine eigenen Erwartungen an mich selbst versuche ich herunterzuschrauben. Summa summarum: KEINER ERWARTET IRGEND ETWAS VON MIR. Das ist sensationell!

Die Tochter meines Schwagers hat vor einer Woche ihr drittes Kind geboren. Über die ersten, die Zwillinge, habe ich vor dreieinhalb Jahren geschrieben. Gegen Mittag gehe ich auf einen Sprung bei der jungen Familie vorbei, um einen frischgebackenen Zopf, Erdbeermarmelade und ein Geschenk für die Kinder zu bringen. Als ich eintrete, springen die Jungs, die wohl gerade geduscht haben, splitternackt und laut kreischend wie kleine Äffchen über die Möbel durch die Wohnung. Ans Anziehen ist nicht zu denken, wahrscheinlich werden sie keine Ruhe geben, bis die Batterien leer sind. Und das scheint nicht so bald der Fall zu sein, so wie das hier aussieht. Die Mutter hält das Neugeborene in den Armen. Es schläft einige Augenblicke süss und ruhig – dann stimmt es kräftig in das Schreiorchester ein. Der Vater schaut mich aus schwarzumringten Augen an. „Wir haben kapituliert“ sagt er sarkastisch. „Wenn sie nur am Leben bleiben, dann sind wir zufrieden, mehr verlangen wir nicht“. Nach fünf Minuten in der Wohnung habe ich Herzrasen, Tinnitus und deutliche Anfänge einer Migräne. Ich mache mich aus dem Staub und wünsche der jungen Familie viel Freude mit ihrem Glück.

Gegen Mittag werden wir hungrig. Kinderlos und spontan wie wir sind, suchen Eyal und ich in einem der Nachbardörfer einen Kaffeekiosk auf, die jetzt, da die Restaurants geschlossen sind, überall aus dem Boden spriessen. Wir kaufen Kaffee und ein Sandwich und setzen uns auf die Wiese. Es ist Purimfest und die Schule gerade aus, deshalb ist das Pärkchen voll mit jungen Familien mit verkleideten Kindern. Das ist auch schön, denke ich und blinzle in die Sonne. Aber noch schöner ist es, wieder Zeit für mich selbst zu haben und zu sehen, wie die Kinder erwachsen werden. Wie sie ihr eigenes Leben meistern und vor allem – dass sie Freude daran haben.

Am Nachmittag kommt Sivan mit Freund zum Aperitif. Soviel Rummel ertrage ich gerade noch. Beim Betrachten der Fotos, die Sivan fürs Instagram macht, staune ich schon ein wenig, wie weiss mein Haar geworden ist. Und über all die Falten am Hals, die mir vorher nicht aufgefallen sind. Aber na ja, ich kann damit leben. Eine neue Generation ist nun damit beschäftigt, schön und jung zu sein. Ich hingegen habe Zeit, mich um die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu kümmern. Zum Beispiel, dafür zu sorgen, dass der Nachwuchs in der erweiterten Familie nie kalte Füsse haben wird.





Mittwoch, 24. Februar 2021

Zurück in der Muckibude

Seit Sonntag sind die Fitnesszentren wieder geöffnet – auch für diese sollten sich die Tore aber den erforderlichen Massnahmen entsprechend nur für geimpfte Sportfreunde öffnen. Ich habe die Wiederaufnahme des Crossfit-Trainings ungeduldig erwartet, mein letztes Training liegt nun schon mehrere Monate zurück. Das Crossfit-Studio in unserem Nachbardorf war damals meine bevorzugte Wahl für den Abschluss eines Abos weil das Lokal ideal am Weg zu meinem Arbeitsort liegt (natürlich konnte ich damals nicht ahnen dass ich bald das Haus gar nicht mehr verlassen würde). Ausserdem punktete es mit einem sehr reichhaltigen Trainingsstundenplan vor allem in den frühen Morgenstunden. Zwischen sechs bis zehn Uhr früh bietet das Zentrum jede Stunde ein Training an und da das Lokal im Nachbarsdorf und auf der anderen Seite der verkehrstechnisch problematischen Schnellstrasse liegt, kann ich mit dem Training um sechs oder sieben Uhr wunderbar dem ärgsten Morgenverkehrsstau entkommen. Wenn das erste Training anfängt, sind die Strassen noch leer und wenn ich zufrieden und verschwitzt das Zentrum verlasse, liegt der Stau auf dem Weg ins Büro schon hinter mir. Soweit der Plan – dann kam Corona.

Vom Image des Crossfit als Extremsport für Jüngere lasse ich micht nicht abschrecken. Ich bin zwar nicht mehr fit und beweglich wie eine Zwanzigjährige, aber für Wassergymnastik ist die Zeit für mich doch noch nicht reif.

Zum ersten Training nach der langen Lockdownphase erscheinen nur die ganz Angefressenen. Sechs junge Muskelprotze – und ich! Die Sportler scheinen zu stutzen, warum sich eine grauhaarige alte Frau um sechs Uhr morgens in ihr Fitness-Studio verirrt. Vielleicht wundern sie sich, ob ich dement und verlorengegangen bin? Leider kann ich beim Gewichteheben den Eindruck den sie von mir haben nicht verbessern: Während die Männer schweisstriefend zentnerweise 10- und 20-kg-Gewichtsscheiben auf ihre Stangen wuchten, bleibe ich meiner Grenzen bewusst bei der leichtesten 15-kg-Stange, ohne zusätzliche Gewichte. Als wäre das nicht genug beschämend, ist die Frauenstange unnötigerweise auch noch rosarot!

Aber in der zweiten Hälfte des Trainings kann ich den jungen Burschen beweisen, dass gute Kondition nichts mit dem Alter zu tun hat. Beim fünfmal 400-Meter-Laufen können einige der Jünglinge nur schwer keuchend mithalten und ich habe für sie nur mitleidige Blicke übrig. Beim Laufen sind eben graue Haare kein Hindernis, Muskelberge hingegen schon. Nach dem aufbauenden Training fahre ich um sieben dem Stau entgegen wieder nach Hause – Muskelkater garantiert. Ich bin froh wieder trainieren zu können und dankbar für einen weiteren Schritt in Richtung Normalisierung. Hoffentlich werden auch bald die wenigen Frauen wieder auftauchen, die vor den Lockdowns sehr aktiv dabei waren – schliesslich stehen noch einige rosarote Gewichtsstangen zur Verfügung. Nach einem Corona-Impfpass oder Ähnlichem hat übrigens niemand gefragt. Das ist vielleicht besser so, denn auch da hätten höchst wahrscheinlich einige der jungen Muskelprotze nicht mit mir mithalten können.



Donnerstag, 18. Februar 2021

Werden wir wieder lachen können?

Ich habe mich zu früh gefreut. Das Leben ist nicht nur eitel Frühling und blühende Blumen. Es schneit und stürmt und die Höchsttemperatur übersteigt am Mittag nicht einmal zehn Grad, was in Israel arktischer Kälte gleichkommt. In unserer Nachbarschaft schlägt der Blitz ein und löst einen Hausbrand aus. Die Nachbarn des brennenden Hauses haben denselben Familiennamen wie unsere, was aufgrund einer weitergeleiteten Nachricht zu Verwirrung und bei unserer Tochter, die ausser Haus weilt, zu einem kleineren Schock führt.

Schneemann in Jerusalem


Dazu passend die Stimmung in den sozialen Netzen. Seit Ausbruch der Pandemie vertieft sich die Kluft zwischen den verschiedenen Gruppen der israelischen Gesellschaft. Immer grösser wird der Hass auf die Bevölkerungsgruppen, in welchen die Ansteckungszahlen besonders hoch sind, weil anscheinend keine oder weniger Rücksicht genommen wird. Das Ampelsystem hat in Israel nicht funktioniert und die Einen beschuldigen die Anderen, die wiederholten Lockdowns verschuldet zu haben. Manchmal denke ich, es könnte ein besonders ausgeklügelter Schachstreich der Natur sein, dass wir mit Hass und schlussendlich Bruderkriegen das schaffen, was das Virus selbst nicht vermag – uns selbst endgültig auszurotten.

Israel Katorza ist ein israelischer Komiker, der sich in allen Kreisen der Bevölkerung grosser Bekanntheit und Beliebtheit erfreut. Er ist ein von Grund auf lustiger Mensch, der mit seinem etwas verrückten Humor auch gerne über sich selbst lacht. Er ist gross und schlank und jeder Zentimeter in seinem langen Körper versprüht Witz und Humor. Sein Gesicht ist über und über von tiefen Lachfalten geprägt. Oft prustet er beim Versuch, einen ernsthaften Satz zu sprechen, nach wenigen Worten los und der Witz übermannt ihn.

Nach vielen Monaten kultureller Flaute sind nun die meisten Beschränkungen aufgehoben und die Israelis soweit durchgeimpft, dass man endlich nicht nur an Shopping oder Beten, sondern auch wieder an kulturelle Anlässe denken kann. Erfreut kündigte Katorza vor einigen Tagen das Datum seines seit Pandemieausbruch ersten Auftritts vor Publikum an. Dieser Bekanntgabe auf Facebook fügte er gezwungenermassen die Information hinzu, dass die Show natürlich den erforderlichen Massnahmen entsprechen werde und nur geimpfte Zuschauer zugelassen würden.

Die Ansage löste unter den israelischen Corona-Impfgegnern umgehend einen erbitterten und hasserfüllten Shitstorm aus. Der Komiker wird nun beschuldigt, mit der staatlichen Impfbewegung zu kooperieren und er wird aufs Ärgste beschimpft, verflucht und beleidigt. „Impffaschismus“ ist der neueste Fluch, bei dem ich sprachlos werde. Hunderte erboste Israelis erdreisten sich, beleidigende Kommentare zu schreiben und dem Komiker umgehend ihre Liebe und Unterstützung zu kündigen. Sie wären unter Katorza's Publikum ab sofort auf keinen Fall mehr zu finden sein. Impfgegner mischen sich nicht mit Impfbefürwortern. Auf Nimmerwiedersehen!

Die Situation ist einfach zu traurig. Es tut mir leid für Leute wie Katorza, der schon ein ganzes Jahr kein Publikum mehr zum Lachen bringen darf und der nun für die ausweglose Situation in die er hineingeschlittert ist, aufs Übelste beschimpft wird. Bestimmt vergeht nun sogar ihm das Lachen.

Montag, 15. Februar 2021

Frühlingslaune

Beim Anziehen fällt mein Blick auf eine Schachtel, die hoch oben im Kleiderzimmer in Vergessenheit geraten ist: Meine geliebten Stiefel! Als bekennende Schuhfetischistin lassen diese eleganten schwarzen Stiefel aus feinstem Wildleder mein Herz auch nach einigen Jahren noch höher schlagen. Jetzt ist der Winter vorbei und ich habe sie kein einiziges Mal getragen. Auch meine vielen Mäntel und Jacken sind den ganzen Winter über im Schrank geblieben. Nicht weil es zu warm gewesen wäre. Ich habe sie nicht gebraucht, weil ich einfach NIRGENDWO hin gegangen bin. Ich habe ein Jahr lang jeden Tag mehr oder weniger denselben vergammelten Trainingsanzug getragen.

 

Beim Laufen freue ich mich über die dunkelviolette Küsteniris, die jetzt in dieser Region in voller Pracht blüht. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich weiss nicht ob die Endorphine oder das frühlingshafte Wetter daran schuld sind, oder die Aufhebung der Lockdown-Einschränkungen – aber ich bin wieder zuversichtlich. Die Tage der ausgeleierten Trainingsanzüge sind gezählt. Eine neue Zeit bricht an. Die Angst dass alles noch viel schlimmer werden könnte ist noch da, aber sie flacht ab. Bestimmt, die Natur ist stärker als wir Menschen. Sie könnte oder kann die Menschheit vernichten, genau so, wie sie uns hervorgebracht hat. Aber – vielleicht sind wir der Geist, den sie gerufen hat, und den sie nun nicht los wird. Wir haben eine beachtenswerte Intelligenz entwickelt und so schnell geben wir nicht klein bei. Wir sind fast alle geimpft. Wenigstens hier, auf der Insel Israel, die wir im Moment immer noch nicht verlassen können. Die Statistiken sind positiv und Viele berichten schon aus eigener Erfahrung, dass man sich tatsächlich kaum mehr ansteckt. 

Vielleicht haben wir diese Hürde geschafft.

Meine Stiefel werde ich dieses Jahr nicht mehr anziehen. Auch andere alte Gewohnheiten werden eventuell im Schrank bleiben. Andere, neue Gepflogenheiten werde ich beibehalten. Ich habe viel gelernt in diesem Corona-Jahr. Über die Allmacht der Natur, über unsere Überheblichkeit, über die fälschliche Sicherheit des Lebens, über meine Mitmenschen, über meine Beziehung zu ihnen  aber vor allem über mich selbst. In diesem Moment bin ich dankbar für die Bereicherung, mit welcher ich aus dieser Krise hervorgehe. In der vagen Hoffnung, dass sie wirklich hinter uns liegt.