Sonntag, 12. Oktober 2025

Vermeidbares Leid

In meinem Beitrag "die Kindertränen-Show" schrieb ich vor einigen Tagen, dass auch in Israel erschütternde und verzweifelte Schicksale existieren. Geschichten, die in deutschen Talkshows nicht erzählt werden, weil sie nicht in das gängige Narrativ passen. 

Einer von ihnen war Roee Shalev, ein junger Mann im Alter von Sivan, aus einem Dorf in unserer Gegend, ein Überlebender des Nova-Festivals. Am Morgen des 7. Oktobers suchten Roee, seine Partnerin Agam und ihre Freundin Hili auf dem Festival-Gelände unter zwei Autos Schutz vor dem Kugelhagel. Neben ihm wurden Agam und Hili aus nächster Nähe erschossen. Roee überlebte mit mehreren Schusswunden, nach langen Stunden, in denen er hilflos neben den zwei Ermordeten lag. Gefangen in einen Albtraum, der kein Ende fand. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr nahm sich seine Mutter Rafaela das Leben, sie konnte den Schmerz ihres Sohnes und die Bilder des Grauens nicht ertragen. Und nun, zwei Jahre später, hat auch Roee am Freitag seinem Leben ein Ende gesetzt. „Ich halte diesen Schmerz nicht mehr aus, ich verbrenne innerlich“, schrieb er in seinem Abschiedspost.

Es gibt in Israel unzählige solcher Geschichten. Sie bleiben in Europa ungehört, denn sie passen nicht in die politische Debatte. Stattdessen zeigt man Bilder palästinensischer Kinder und fragt hinterlistig nach Verhältnissmässigkeit. Als wäre Leid vergleich- oder messbar. Als gänge es den Israelis um Rache. 

Am Montag sollen alle Geiseln – Tote wie Lebende – freikommen. Ganz Israel hält den Atem an, zwischen vorsichtiger Euphorie und banger Erwartung. Wenn alles gelingt, könnte dieser Montag einer der grössten Freudentage der letzten Jahre werden.

Einer der Geiseln ist Bar Kupperstein, ein aufrichtiger, fleissiger junger Mann, der als Sicherheitsmann beim Nova-Festival arbeitete. Mit seinem Einkommen unterstützte er seine Eltern, von denen der Vater nach einem Unfall schwerbehindert ist. Viele Israelis kennen ihre Gesichter: der Vater im Rollstuhl sitzend, unter grosser Anstrengung artikulierend und nur schwer verständlich, die Mutter erschöpft von der Last, die Familie mit den besonderen Bedürfnissen durchzubringen.
Auf einem der Videos, die die Terroristen am 7. Oktober verbreiteten, sieht man Bar am Boden liegen, die Hände gefesselt. Als er bemerkt, dass die Mörder filmen, nennt er geistesgegenwärtig seinen Namen, in der Hoffnung, jemand möge ihn erkennen.

Zwei Jahre! Zwei Jahre voller Ungewissheit, Schmerz und unfassbarem Leid.
Auch ich wünsche mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass diese Unschuldigen endlich freigelassen werden. Dass der Montag ein Tag der Freudentränen wird.

Doch bei aller Euphorie – ich komme nicht umhin, zu denken – wie viel einfacher wäre alles gewesen, wie viel Leid wäre vermeidbar gewesen, hätte man diese Menschen gar nicht erst verschleppt.




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