Donnerstag, 9. Mai 2024

Alles wird gut

Immer nur Schrecken, Horror, Trauma, Krieg. Wer will das schon lesen? Ich sollte wieder einmal über etwas anderes schreiben, ich weiss. Aber worüber? Alles "andere" scheint belanglos. Meine früheren Blogbeiträge: belanglos. Blogs, die nicht mit dem Krieg oder unserem Trauma zu tun haben: belanglos. Etwas Lustiges vielleicht? Humor ist immer gut, in jeder Situation. Aber man muss wohl beruflich Humorist sein, um jetzt noch über irgendetwas lachen zu können. Dann vielleicht – wie wäre es mit dem Holocaust, der Shoah? In Israel wurde in dieser Woche nämlich gerade der Gedenktag an die Shoah und an jüdisches Heldentum (Yom haShoah) begangen. Dieses Thema bedeutete zwar, vom Regen in die Traufe zu kommen, wäre aber bestimmt nicht belanglos. Also schreibe ich heute über die Shoah, oder genauer, über Hoffnung.

Ich habe mich, seit ich in Israel lebe, immer sehr intensiv mit der Shoah auseinandergesetzt. Unzählige Zeugenberichte habe ich gehört und es gibt wohl keinen Film über das Thema, den ich nicht gesehen habe. Aber vor allem habe ich Hunderte Bücher gelesen, die in irgendeiner Form mit der Shoah zu tun haben. Darunter natürlich die Bücher von Primo Levi, Viktor Frankl, Imre Kertész und weiter jegliche Autobiografien und Biografien, die ich nur finden konnte, u.a. von Rabbiner Israel Meir Lau, Rudolf Vrba, Noah Klieger (von Takis Würger), Edith Eva Eger und Ralf Giordano, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Doch Bücher und Filme sind eines, persönliche Konfrontation jedoch etwas anderes. Verschiedene Gelegenheiten, zu den KZ-Gedenkstätten in Europa zu reisen, habe ich immer ausgeschlagen, ahnend, dass ich den Emotionen vor Ort nicht gewachsen sein würde. Nur schon das überraschende Erscheinen des Ortsschildes "Dachau" während einer Autofahrt in der Umgebung von München hatte mich damals völlig erschüttert (Wie kann man nur an einem Ort mit dem Namen Dachau leben?) Noch viel mehr natürlich schockierten mich die Schilderungen meiner Kinder, wenn sie mir anlässlich der obligaten Reise zu den Gedenkstätten in Europa während der Oberstufe am Telefon die Aschenberge beschrieben, oder die Gaskammern, in denen die Wände vom Giftgas blau verfärbt und von den erstickenden Opfern zerkratzt sind. Ich glaube wirklich nicht, dass ich die mentalen Kräfte aufbringen könnte, diese Stätten selbst zu besuchen.

Doch seit dem 7. Oktober-Pogrom hat die Shoah für mich eine neue Bedeutung bekommen: Ich schöpfe Hoffnung aus der Wiedergeburt und der Auferstehung dieser Generation der Überlebenden. Ihr Vermächtnis des Wiederaufbaus und der Erneuerung ist etwas vom Wenigen, das mich in der desolaten Situation bestärkt, mit der wir seit dem 7. Oktober ununterbrochen konfrontiert sind.

Deshalb zögere ich keinen Augenblick, als mein Arbeitgeber eine Reise ins Holocaustmuseum Yad Vashem anbietet. Ja, ausgerechnet jetzt, da es wahrlich an traumatischen Geschichten nicht fehlt und da meine Schmerzgrenze schon längst überschritten ist – ausgerechnet jetzt ist für mich der passende Zeitpunkt für diesen Besuch.

Wie zu erwarten war, sind die Eindrücke im Museum (das ich nicht zum ersten Mal besuche) überwältigend. Dass es überhaupt zu dieser teuflischen Katastrophe kommen konnte und die ungeheuerlichen Ausmasse, das wird nie nachvollziehbar sein. Was das Hoffnung schöpfen anbetrifft, komme ich jedoch voll auf meine Kosten.

Der Überlebende Avigdor Neuman erzählt seine Geschichte. Nur schon der Gedanke an die Hölle, aus welcher der kleine alte Mann hervorgegangen ist, der hier persönlich vor mir steht, lässt mich ehrfurchtgebietend erschauern. Sein Bericht ist überwältigend. Avigdor kam als Zwölfjähriger, nach einer mehrtägigen Reise in den berüchtigten Viehwaggons, mit seiner gesamten achtköpfigen Familie nach Auschwitz-Birkenau. Sofort nach der Ankunft wurden Frauen und Kinder vergast. Der flinke Junge entkam der ersten Selektion durch den Lagerarzt Mengele, indem er sein Alter nach oben mogelte und dreist behauptete, er sei Mechaniker. Nach Monaten in der Hölle, Aufenthalten in mehreren Lagern und zwei Todesmärschen war Avigdor im Alter von knapp 14 Jahren wieder "draussen". Alleine.

Avigdor beschreibt sehr eindrücklich, dass die Tage und Monate in den Lagern hauptsächlich vom Kampf ums Überleben geprägt waren. Doch den Moment, in welchem er als knapp Vierzehnjähriger plötzlich alleine auf der Welt war und nicht die geringste Ahnung hatte, was er nun mit sich und seinem Leben anfangen sollte, umschreibt er als ebenso herausfordernd. Kurze Zeit nach der Befreiung fand Avigdor seine einzige überlebende siebzehnjährige Schwester. Sie übernimmt die Verantwortung und beschliesst, dass sie nach Palästina reisen werden. Diese Odyssee dauert weitere etwa eineinhalb Jahre.

Noch nicht einmal 18 Jahre alt, konnte sich Avigdor, der vor kurzem noch Ungeziefer zu Füssen der Nazis war, mit grossem Stolz die Uniform der israelischen Armee überziehen und im Unabhängigkeitskrieg und später in den weiteren Kriegen sein eigenes, neu gegründetes Land verteidigen. Heute hat der 93-jährige zwei Kinder, sieben Enkel und einundvierzig Urenkel.

Als Avigdor seinen einstündigen Vortrag mit den Worten abschliesst: Verzagt nicht! Alles wird gut! Wir können alles überwinden, wir können alles besiegen!, springen die 240 Zuhörer im Saal von ihren Sitzen und klatschen minutenlang stehend Beifall.

Verzagt nicht! Alles wird gut! Genau diese Worte aus dem Mund von Avigdor, der die Erneuerung aus der grössten aller Niederlagen heraus verkörpert, brauche ich jetzt so sehr. Sie bestärken meine brennende Hoffnung, dass Wiedergeburt und Unsterblichkeit des Guten, sowie Wahrheit und Freiheit stärker sind als alles andere. Für diese Worte habe ich die beschwerliche Reise ins Yad Vashem Museum (und mehr als zwei Stunden im Stau auf der Rückreise) auf mich genommen.


Am Ende des zutiefst bedrückenden Ausstellungskorridors öffnet sich der Blick auf die Umgebung Jerusalems


Abschliessend noch einige Worte von Rabbiner Jonathan Sacks, die in der heutigen Zeit erschreckend aktuell sind:

Ich werde oft gefragt: Wo war Gott in Auschwitz? Ich weiss es nicht, aber aus jüdischer Sicht ist das die falsche Frage. Die richtige Frage ist, wo war die Menschheit, als der Massenmord in Auschwitz "stattfand"? Gott hat nie gesagt, er würde uns davon abhalten, einander zu schaden. Er hat uns einen Moralkodex gegeben. In Stein gemeißelte Befehle, die uns lehren, wie wir uns selbst stoppen können. Wo war die Menschlichkeit, als alte Männer und Frauen ermordet wurden, als Millionen vergast wurden, als Kinder noch lebendig in die Flammen geworfen wurden? Die eigentliche Frage, die so schmerzlich ist, dass wir sie kaum stellen können, lautet nicht: Wo war Gott, als wir ihn anriefen, sondern, Wo waren wir, als er uns anrief? Wenn das menschliche Leben nicht mehr heilig ist, dann wird Auschwitz möglich.


2 Kommentare:

Schreibschaukel hat gesagt…

Danke für diesen berührenden und tief gehenden Text, liebe Yael, den ich bestimmt (wie meist) noch mehrmals lesen werde, weil er einmal mehr viele wertvolle Denkanstösse enthält.

Yael Levy hat gesagt…

Danke liebe Schreibschaukel. Ich versuche, mir selbst über meine Gedanken und Gefühle klarzuwerden und sie niederzuschreiben. Natürlich freue ich mich, wenn ich zum nachdenken anregen kann.