Donnerstag, 28. April 2022

Eine halbe Stunde Leben

Der heutige Tag steht in Israel für das Gedenken an die Opfer und Helden der Shoah.

Am Vorabend des Holocaust-Gedenktags sind Restaurants und andere Orte des Vergnügens geschlossen. In Schulen und öffentlichen Institutionen werden Gedenkanlässe abgehalten. Im Radio wird nur ruhige Musik gesendet. Die bedrückte Stimmung überschattet die ganze Woche.

Ich nehme diesen Tag sehr ernst. Ich arbeite heute zu Hause, aber für die Gedenkminute, die um zehn Uhr von Sirenen im ganzen Land begleitet wird, gehe ich nach draussen und stehe auf dem Gehsteig. Aber auch wenn ich mein ganzes Leben auf dem Gehsteig stehend verbringen würde, wäre es nicht genug, um der unmessbaren Gräueltaten am jüdischen Volk zu gedenken.

Im Fernsehen schaue ich mir die Berichte und Zeugenaussagen der Shoah-Überlebenden an. Wie jedes Jahr bin ich von neuem erschüttert über die unfassbaren und absurden Ausmasse der Vergehen.

Ich höre die Geschichte von David Leitner, dem Überlebenden, auf dessen Unterarm nicht nur eine sondern zwei tätowierte Häftlings-Nummern prangen, die eine davon durchgestrichen. Ein Schreibfehler? Nein, der Junge David wurde im letzten Moment aus dem Vorraum der Gaskammern geholt, weil ein Lastwagen abgeladen werden musste. Auf der Häftlingsliste war der Todgeweihte schon durchgestrichen, deshalb bekam der von den Toten Auferstandene später „einfach“ eine neue Nummer auftätowiert. Er überlebte mehrere Konzentrationslager und den Todesmarsch als Vierzehnjähriger. Von seiner Familie blieben nur er und sein Bruder am Leben.

Ich verfolge auch den offiziellen Gedenkanlass des Staates Israel. Jedes Jahr werden sechs Holocaust-Überlebende ausgewählt, um Fackeln zum Gedenken an die sechs Millionen während des Holocaust ermordeten Juden zu entzünden. Die jetzt noch Überlebenden waren Kinder zur Zeit der Shoah und ihre Geschichten sind himmelschreiend unfassbar. Hier sind die Geschichten der Fackelanzünder von 2022.


Der Premierminister Naftalie Bennett stellt in seiner Ansprache ein Gedenkblatt vor, das ich nicht werde vergessen können (Gedenkblätter werden von Angehörigen oder Bekannten zum Gedenken an Juden, die während der Schoa ums Leben kamen ausgefüllt. So sollen die Namen und Andenken jedes einzelnen Menschen verewigt werden, der sein Leben wegen Angehörigkeit zum jüdischen Volk hingab oder gegen den Nazifeind kämpfte):


Gedenkblatt für:


Familienname: Reich

Vorname: (Leer)

Geburtsort: KZ Auschwitz

Todesort: KZ Auschwitz

Todesursache: Von der Mutter erstickt

Alter: eine halbe Stunde

Besonders bedrückend empfinde ich es an diesem düsteren Tag, bei einem Blick in die deutschsprachigen Medien festzustellen, dass in Europa der Alltag einfach weitergeht, während uns hier vor Bedrücktheit das Atmen schwer fällt. Auf Facebook und Instagram werden (bestenfalls) Katzenvideos und Kochrezepte geteilt, als wäre dies ein Tag wie jeder andere.

Bezeichnenderweise findet der Holocaust-Gedenktag wenige Tage vor dem Unabhängigkeitstag statt. Die Unabhängigkeit des Staates Israel ist mit der Shoah, der tiefsten Trauer, dem Tiefpunkt der Geschichte, eng verbunden.

An diesem einen Tag sind meine allfälligen Zweifel am dreijährigen Militärdienst unserer Kinder wie weggewischt. Israel muss bestehenbleiben, es darf nie mehr Vergangenheit sein. Die Juden haben keinen anderen Zufluchtsort. Was Menschen auf der ganzen Welt darüber denken mögen, ist mir egal. Auf die Hilfe Anderer ist kein Verlass.

2 Kommentare:

Schreibschaukel hat gesagt…

Das macht - einmal mehr - sprachlos.
Und ja, hier gehen diese Gräueltaten nach und nach vergessen und man wird nicht gerne "daran" erinnert.
Ich werde das Thema jedenfalls nächstes Jahr mit den 6.Klässlern wieder behandeln.

Yael Levy hat gesagt…

Liebe Schreibschaukel,
Danke. Ich finde es sehr wichtig, das Thema in der Schule zu behandeln, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Gerade in Europa.