Sonntag, 12. Mai 2019

Die Fast-Gipfelbesteigung



Nickerchen im windgeschützten Winkel
Unsere letzte grosse Wanderung liegt schon mehr als eine Woche zurück, weil sie aber sehr abenteurlich und eindrücklich war, möchte ich doch noch darüber berichten und einige Fotos hochladen. 

Die Besteigung der Kreuzfahrerburg Nimrod in den Bergen von Galiläa, im Norden Israels am ersten Wandertag verläuft angenehm. Vielleicht etwas zu angenehm, so dass es plötzlich zu spät wird und wir den zweiten Teil der Wanderung auf den nächsten Tag verschieben.
Wir – eine Gruppe von etwa 30 Wanderern, inklusive einem dreiköpfigen Leiterteam – sind heute 14 km gegangen.












Jetzt gibt es eine heisse Suppe und dann sitzen wir um das Feuer, auf welchem ein grosser Eintopf vor sich hinköchelt. Jemand hat eine Gitarre mitgebracht, wir singen und trinken Wein.



Diese Aussicht vom "Bett" ist eine schlaflose Nacht wert
Die Übernachtung im Zelt ist, wie nicht anders erwartet, eine Katastrophe. Trotz Heuschnupfenmedikament ist meine Nase total verstopft sobald ich mich hinlege. Wenigstens ist mir nicht kalt, ich schliesse aber trotzdem die ganze Nacht kein Auge und zähle die Minuten bis zum Morgengrauen.

Am Morgen ist die Qual aber schnell vergessen – Schlaf ist für Schwächlinge! Stehend kann ich jetzt auch wieder atmen und ich ziehe vor dem Morgenkaffee los, um die Umgebung im Licht der aufgehenden Sonne zu fotografieren.






Bewölkter Sonnenaufgang

Am zweiten Tag machen wir uns an den Streckenabschnitt, der eigentlich für gestern geplant war und wandern in der Schlucht des Hazur-Flusses. Der Fluss mit seinem klaren kalten Wasser und den felsigen Becken erinnert an die Verzasca in der Schweiz, nur ist die Schlucht hier viel enger. Weil es im Winter ausgiebig geregnet hat und der Schnee auf dem Hermonberg immer noch schmilzt, führt der Fluss verhältnismässig viel Wasser und das Tal grünt und blüht in allen Farben.

Eine Wanderkollegin bricht sich beim Klettern auf den felsigen Pfaden den Knöchel, sie wird von einem Rettungsteam abtransportiert und so verzögert sich das Tagesprogramm um eine weitere lange Stunde. Gute Besserung!

Erst um die Mittagszeit, viel später als geplant, beginnen wir den Aufstieg auf den Hermonberg, den höchsten Berg Israels, dessen Gipfel auf 2,200 m wir eigentlich bis um 15 Uhr hätten erklimmen müssen, um mit dem letzten Sessellift gemütlich wieder die Talstation zu erreichen. Unser Wanderleiter lässt sich aber nicht so leicht aus der Ruhe bringen, er improvisiert spontan einfach weiter, ganz nach dem abenteurlichen Motto, dass sich immer irgendeine Lösung findet. In diesem Sinne kraxeln wir nun im Affentempo den Berg hoch. 

Das Mittagessen lassen wir aus. Als es schon 15 Uhr ist, sehe ich die nebelumhangene schneebedeckte Bergspitze immer noch in weiter Ferne. Nur nicht nachdenken! Weiterklettern! Nach zwei Stunden Aufstieg scheidet etwa ein Drittel der Gruppe aus und schlägt eine Abkürzung zur Talstation des Sesselliftes ein, wo der Bus auf uns wartet. Eyal und ich klettern mit dem Rest der Gruppe weiter. Nach einer weiteren Stunde mag aber einer von uns beiden – ich nenne keine Namen – nicht mehr. Er schwitzt und keucht und bleibt nach jedem Schritt immer länger stehen. Wie weit der Gipfel noch entfernt ist, können wir nicht mehr sehen, er liegt im Nebel. Ich bin auch ziemlich kaputt, aber mehr noch als der weitere Aufstieg gibt mir der Abstieg zu denken. Denn das gibt wabbelige Knie. Und je höher hinauf, desto weiter würden wir hinunter klettern müssen. Der letzte Sessellift ist schon lange ohne uns abgefahren.

Das Gebiet, in welchem wir uns nun befinden, ist wegen der Nähe zur Grenze unter strengster Kontrolle der israelischen Armee und darf ab 16 Uhr nicht mehr betreten werden. 
16 Uhr ist aber schon längst vorbei und der Gedanke, dass wir uns nun im Radar des Militärs befinden, ist auch nicht gerade beruhigend.
Als wir auf ein Strässchen treffen, geben Eyal und ich auf und machen uns mit zwei weiteren Wanderern etwa eine Stunde vor dem Gipfel an den Abstieg.




Wir treffen ein seltenes Exemplar einer einköpfigen Doppelkuh

Die furchtlosen Wanderkollegen, die trotz allem weiterklettern, werden dann auch wenige hundert Meter vor Erreichen des Gipfels vom Militär abgefangen. Der erboste Kommandant ist nicht gewilligt, den unerlaubten Aufenthalt der Wanderer weiter zu dulden. Als Eyal und ich gerade mit wackelnden Knien an der Talstation eintreffen, bekommt unser Bus eine Sondergenehmigung, mit Militärbegleitung ins Sperrgebiet und auf den Gipfel zu fahren, um die verspäteten Wanderer dort oben abzuholen.


Nur die Hälfte der Gruppe hatte es geschafft, den Gipfel zu erreichen, darunter der Leiter und sein Team, eine Triathlonistin, ein Marathonläufer und einige weitere Wanderer mit übermenschlichen Kräften.

Aber, der Leiter hatte recht gehabt – irgendeine Lösung gibt es immer.

Donnerstag, 2. Mai 2019

Ein bescheidener Sieg

Wie jedes Jahr wiederholt sich in Israel eine Woche vor dem Unabhängigkeitstag der Holocaust-Gedenktag. Im Fernsehen werden Dokumentarberichte und Gespräche mit und über Holocaust-Überlebende ausgestrahlt. Zeitlich passend beginne ich gerade "Ist das ein Mensch?" von Primo Levi zu lesen.

Ich realisiere plötzlich, dass mir – je weiter dieser fürchterliche Abschnitt der Geschichte in die Vergangenheit rückt – die Schicksalsberichte immer aberwitziger und unwirklicher erscheinen. Jedes einzelne Schicksal ist absolut unvorstellbar, mit dem Verstand einfach nicht zu fassen. Als hätte die Generation der Älteren in einem Anflug hinterhältigster Boshaftigkeit in den Vierziger Jahren beschlossen, von nun an allen Nachgeborenen einen himmelschreiend ungeheuerlichen Bären aufzubinden. Science Fiction. Anders ist es nicht zu begreifen.

Natürlich weiss ich genau, dass dem nicht so ist. In Israel leben heute noch etwa 200,000 Holocaust-Überlebende und ihre oft meist fantastisch anmutenden Geschichten sind leider sehr wahr. Eigenlich darf ich die obige Idee auch kaum aussprechen, denn noch viel unglaublicher ist es, dass immer mehr Menschen tatsächlich vom Holocaust nichts wissen oder wissen wollen.

Kurz nachdem heute morgen um zehn Uhr die Sirenen im ganzen Land heulen, finde ich mich mit etwa 150 Mitarbeitern auf dem Rasengelände der Firma zu einem bescheidenen Gedenkanlass ein. An dem Anlass musizieren acht Schüler, die wohl etwa siebzehn- oder achtzehn Jahre alt sind. Sie spielen Querflöte, Piano und Gitarre und zwei junge Frauen und einer der jungen Männer singen. Die Gymnasiasten sind auffallend begabt und die traurigen Lieder werden äusserst berührend vorgetragen. Auch ich habe Tränen in den Augen. Aber ich höre die Musik, betrachte die jungen Leute und denke, dass diese schönen und aussergewöhnlich begabten jungen jüdischen Menschen den wahren Sieg über die brutale und unmenschliche Vernichtungsidee der Nazis verkörpern. Ich weiss nicht, ob das Gute je über das Böse siegen wird, aber hier ist ein bescheidener Sieg, der Hoffnung macht.