Mittwoch, 25. September 2024

Alarm im Scharongebiet

Aussicht vom lieblichen Baselland


Schlussendlich hatte ich doch noch einen Flug in die Schweiz ergattert. Doch mit dem Dilemma, ob wir in Israel bleiben oder flüchten sollten, habe ich bis auf Weiteres abgeschlossen. An die vielen verschiedenen emotionalen Phasen, die ich seit dem 7. Oktober durchgehe, reiht sich in letzter Zeit, ausgerechnet jetzt, unerklärliche Gelassenheit. Ziel der Reise in die Schweiz war ein kurzer Besuch bei der Familie. Ich reiste alleine, mit einem fixen Retourdatum.

Bestimmt war auch das wunderbare Wetter daran schuld, dass mir dieses Mal die Schweiz noch perfekter als sonst erschien. Auf Schritt und Tritt – oder besser, Kilometer auf Kilometer, denn ich hatte ein Auto gemietet – staunte ich wie ein Wesen von einem anderen Stern, wie wunderbar geregelt, gemässigt und logisch einfach im Vergleich zu Israel in der Schweiz alles ist. Die Strassen sind in perfektem Zustand, der Verkehr rollt, die Richtungen sind klar beschildert, die Fahrer sind zuvorkommend oder mindestens gelassen. Auch der öffentliche Verkehr ist wie immer vortrefflich organisiert, das Tram fährt auf die Minute genau überall hin. In Basel gibt es weder kaputte Gehsteige noch Ratten. Das Personal in den Läden ist freundlich und hilfsbereit. Die Sonne brennt nicht schon frühmorgens erbarmungslos nieder. Der Regen bleibt nicht fünf Monate lang aus und prasselt dann wolkenbruchartig vom Himmel. Und vor allem hängen keine Bilder von Entführten an jeder Ecke, die jungen Menschen tragen keine Maschinengewehre oder Uniformen und die meisten haben noch alle Beine und Arme.

Eins passt einfach perfekt zum andern und ich komme aus dem Staunen kaum mehr heraus. Wie vernünftig und geordnet die Dinge sein können!
In Israel ist alles extrem, masslos, laut, kaputt, unausgeglichen, ja verrückt. Natürlich haben die israelische Unvollkommenheit und der alltägliche Wahnsinn im Vergleich zur schweizerischen Gemässigtheit auch ihren Reiz. Doch jetzt, wo der Topf der Tollheit am Überbrodeln ist, erscheinen die schweizerische Vernunft und Perfektion einfach nur frappant und verführerisch.

Obwohl sich die Lage in Israel zuspitzt, fliege ich aber doch am geplanten Tag zurück. Ich konnte am frühen Morgen ja auch noch nicht wissen, dass gerade an diesem Tag in Israel der Ausnahmezustand im ganzen Land ausgerufen wurde. Doch auch hätte ich es gewusst, war mir klar, wo mein Platz ist: bei meiner Familie in Israel.

Die Raketenangriffe aus dem Libanon hatten sich tatsächlich schon tief ins Zentrum ausgeweitet. Die Raketen reichten am Dienstag schon bis in die Umgebung Haifas und nach Nazareth, Afula and Yokne'am. Der Krieg konnte offensichtlich jeden Moment vollkommen ausarten. Rund um die Uhr, auch nachts, werfe ich immer wieder einen Blick auf das Smartphone, um über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu sein.

Und heute Morgen ist es dann auch bei uns so weit. Um 6 Uhr dreissig – ich bin schon angezogen und bereit, das Haus zu verlassen – erschüttern starke Detonationswellen unser Haus. Die Fenster und Wände rütteln und zittern. Sofort renne ich die Treppe hoch, um mich auch bei den noch schlafenden Familienmitgliedern zu vergewissern, dass ich nicht spinne. Bevor ich oben ankomme, zurrt das Handy, die Heimatfront-App zeigt Raketenalarm in Tel-Aviv an, wo Sivan und Itay leben. Dann, im Bruchteil einer Sekunde, geht auch bei uns der Alarm los, laut und markdurchdringend. Eyal und Lianne springen aus den Betten, wir stürmen in den Schutzraum und ziehen die Türe zu. Im Familienchat bestätigen die Kinder in Tel-Aviv, dass sie den Alarm gehört haben und sich in ihren Pyjamas im Treppenhaus befinden (in älteren Gebäuden gibt es keine Schutzräume). Solche Situationen sind nur noch mit Humor zu bewältigen, deshalb fragt Eyal den Sohn, der sich sonst wochenlang nicht meldet "Ach, bist du noch im Lande?". "Ja", antwortet dieser, und schiebt nach "ich kann es selbst nicht verstehen".

Nach einigen Minuten scheint die Gefahr gebannt zu sein und wir dürfen wieder hinaus – zurück zum Alltag. Der Nachbar dreht die Morgenrunde mit dem Hund, das Taxi holt den Nachbarsjungen ab, der in eine Sonderschule geht (er ist heute verständlicherweise etwas verspätet dran) und ich fahre zur Arbeit. Die Detonation, die ich gehört habe, ist dem Raketenabwehrsystem zuzuschreiben. Die aus dem Libanon abgefeuerte Rakete ist über dem Großraum Tel Aviv abgefangen worden, bevor sie grösseren Schaden anrichten konnte.

Die Heimfront-App heute Morgen: Alarm im Zentrum Israels


Mir ist aufgefallen, dass ein Grossteil der Schweizer mit den Schultern zuckt, wenn man den Nahostkrieg anspricht. Zu komplex, meinen sie damit, sie verstehen die Situation nicht. Vielleicht ist es ja sogar auch besser, nichts zu wissen, angesichts der breiten Desinformations- und Denunziationskampagne, die im Westen zum Standard geworden ist. Doch eigentlich ist der Nahostkrieg ganz einfach erklärt: die einen betreiben Terror, die anderen Terrorbekämpfung.



Sonntag, 8. September 2024

Ein ganz normales Wochenende




Sivan berichtet, dass sie nach langem Flug in New York angekommen ist, wo sie einige Tage Urlaub verbringen wird. Ihren hebräischen Namen in der Uber-App hat sie vorsorglich auf etwas Unverfänglicheres abgeändert. Dem Taxifahrer, der sie fragt, woher sie kommt, antwortet sie "aus Malta".

Eine Freundin, die Lianne abholt, erzählt, dass sie als Tagesmutter für einen kleinen Jungen arbeitet. Der Junge ist Vollwaise, die Eltern sind am 7. Oktober in Kfar Aza ermordet worden. Der Junge überlebte das Massaker 14 Stunden lang in einem Versteck. Jetzt lebt er bei einer Tante, zusammen mit anderen Überlebenden aus Kfar Aza, in einem der Kibbuzim in der Sharongegend. Nach unserem kurzen Gespräch fahren die Freundin und Lianne an ihrem freien Tag zum Brunch in ein Café.

Itay fragt uns beim Abendessen, ob wir wissen, dass man Schuhe nur in Paaren kaufen kann. In Anbetracht der vielen Amputierten in Israel, witzelt er, müsste man einzelne Schuhe kaufen können. Sein Freund Alon hat Glück, er kann die Schuhpaare mit seinem Zimmerpartner teilen, denn zusammen haben sie ein rechtes und ein linkes Bein, und zufällig auch dieselbe Schuhgrösse.

Unsere Bekannten aus einem Kibbuz im Norden Israels kommen zu Besuch. Seit vielen Monaten leben sie wie Nomaden, ihr Häuschen mit dem liebevoll gepflegten Garten und dem Studio, in welchem Pinchas malt, seit er sich von einer schweren Krankheit erholt, mussten sie verlassen. Allein im August wurde Israels Norden mit über 1,300 Raketen aus dem Libanon und aus Syrien beschossen.

Die ermordeten Geiseln, vor allem die Geschichte von Eden Yerushalmi, gehen mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Eden war im Alter meiner Töchter, die manchmal auch an Partys tanzen gehen. Was Eden und die anderen Geiseln durchgemacht haben, bis sie nach 330 Tagen in Geiselhaft kaltblütig ermordet wurden, was ihre Familien erleiden müssen, das hätte man sich für den schlimmsten Horrorfilm nicht erdenken können.

Seit Anfang September kann man den Herbst erahnen. Die Temperaturen sind frühmorgens etwas erträglicher, abends spürt man sogar endlich ein leichtes Lüftchen. Aber sobald die Sonne am Himmel steht ist es immer noch sehr heiss und feucht und deshalb starte ich meinen Morgenlauf wieder einmal schon um sechs Uhr. Es ist eher ein Spaziergang, denn mein linkes Knie macht das Joggen schon einige Monate nicht mehr mit. Doch ich bin eineinhalb Stunden unterwegs und trotz der frühen Stunde kommen mir auf meiner Route, die drei Dörfer und zwei Wäldchen im Sharongebiet umfasst, Dutzende Menschen entgegen. Junge und Alte, die gehen, laufen oder Rad fahren, einige langsamer, einige sehr sportlich.
Manche der Jogger und Spaziergänger tragen Kopfhörer, andere wünschen mir freundlich einen guten Morgen und zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht. 
Den hübschen jungen Männern, die wegen der Hitze ohne T-Shirts laufen, schenke ich einen zusätzlichen sehnsüchtigen Blick. Ich hoffe, sie wissen ihre Kraft, Gesundheit und jugendliche Schönheit zu schätzen. 
Eine junge Frau sitzt im Schneidersitz mit Blick auf den Sonnenaufgang auf einem Erdhügel und bringt in ihrem Zeichenblock letzte Striche an.
Die Felder und Wälder sind trocken und staubig, sie warten auf den ersten Regen. 
Auch den blühenden weissen Meerzwiebeln schenke ich einen zusätzlichen staunenden Blick. Wie beeindruckend sie in ihrer ganzen Grösse jedes Jahr irgendwann einfach plötzlich da zu sein scheinen, wo vor einer Woche noch nichts war. Wie immer kündet ihr Blühen den Wechsel der Jahreszeit an.

Die Zwiespältigkeit der Situationen und Ereignisse im Alltag macht mich wahnsinnig. Wie erträgt man diese unheimliche Normalität?





Montag, 2. September 2024

Durchhalten

Im Anschluss an meinen letzten Beitrag kann man die Liste der Horrornachrichten von gestern auf diesem Blog nachlesen.
Heute ist die Berichterstattung in Israel dominiert von Schilderungen und Aufnahmen der zahlreichen Beerdigungen. Viele Menschen streiken und gehen auf die Strasse. Die Histadrut (der israelische Gewerkschafts-Dachverband) hat für einen Tag den Generalstreik ausgerufen. Der (gesetzeswidrige) Streik soll Anteilnahme mit dem Forum der Angehörigen der Geiseln bekunden und den Druck auf die Regierung erhöhen, einem Deal zur Freilassung der verbliebenen Geiseln zuzustimmen. Leider erzielt die Hamas damit genau das, was sie über kurz oder lang explizit im Sinne hat: Hass zu schüren, die Gesellschaft zu spalten und Israel weiterhin innerpolitisch zu schwächen.

Die Sache mit den Geiseln ist höchst verzwickt. Während wir, die weniger oder nicht direkt Betroffenen, mit den am 7. Oktober etwa 1,200 Ermordeten abschliessen und sie einigermassen aus dem Bewusstsein verdrängen können, während der Schock und die Trauer über diese für uns meist Unbekannten verjähren und abklingen, beschäftigt uns das Schicksal der Geiseln rund um die Uhr. Wir kennen nicht nur ihre Namen, sondern ihre Gesichter und Geschichten, ihre Eltern, ihre Geschwister und Angehörigen. Sie sind für uns alle zu Brüdern und Schwestern geworden. Mit ihnen hat die Hamas uns in der Hand und das spielt sie brutal aus. Das wird sie auch weiterhin tun, mit jedem und jeder einzelnen der Festgehaltenen, denn das war die bestialisch geplante Absicht der Geiselnahmen am 7. Oktober-Massaker.

Ein sogenanntes "Abkommen" wird und darf es nicht geben. Wer dies bei Schreibschaukel noch nicht getan hat, sollte dazu unter anderem das Interview mit Gerhard Conrad lesen.

Für uns endete der gestrige schwarze Tag mit einem Besuch auf dem Friedhof unseres Wohnorts, für die Yahrzeit (Jahrestag des Ablebens, nach jüdischem Kalender) von Nitzan. Nitzan wurde am 7. Oktober in dem Todesbunker ermordet, aus welchem der nun aus Gaza tot geborgene Hersh Goldberg-Polin und andere entführt wurden.

Ich wollte mir eine "mir ist alles egal" Haltung aneignen, doch sehr erfolgreich bin ich damit nicht, wie ja auch zu erwarten war. Ich versuche weiterhin, mir einen Panzer zuzulegen und alles möglichst an mir abprallen zu lassen. Anders geht es nicht. Irgendwann wird hoffentlich alles wieder gut – in meiner Wunschvorstellung mit Unterstützung der westlichen Welt. Ich denke, dass sich weltweit langsam aber sicher Menschen zeigen werden, die, wie wir Israelis, ein wertebasiertes, pluralistisches, gemeinschaftsorientiertes Umfeld wollen. Menschen, die eine auf Respekt und Gleichberechtigung beruhende Gemeinschaft wollen, die niemanden zurücklässt. Menschen, die überhaupt an etwas glauben und nicht nur an Vernichtung. Ich denke, dass sich diese Menschen herauskristallisieren und dass sie irgendwann auch überhandnehmen werden.

Bis dahin müssen wir durchhalten.















Sonntag, 1. September 2024

Horrorfilm

Ein Morgen voller Schläge in die Magengrube. Wir sind Statisten in einem Horrorfilm ohne Ende. 

Sonntag, 25. August 2024

Krieg und zwei platte Reifen

Auch wenn es heute früh einige Stunden anders ausgesehen hat, uns geht es immer noch – doch, ich sage "gut". Man kann unseren Alltag im Ausnahmezustand kaum beschreiben, weder mit einem, noch mit vielen Worten. Doch wieder ist für uns, an unserem Wohnort, ein Tag ohne Alarm vergangen. Wir müssen nicht in den Schutzraum rennen, wir bewegen uns frei in einem bestimmten Umkreis, wir gehen zur Arbeit und vergnügen uns, soweit es geht. Wir (meine Familie) sind einigermassen in Sicherheit. Wenn man das Mikro betrachtet und nicht das Makro, geht es uns also immer noch gut. Anderswo ist das nicht so, wie man zum Beispiel bei Lila lesen kann.

Um uns herum herrscht Chaos und die Situation wird jeden Tag schlimmer. Vor zwei Wochen versetzten mich die Nachrichten über den unmittelbar bevorstehenden Angriff aus dem Iran einige Tage in Panik. Unterdessen habe ich mich beruhigt und würde nun meinen Gemütszustand eher als zutiefst frustriert beschreiben. Ich versuche, mir eine "mir ist alles egal" Haltung zu eigen zu machen. Ich gebe mir grösste Mühe, die kleinen guten Momente zu geniessen und Schlimmeres möglichst von mir fernzuhalten. Fernsehen schaue ich seit Jahren nicht mehr, schon gar keine Nachrichten. Nun stelle ich auch bewusst  beim Autofahren das Radio leise, wenn es Zeit für Nachrichten ist. Auf Instagram und Facebook scrolle ich bei unerfreulichen Nachrichten schnell weiter. Es ist so viel los - ich will nicht mehr rund um die Uhr mit Katastrophen konfrontiert werden. Ich will einfach nichts mehr hören und wissen.

Doch ich lebe nicht auf einer einsamen Insel und weiss natürlich trotzdem, dass die israelische Armee vergangene Woche sechs Entführte tot geborgen hat, nachdem diese am 7. Oktober lebend nach Gaza verschleppt, wochen- oder monatelang gefoltert und schlussendlich von ihren Hamas-Bewächtern ermordet worden sind. Ich weiss auch, dass die entführte Agam Berger vor vier Tagen in Hamas-Geiselhaft 20 Jahre alt geworden ist, dass überhaupt bald alle entführten Israelis in Geiselhaft mindestens einmal Geburtstag hatten. Ich weiss, dass am Wochenende wieder fünf oder sechs Soldaten gefallen sind.

 Passionsfrüchte aus unserem Garten. Ich zelebriere und geniesse jede Einzelne.



Letzte Woche verbrachte Lianne einige Tage im Spital. Eine Riesenzyste hatte sich gebildet, die mit intravenöser Medikamentenabgabe behandelt werden musste. Zum Glück sprach Lianne auf die Medikamente gut an und wurde vor dem Wochenende wieder nach Hause entlassen. Sie muss jedoch noch weiter viele Medikamente einnehmen. Leider ist sie als Folge auf die Krankheit ihre zwei Jobs als Tagesmutter erst einmal los, denn bei solchen Gelegenheitsarbeiten kann man es sich nicht leisten, zwei oder drei Wochen krank zu sein.

Die Stunden in der Notaufnahme waren nicht gerade ein grosser Spass. Viele kranke oder verunfallte Menschen, Junge und Alte, das ist schwer mitanzusehen. Am Schlimmsten war jedoch mein Kopfkino. Mir drängten sich Gedanken an ein Mega-Attentat auf und ich konnte die Bilder von Dutzenden, ja Hunderten blutender Schwerstverletzten, welche die Notaufnahme wie ein Tsunami überschwemmten, einfach nicht loswerden. So war es am 7. Oktober, das erzählten uns die Freunde von Yotam. Sie entkamen den Hamas-Terroristen mit Splittern am ganzen Körper, wurden jedoch im südlichen Soroka-Spital in der ganzen Aufregung nicht einmal beachtet.

An einem gewöhnlichen Montag verläuft hier jedoch alles einigermassen ruhig und nach drei Stunden Aufnahmeprozedur bekam Lianne ein Bett mit Aussicht im 6. Stock. Für uns bedeuteten diese Tage täglich mühsame Fahrten nach Tel-Aviv, lange Besuche in der stinkenden Abteilung (bitte entschuldigt, aber Dermatologie ist schrecklich) und vor allem viele Sorgen um Lianne und ihre Gesundheit.

Nach einem sehr ruhigen Wochenende, an welchem wir uns erst einmal von dem ganzen Spitaltumult erholen mussten, lagen Eyal und ich heute früh beide um vier Uhr morgens wach. Warum rumorte die Klimaanlage plötzlich so? Ich drehte mich lange im Bett und konnte mein Gedankenkarusell erst mit etwas Lesen beruhigen. Kurz nachdem ich endlich wieder eingeschlafen war, zog Eyal, schon frisch geduscht, um 6 Uhr dreissig an der Decke und weckte mich auf, um mir mitzuteilen, dass die IDF vor Kurzem im Norden eine Präventivoperation geflogen hat (unsere Klimaanlage ist also doch in Ordnung!) und nun die Hisbollah ihre Raketen und Drohnenangriffe sowohl in der Zahl als auch in der Reichweite ausweitete. Die Raketen kamen heute morgen schon bis nach Akko, das ist nur 80 Kilometer von uns entfernt. Eyal musste  trotz allem ins Büro, doch ich würde im Heimoffice arbeiten und meine Schwiegermutter zu uns holen.

Später schien sich die Lage zu beruhigen, oder sich immerhin im Moment nicht mehr auszuweiten. Durch die Präventivoperation konnte die IDF den von der Hisbollah und dem Iran für fünf Uhr morgens geplanten Grossangriff auf das Zentrum Israels verhindern. Im Laufe des Tages und nachdem sie innert Stunden einige Hundert Raketen nach Israel abgefeuert hatten, gaben dann sowohl die Hisbollah als auch der Iran bekannt, dass das für heute alles wäre.

Lianne, unsere Realitätsverdrängungskünstlerin, verschlief wieder einmal alles. Erst gegen zehn stand sie auf und sagte, noch schläfrig "Ich versteh nichts mehr. Haben wir Krieg oder was? Kann ich mit meiner Freundin in die Shoppingmall fahren?"

Was sollte ich sagen? Ja, wir haben Krieg, aber im Moment kommt er nur bis 80 Kilometer von hier. Du kannst also fahren. Wir machen weiter, so lange es geht. Was in ein paar Stunden sein wird, weiss keiner.

Im Nachhinein hätte Lianne vielleicht doch zu Hause bleiben sollen, denn die Shoppingtour endete mit zwei platten Reifen, da sie den Parkplatz (mit meinem Auto!) in die Gegenrichtung verliess und dabei die Krallen übersah.

Alltag eben!




Mittwoch, 14. August 2024

Wir bleiben hier

Ob der morgige Gipfel in Katar einen Durchbruch bei der Geiselfrage bringen wird? Ich bin skeptisch. Die Hamas will ja gar keine Verhandlungen. Und das trifft sich bestens. Ich nämlich auch nicht.

Die europäischen Medien geben sich grösste Mühe, Israel und die Hamas als gleichermassen schuldige Partner darzustellen, doch diese Kriegsparteien – eine genozidale Terrormaschinerie und eine liberale Demokratie – und ihre Ziele könnten nicht gegensätzlicher sein. Auch den "Geiseldeal" im November stellte der Grossteil der europäischen Medien dar, als gehe es um einen Austausch von auf beiden Seiten aus verschiedenen, mehr oder weniger lauteren Gründen inhaftierten Gefangenen. Dass es sich in Wahrheit um rechtmässig verurteilte palästinensische Straftäter im "Deal" gegen brutalst gejagte, verletzte, gegen ihren Willen in unmenschlichsten Bedingungen in Gaza festgehaltene unschuldige Zivilisten, darunter Kinder und junge Frauen handelte, blieb viel zu oft unerwähnt.

Einer der überführten palästinensischen Straftäter, der im November im Austausch gegen israelische Geiseln auf freien Fuss gesetzt wurde, war der kaum 18-jährige Palästinenser Tarek Daus. Nach seiner Freilassung verpasste der von Hass indoktrinierte Tarek keine Gelegenheit, sich weiter mit terroristischen Tätigkeiten zu befassen. Diese Woche sah er seine grosse Chance gekommen, als ein 60-jähriger jüdischer Mann die Stadt Qalqilya betrat. Der junge Palästinenser eröffnete das Feuer auf ihn und verletzte den Israeli schwer. Zwei weitere Palästinenser wurden bei dem Attentat ebenfalls verletzt. Das Auto des israelischen Mannes wurde vom palästinensischen Mob in Brand gesetzt. Der 18-jährige Schütze floh vom Tatort und wurde am Ende der Verfolgungsjagd von der IDF getötet.


Der im November freigelassene 18-jährige Palästinenser Tarek Ziad Abd al-Rahim Daus


(Zweifellos sollte man sich als nicht-arabischer Israeli in diesen Zeiten nicht in die arabischen Städte in Israel begeben, wenn man an seinem Leben hängt. Während es jedoch für Juden lebensgefährlich ist, arabische Orte zu betreten, besteht die israelische Bevölkerung weiterhin aus 20 Prozent Arabern, die im Kernland Israel leben und sich sicher und frei bewegen können. Sie haben die gleichen Rechte wie ihre jüdischen oder andersgläubigen israelischen Mitbürger. Auch an meinem Arbeitsplatz und in meinem gesamten Umfeld ist jeder fünfte Mensch, der mir begegnet und mit dem ich zu tun habe, Araber/in.)

In deutschen Medien ist über den vorgenannten Vorfall unter anderem zu lesen ("die Zeit", 12.8.2024):
"Palästinenser melden einen Toten nach israelischem Militäreinsatz im Westjordanland. Bei einem Einsatz der israelischen Armee im Westjordanland ist nach palästinensischen Angaben ein 18-jähriger Palästinenser getötet worden". 

Was entnimmt der gutgläubige Leser diesen Zeilen? Wer ist der Schuldige? Wer das Opfer? Offensichtlich, so suggeriert der Newsticker, sind einige Israelis an einem heiteren Montagmorgen aufgestanden, haben sich aus Langeweile Uniformen angezogen und sich gesagt "Na, was machen wir heute? Gehen wir doch ins Westjordanland und erschiessen wir in einem Militäreinsatz (sprich: nach Lust und Laune) einige Palästinenser."
Hat man irgendwo nachlesen können, dass dem Militäreinsatz ein von einem Palästinenser verübtes Attentat vorausging? Ist vielleicht mit einem Wort erwähnt worden, dass Tarek anlässlich des Geiseldeals im November freikam, weil er als Minderjähriger zu den zu Unrecht inhaftierten palästinensischen Kindern gezählt wurde? Natürlich nicht, es passt ja schliesslich nicht ins gängige Narrativ.

Ich bringe diesen Vorfall hier auf um zu zeigen, wie komplex die Situation ist. Ich, wir, alle Israelis, wollen vor allem und an erster Stelle die in Gaza festgehaltenen Geiseln wieder bei ihren Familien wissen. Wenn möglich, ohne dabei irgendjemandem zu schaden. Klar, wenn ich die Mutter einer der Geiseln wäre, wäre ich bereit, Hunderttausend Terroristen für mein Kind freizugeben. Die ganze Welt würde ich opfern für mein Kind. Zum Glück bin ich das aber nicht, meine Kinder sind einigermassen sicher zu Hause. Dort möchte ich sie auch weiterhin wissen und ich habe, offen gestanden, grosse Zweifel an irgendeinem Abkommen mit der Hamas und ihrer Verbündeten. Unter anderem, weil ich riesengrosse Angst habe vor "palästinensischen Kindern", die in einem Deal auf freien Fuss kommen sollten.


In meinem letzten Blogbeitrag habe ich über unser Dilemma betreffend einer Flucht aus Israel geschrieben. Am Dienstag Tischa B'Av, dem Tag, an dem die Chancen auf den iranischen Angriff am Grössten zu sein schienen, war der gewünschte Flug spontan da. Wie ein Wink Gottes erschien ein (zugegeben sehr spontaner, für den Abend desselben Tages) Schnäppchenflug nach Basel, zu einem mehr als erschwinglichen Preis. 

Nach einigen Minuten Nachdenkens liess ich das Angebot verfallen. Ich kann nicht behaupten, dass meine Wahl sonnenklar wäre, es gibt immer wieder Momente grosser Zerrissenheit. Aber ich habe gewählt: Ich werde am kommenden Samstag mit meinen Töchtern die Theatervorstellung in Tel-Aviv besuchen, für welche wir schon vor Wochen Karten besorgt haben. Ich werde am Sonntag mit meiner Familie den Geburtstag meines Sohnes feiern. Hier in Israel. Vielleicht riskieren wir dabei unser Leben. Doch könnte ich es ertragen, meine Freunde und Angehörigen in der Ferne in Gefahr zu wissen?

Ganz klar ist mir vor allem, was ich in Europa sicherlich nicht ertragen könnte: die anti-israelische Lügenpresse. Das Obengenannte ist nur ein winziges Beispiel für die unzähligen kleinen "Updates": Scheinbar ausgewogene Nachrichten, die die Meinung der Weltöffentlichkeit formen. Mit dieser Lügenpresse, die Hamaspropaganda ohne zu hinterfragen übernimmt und damit den Terroristen in die Hände spielt, möchte ich nicht leben. Sie ist in Europa der aktuelle Trend (nett ausgedrückt), doch – wenn man die Fakten aus erster Hand kennt – immer aufs Neue schockierend und unerträglich. Auch mit einer Gesellschaft, die von nichts wissen will und einfach inbrünstig hofft, dass der Lärm der grossen Welt die Stille im eigenen lieben Dörfchen nicht stören möge, hätte ich grösste Mühe.

Den Schnäppchenflug vom Dienstag habe ich aus diesen Gründen verschmäht. Bis zum nächsten Mal, wer weiss!





Montag, 5. August 2024

Tausend Tode

Donnerstag, 25. Juli

Wir erwachen mit der Nachricht über die Tötung von Ismail Hanyieh und anderen Terror-Schlüsselfiguren.

Sonntag, 28. Juli

Iran und seine Verbündeten beginnen, mit den Säbeln zu rasseln. Laut den Medien ist nun ein Vergeltungsschlag des Irans unvermeidlich.

Montag, 29. Juli

Nach dem Anhören der höchst unheilvollen Achtuhr-Nachrichten und noch energiegeladen vom Morgentraining fasse ich einen Entschluss: Wir müssen gehen. Es ist so weit. Ich werde mit den Kindern reden und Flüge buchen. Wenigstens meine Töchter sollten mit mir kommen. Das ist nicht gerade feministisch, ich weiss, aber bei den Männern der Familie ist es aus verschiedenen Gründen gerade etwas schwierig. Immerhin, der Entschluss ist gefasst und ich spreche zuerst mit Sivan. Überraschenderweise sagt sie sofort zu. Sie ist dabei, obwohl sie ihren Verlobten zurücklassen wird. In ihrer Wohnung in Tel-Aviv schläft sie seit einigen Tagen mit neben dem Bett bereitliegenden Kleidern, für alle Fälle. Auch sie hält diese Anspannung nicht mehr aus.

Ich beginne, Flüge zu suchen. Das sieht schlecht aus. Die Preise für einen El Al Flug nach Zürich sind auf mindestens 1300 Dollar gestiegen – und es gibt keine Plätze.

Dienstag, 30. Juli


Ich spreche mit Itay und informiere ihn über unser Vorhaben, abzuhauen. Er will auch mit und das macht die Sache jetzt um einiges komplizierter. Er hat seit dem 7. Oktober nicht mehr gearbeitet und nun endlich gerade in diesen Tagen einen Kurs abgeschlossen und eine neue Arbeit angefangen. Ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, ihn davon wegzureissen. 
Und wer soll all diese überteuerten Flugtickets bezahlen?

Ich kann mich nicht auf die Arbeit konzentrieren, verbringe den ganzen Tag auf verschiedenen Webseiten und Apps, die Flüge anbieten – aber keines der Angebote ist wirklich angemessen.

Mittwoch, 31. Juli

Ausgerechnet mit Lianne, der Jüngsten, habe ich keinen Erfolg. Sie ist eine Meisterin im Verdrängen. Sie lebt in einer perfekten Welt mit schönen Menschen auf TikTok und Instagram. Krieg? Bedrohung? Davon will sie nichts wissen. Ausserdem hat sie gerade zwei neue Babysitterjobs, die sie viel mehr beschäftigen, als irgendwelche höchstwahrscheinlich unrealistischen und völlig übertriebenen Kriegsfantasien. Ich komme mit meiner Panikmache nicht zu ihr durch. Ich suche trotzdem weiter Flüge, finde aber nichts Passendes. Dass ich nicht weiss, wie viele Passagiere wir sein werden, macht die Sache nicht einfacher.

Donnerstag, 1. August

In der Schweiz feiert man den Nationalfeiertag, wir bezeichnen 300 Tage Fernbleiben unserer Entführten in Gaza.

Eyal wird in Israel bleiben. Er zieht es offensichtlich vor, arbeitend vor dem PC zugrunde zu gehen. Na ja, jedem das seine. Ausserdem ist er abgehärtet, schliesslich hat er schon den Sechstage-Krieg miterlebt, den Jom-Kippur-Krieg, den Golfkrieg, die Libanonkriege...

Einen passenden Flug habe ich sowieso noch nicht gefunden. Dann kommt mir auch noch in den Sinn, dass ich am Sonntag einen Termin beim Zahnarzt habe. Eine gebrochene Zahnbrücke muss vor der Flucht unbedingt noch ersetzt werden. Ich teile den Kindern mit, dass die Abreise auf Montag verschoben wird.

Das Flugangebot wird immer prekärer. Delta und United Airlines streichen ihre Flüge nach Israel. Gemäss der Flug-Schnäppchen-App gibt es noch Charterflüge nach Athen, Belgrad, Zagreb, Bari, Verona – aber ob die dann auch wirklich fliegen werden? Mein Plan ist jetzt, dass wir spätestens am Sonntagnachmittag mit gepackten Koffern bereit sein und dann spontan den nächstbesten Flug nach Europa nehmen werden.

Freitag, 2. August

Die Familie von Nitzan feiert Nitzans Geburtstag. Nitzan wäre 29 geworden, aber sie wird für immer 28 bleiben. Sivan geht mit einer Freundin an den surrealistischen Anlass. Zum Geburtstagsfest einer ermordeten Freundin. Dass meine Kinder so etwas erleben müssen.

Itay und Sivan und ihr Verlobter kommen zum Schabbatessen. Wenn man den Medien Glauben schenkt, steht der Angriff unweigerlich bevor.

Vor dem Schlafengehen bitte ich Eyal, die Pistole aus dem Safe zu holen. Wozu? meint er, der Angriff aus dem Iran wird kein Frontalangriff von Terroristen sein. Ich weiss, erwidere ich, aber wenn sie eine Atombombe abwerfen und wir nicht alle getötet werden, dann musst du das tun. Mit diesen Aussichten gehen wir schlafen.

Samstag, 3. August

Ein weiterer Morgen, an dem wir uns wundern, dass wir unbehelligt erwachen. 

Sivan und Lianne hätten heute mit ihrer Cousine und ihren Kindern einen Wasservergnügungspark besuchen sollen, aber die Cousine sagt ab. Die Lage...

Wir räumen endlich den Schutzraum auf. 

Ich suche weiter nach Flügen, aber es ist aussichtslos, es gibt keine Plätze mehr. 

Am Abend mähe ich den Rasen, säubere die Kanten, reche Laub. Die Mangos sind alle gepflückt, mein Garten ist parat, die Iraner können kommen!

Sonntag, 4. August

Wieder erwachen wir staunend, dass der Angriff noch nicht stattgefunden hat. 

In meine Mailbox flattern mehrere E-Mails meines Arbeitgebers mit Anweisungen für den Ernstfall. Auf den beigelegten Grundrissplänen sind die Schutzräume und die kürzesten Fluchtwege rot gekennzeichnet. Ausserdem werden ausgebildete Fachleute für eine freiwillige medizinische Notfallgruppe gesucht. Dann noch eine Meldung für den Fall, dass der Alarm beim Mittagessen in der Kantine losgeht.

Ein Ausschlag an meiner linken Hand wird immer schlimmer und ich kratze mich nachts wund.

Mir wird klar, dass ich gut daran täte, mich mit der Situation abzufinden: Wir fliegen nirgendwo hin. Wir bleiben hier. Ich treibe mich in den Wahnsinn mit unrealistischen Fluchtgedanken.

Beim Zahnarzt wird die gebrochene Brücke ersetzt. Jetzt wäre ich bereit...

Montag, 5. August

Immer noch kein Angriff. Heute, oder sicher innerhalb der nächsten 24 Stunden geht es los! behaupten die Medien jeden Tag aufs Neue, seit einer Woche. Unterdessen bin ich schon Tausend Tode gestorben.

Ich finde mich damit ab, dass wir nicht fliegen werden, aber vielleicht sollte ich mit unserem Freund Avi, dem Skipper sprechen?

Die in Gaza festgehaltenen Ariel Bibas und Karina Ariev haben heute Geburtstag. Ariel wird fünf Jahre alt, Karina zwanzig. Ich weiss nicht, was mehr schmerzt: Die Aussicht auf einen grossen Krieg oder die Tatsache, dass wegen der neuen Bedrohung aus dem Iran die Befreiung der Geiseln in den Hintergrund gerückt zu sein scheint. In nur 60 Tagen ist es ein Jahr. Werden wir sie je wiedersehen?

Im Büro erzeugt die Klimaanlage in unserem Stockwerk ein dumpf brummendes Geräusch. Ich versuche zu arbeiten, aber immer wieder muss ich genauer hinhören, um mich zu vergewissern, dass es eben nur die Klimaanlage ist und nicht der Lärm von Kampfflugzeugen.

2 3 4 Einatmen
2 3 4 Luft anhalten
2 3 4 5 6 7 Ausatmen
Wiederholen, am besten den ganzen Tag