Mittwoch, 14. Juli 2021

Proportionen


Urlaub bedeutet für mich immer auch Stress. An was man alles denken muss! Die vielen Vorbereitungen! Die Reservationen, letzte Besorgungen, das Haus und der Garten wollen versorgt sein. Auch Vorfreude ist eine Art Stress, wenn auch positiver Art. Es ist wahr, dass man ein Leben erstreben sollte, von dem man gar keinen Urlaub braucht. Aber davon träume ich bis anhin nur. Aussteigerabsichten, die täglich aufgeschoben werden.

Noch mehr als der bevorstehende Urlaub bereitet mir ein Projekt an der Arbeit schlaflose Nächte. Ein Projekt, das viel zu gross ist für mich. Und das viel zu schnell vorangetrieben wird. Ja, das eigentlich in vollem Karacho gegen die Wand getrieben wird. Die Katastrophe ist absehbar. Trotzdem gebe ich mir grosse Mühe, mein Bestes daranzugeben. Und mir dabei immer wieder klarzumachen, dass die Verantwortung für das neue Dokumentensystem nicht alleine auf meinen Schultern liegt.

Aber nachts entziehen sich die Gedanken meiner Kontrolle. Dann liege ich wach, weil die Bedenken und Zweifel in meinem Kopf wilde Reigen tanzen und den Schlaf fernhalten.

Erst beim Laufen am Morgen werden die Sorgen wieder übersichtlich und unscheinbar.

Heute Morgen führt meine Laufrunde einmal mehr zum Friedhof am entfernten Ende unseres Nachbardorfes. Ich mag diesen Ort der letzten Ruhe, der mit wunderbarer Aussicht auf einer kleinen Anhöhe liegt. Umgeben von schattigen Hainen und Feldern, die je nach Jahreszeit bestellt werden, hat dieser Ort – besonders zu früher Morgenstunde – eine besondere Ausstrahlung. An den hinteren Teil des Friedhofs grenzend liegt ein kleines Naturschutzgebiet, das von hohem Schilf überwachsen für Menschen unbegehbar ist. Vielleicht tanzen dort nachts die toten Seelen. Jetzt quaken Frösche ihr lautes Morgenkonzert. Es wird ein heisser Tag. Die sich bis zum Horizont ausdehnenden Felder liegen im Dunst. Heute setze ich mich auf eine Bank und schaue über die Gräber hinweg der aufgehenden Sonne zu.

Eines Tages wird auch an mich nur noch ein Stein mit eingraviertem Namen erinnern. Die Sonne wird wohl weiterhin jeden Morgen aufgehen. Die Erde wird sich weiter drehen (Vielleicht... Wer weiss, so wie es im Moment mit dem Klimawandel und den Pandemien aussieht, scheint das System doch ziemlich aus dem Gleichgewicht geraten zu sein). Niemand wird mehr an mich denken, ausser vielleicht meine Liebsten.

Mit dieser altbekannten Erkenntnis, die ich mir ab und zu erneut vor Augen halten muss, mache ich mich auf den Heimweg. Mit neuen Kräften, das Projekt an meiner Arbeit gar nicht so wichtig zu nehmen. Mit dem Vorsatz, mir immer wieder zu vergegenwärtigen, dass ich nur ein winziges Rädchen in diesem grossen Ganzen bin. 
Und den Urlaub werde ich, wenn der Vorbereitungsstress erst vorbei ist, so richtig geniessen!

Dienstag, 22. Juni 2021

Pfeffer und Salz

Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die die empfohlene Länge für einen Blogartikel sprengen. Wenn Sie jedoch wissen möchten, wie verrückt das Leben in Israel sein kann, dann lesen Sie trotzdem.


Etwa ein halbes Jahr nachdem sie eingezogen worden ist, bestätigt sich, was Lianne schon vermutet hatte: Die Aufgabe, die der jungen Soldatin im Überwachungszentrum der Marine zugeteilt worden ist, ist enttäuschend. Das stundenlange auf-den-Bildschirm-Glotzen ist langweilig, es entspricht weder ihrer Persönlichkeit noch ihren Fähigkeiten. Auch das Verhältnis mit den neuen Freundinnen, mit denen sie nun ihre Tage und Nächte verbringen muss, ohne sich auch nur eine Minute zurückziehen zu können, ist noch alles andere als vertraulich.

Aber daran ist nichts zu ändern. Es gilt, in den zwei Jahren, die sie für den Staat Israel opfern muss, das Beste aus den gegebenen Umständen zu machen. Immerhin absolviert sie ihren Dienst in Eilat, der Touristenstadt am roten Meer. Das hatte sie so gewünscht – auch wenn für die Hin- und Herreise in die 360 Kilometer (das entspricht in Europa ungefähr der Strecke Mulhouse-Mailand) entfernte, im südlichsten Zipfel Israels liegende Stadt ein beachtlicher Teil ihres Urlaubs draufgehen wird .

Die jeweils zwei Wochen bis zum freien Wochenende verlaufen zäh. Am Anfang meist noch gutgelaunt, schlägt ihre Stimmung jeweils in der Halbzeit im „Gefängnis“ um. In der zweiten Woche wird ihre Stimme am Telefon leiser und bedrückter und oft tränenerstickt. Lianne braucht die Wochenenden zu Hause dringend, um sich von der Anspannung zu befreien und wieder Energie zu schöpfen.
Aber auch hier ist ihre persönliche Meinung nicht gefragt. Immer wieder stösst sie an ihre Grenzen, immer wieder müssen diese noch weiter ausgedehnt werden. Aber mit allem Schmerz, auch für die Eltern – Ich bin dem israelischen Militär zutiefst dankbar, dass alles, das wir in der Erziehung unseres etwas verwöhnten Nesthäkchens falsch gemacht haben, in wenigen Monaten im Schnellverfahren auskuriert worden ist. In den Wochen seit ihrem Einrücktermin haben wir mitverfolgen können, wie sich das unerfahrene, fast noch kindliche Mädchen in eine willensstarke und selbständige junge Frau verwandelt hat. Wir Eltern hätte das nie so gründlich hingebracht!


Korvetten INS Magen und INS Oz in Eilat

Auf das verlängerte Feiertagswochenende Mitte Mai freute sich Lianne erwartungsgemäss besonders. Die Aussicht auf Urlaub hielt sie bei Kraft, die Tage zu bewältigen – trotz schikanierenden Befehlen, ermüdenden Nachtschichten, anstrengenden Prüfungen und nervenaufreibenden Auseinandersetzungen mit den Kolleginnen.

Doch die Hamas machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Dann folgten auf die Eskalation des Raketenterrors aus dem Gazastreifen auch noch pogromartige Ausschreitungen israelischer Araber. Arabische Städte und Straßen, die an arabischen Ortschaften vorbeiführen, wurden im ganzen Land über mehrere Tage hinweg zu lebensgefährlichen Fallen. Auch die arabisch-jüdisch gemischten Städte wurden von Ausschreitungen erschüttert. Wer nicht auf die Strasse musste, blieb zu Hause. Kaum waren die Corona-bedingten Einschränkungen gelockert worden, hatte wir nun erneut Hausarrest.
Mit dem öffentlichen Verkehr zu reisen war gefährlich, besonders für Soldaten in Uniform. Dann wurde, was Anfang Woche nur eine böse Vorahnung war, bald zur schrecklichen Tatsache: kompromisslose Ausgangssperre für Soldaten! Die fünf Tage heiss ersehnter Feiertagsurlaub hatten sich für Lianne soeben in Luft aufgelöst.
Grenzenlos enttäuscht schluchzte Lianne am Mittwochabend ins Telefon. Sie war am Ende ihrer Kräfte, konnte kein Fünkchen Licht mehr sehen im Dunkel ihres Elends. Aber schon im Verlaufe des Donnerstags versuchte sie sich so gut wie möglich mit ihrem traurigen Schicksal abzufinden. Sie konsultierte mich – immer wieder von Weinanfällen geschüttelt – mehrere Male als Fachfrau für Wäschesortieren und Waschmaschinenbedienung.
Während Lianne sich im fernen Eilat daran schickte, für frisch gewaschene Uniformen und Unterwäsche zu sorgen, nahmen die Katastrophen anderweitig ihren Lauf. 
Aus dem Gazastreifen wurden weiterhin hunderte Raketen täglich nach Israel gefeuert. 
In den gemischt jüdisch-arabischen Städten randalierte wütender Mob auf den Strassen.

Und – mein schon lange unheilbar kranker Schwiegervater wurde am Morgen desselben Tages nach einem Herzinfarkt ins Spital eingeliefert. Er war nicht mehr bei Bewusstsein und wir befürchteten das Schlimmste. Schweren Herzens informierten wir unsere Kinder und Lianne bemühte sich um eine Sonderbewilligung, um trotz Ausgangssperre nach Hause zu reisen. Nach dem zu erwartenden bürokratischen Hin und Her hielt sie gegen Abend den befreienden Fackel (=offizielles Schreiben, schweizerdeutsch) in den Händen. Sie musste sich jedoch verpflichten, auf keinen Fall die öffentlichen Verkehrsmittel durch die Negev-Wüste zu benutzen. Dafür wollte der Vorgesetzte bei der gegenwärtigen Situation keine Verantwortung übernehmen, die Reise musste per Flug erfolgen. Das war an sich kein Problem, Flugtickets sind für Soldaten ermässigt und absolut erschwinglich. Aber ich muss gestehen, als Lianne um 18:15 die Erlaubnis erhielt, nach Hause zu reisen, glaubte ich nicht, das sie es auf den letzten Flug um 19:30 Uhr nach Tel-Aviv schaffen würde. Sie hatte ja noch nicht mal ein Ticket und bei der zentralen Nummer der Fluggesellschaft beantwortete niemand mehr das Telefon.


Aber dem kleinen Mädchen, das vor knapp einem Jahr noch zu unsicher war, um mit dem Bus von unserem Wohnort in die Nachbarstadt zu fahren, waren nun Flügel gewachsen. Sie schaffte es in einer knappen Stunde, ihre Siebensachen in die Tasche zu schmeissen, mit dem Taxi zum ausserhalb der Stadt liegenden Flughafen zu fahren, den Taxifahrer zu überzeugen, dass die letzten Shekel Bargeld in ihrem Besitz als Entgelt genügen mussten, am Schalter mit der Kreditkarte ein Flugticket zu kaufen und – abzuheben....

Aber mit der Landung im Flughafen Ben-Gurion fing die wahre Odyssee erst an. „Mein Etui mit dem Militärausweis und der Kreditkarte ist verloren gegangen...“, flüsterte Lianne völlig erschöpft ins Telefon. Eine Kreditkarte zu verlieren ist lästig, aber keine grosse Katastrophe. Ganz anders verhält es sich mit dem Militärausweis. Bei dessen Verlust droht ein Gerichtsverfahren und eine Gefängnisstrafe. Jeder Soldat ist darauf gedrillt, seinen persönlichen Ausweis wie seinen Augapfel zu hüten. Na ja, immerhin fast jeder.
Das Flughafenpersonal aber machte – nach dem letzten Flug eines langen Arbeitstages – kein grosses Aufheben um ein verlorenes Etui. Ob die Putzmannschaft, die nun das Flugzeug reinigte, wirklich danach suchte, werden wir wohl nie in Erfahrung bringen. Der Ausweis war unauffindbar. Und der letzte Shuttlebus zum Flugbahnhof und die geplante Bahn nach Hause unterdessen verpasst. Erst weitere Tränen bewegten das Personal dazu, speziell für Lianne doch noch einen Shuttlebus zu organisieren. Jemand gab der erbärmlich schluchzenden Soldatin, die die IDF alles andere als würdig repräsentierte, einige Shekel für die Bahn – da ja Kreditkarte weg und bargeldlos.

Die Fahrt im privaten Shuttlebus in der Dunkelheit, nur der Fahrer und eine übermüdete Soldatin mit tränenverquollenen Augen muss wohl an sich schon absurd gewesen sein. Dann erfolgte der Supergau: Luftschutzalarm! Aus dem Gazastreifen hatte die Hamas Raketen mit Ziel Ben-Gurion Flughafen abgefeuert. Alle Flughafenbesucher mussten in weniger als einer Minute den Schutzraum aufsuchen. Jetzt liess der Chauffeur den Tacho nach oben krachen und legte den Bus quietschend in die Kurven. Im Terminal stürzten die beiden Schicksalsgenossen aus dem Bus und folgten den aufgeregten Anweisungen des Sicherheitspersonals in den Schutzraum im Untergeschoss des Flughafens, zusammen mit Dutzenden weiteren um ihr Leben bangenden Reisenden.

Dass Lianne nach der Entwarnung im weitläufigen Flughafengelände noch verloren ging, ist nun schon fast nicht mehr erwähnenswert. Schlussendlich fand sie dank hilfreicher Menschen zum Ausgang zurück. Dort warteten WIR auf sie. Die WhatsApp-Meldungen hatten sich zu überschlagen begonnen und wurden immer verwirrender, also setzten wir uns spontan ins Auto und fuhren zum nicht gerade in unserer Nähe liegenden Flughafen.
Für die nachfolgenden Zeilen wird man wohl in Europa kaum Verständnis aufbringen können, aber in Israel sind sie bittere Realität. In diesen Tagen herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. An bestimmten Orten konnte es lebensbedrohlich werden, Menschen waren gelyncht worden. Also fuhren Eyal und ich, für alle Fälle gewappnet, gemeinsam an den Flughafen: Ich am Steuer, er mit der – nach seiner Offizierslaufbahn im israelischen Militär rechtlich erworbenen – Pistole in Griffbereitschaft.


Schlussendlich war Lianne sicher zu Hause angekommen. Sie hatte nach den Erlebnissen der letzten Tage keine Tränen mehr und plumpste erschöpft ins Bett. Glücklicherweise wurde ihr Militärausweis am nächsten Morgen im Flughafen Eilat gefunden.
Mein Schwiegervater lag einige Tage unverändert im Koma. Lianne erholte sich zu Hause von den Strapazen und wurde wieder im Dienst erwartet. Auch für die Rückreise wählte sie den Luftweg, das war am einfachsten, um den am Flughafen in Eilat hinterlegten Ausweis abzuholen.

Während Lianne zurück nach Eilat flog, trat Eyals Vater seine letzte Reise an. 

Y.L., sel. A.

Die Nachricht über den Tod ihres Grossvaters erreichte sie kurz nach der Landung. Lianne hatte gerade Zeit, eine Runde in der Militärbasis zu drehen, um erneut eine Sonderbewilligung einzuholen. Dann machte sie sich umgehend auf den Rückweg nach Norden. Diesmal reiste sie mit Bus und Zug und ich konnte sie um Mitternacht in Tel-Aviv von der Bahn abholen. Sie war an einem Tag einmal Eilat retour gereist, um am nächsten Morgen an der Beerdigung teilzunehmen.


Beim erneuten Durchlesen obiger Zeilen erschrecke ich selbst. Welche Rabenmutter setzt ihre Kinder solch absurden Gefahren und Situationen aus? Noch dazu, wenn sie einen Schweizer Pass in der Tasche hat? 

Wir hätten ein ruhiges Leben haben können. Manchmal sehne ich mich danach. Aber ich sehe auch mit Genugtuung die selbstbewussten, lebensfrohen, aufrechten jungen Menschen, die Israel und auch wir in unserer Familie hervorgebracht haben. Erfahrungen, seien sie erfreulich, erschreckend, beängstigend, erschütternd – sind letzten Endes bereichernd. Sie sind das Pfeffer und Salz in unserem Leben. Dann noch etwas Sonne, Meer, Dattelpalmen und Wassermelone dazu – und es ist gut so. 

Irgendwann wird auch Frieden sein, aber vielleicht erst in einem anderen Leben.

Sonntag, 13. Juni 2021

Wenn man eine Lüge oft genug wiederholt...

Auf diesem Blog geht es meist leicht bis seicht und manchmal lustig zu. Die nachstehenden Zeilen sind etwas weniger unterhaltsam. Bitte lesen Sie aber deswegen nicht weg. Es liegt mir am Herzen.

Man sollte sich als Israeli wirklich einen Deut um die Presse in Europa scheren. Der weitverbreitete und stillschweigend allgemein gängig gewordene Anti-Israelische Ton bereitet nichts als Ärger. Fast jedes Stückchen Information, jeder Artikel, jeder Leserbrief ist für mich so entmutigend und niederschmetternd wie eine Ohrfeige vor einem Publikum, in welchem keiner sich rührt. Leider haben viele europäische Medienkonsumenten gar keine Ahnung, mit welchen Zerrbildern oder Lügen sie abgefüttert werden. Ich weiss das alles – und tappe doch immer wieder in dieselbe Falle.

Über Facebook gerate ich an ein kurzes, trendiges und spassig aufgemachtes Video von Galileo, dem Wissensmagazin des Privatsenders ProSieben. Zehn Fragen an einen Palästinenser. In knapp zehn Minuten werden dem palästinensischen Kaffeebesitzer Nidal in Berlin zehn Fragen gestellt. Von einem Wissensmagazin erwarte ich objektive Berichterstattung, deshalb mache ich mich guter Hoffnung daran, mich weiterzubilden. Umso unverfrorener werden mir umgehend Lügen, Unterlassungen und Ungereimtheiten um die Ohren geschlagen. Zunehmend verärgert und schockiert höre ich mir trotzdem alle zehn Fragen und Antworten an. Ach, ich weiss – das Video, das wichtige Informationen einfach weglässt und den Palästinenser unverschämt in die Kamera lügen lässt, ist nur ein verschwindend kleines Tröpfchen in einem Meer von verzerrten Berichten und Falschinformationen – und doch lässt es mir nun keine Ruhe.

Bei der zweiten Frage „Was ist so wichtig an Jerusalem?“ wird von der Moderation folgende simplifizierte Hintergrundinformation eingeblendet, untermalt von einer geografischen Skizze: „Bei der Gründung Israels 1948 wird Israel geteilt, ins israelische Westjerusalem und ins arabische Ostjerusalem, das Israel 1967 annektiert“. Auf der eingeblendeten Karte wird zur Versinnbildlichung grafisch aufgezeigt, wie sich Israel in den arabischen Teil Jerusalems ausweitet und sich diesen 1967 skrupellos einverleibt.

Der Satz lässt nicht viele Interpretationen offen, er stellt als unanfechtbare Tatsache dar, dass sich Israel 1967 das arabische Ostjerusalem aneignet und das ist – so ist jedermann klar – eine niederträchtige Aktion. Schliesslich hat das palästinensische Volk auch Recht auf ein bisschen Land, nicht wahr?

Aber – wohin sind eigentlich in der Erklärung die Jahre 1948 bis 1967 verschwunden? Warum wird mit keinem Wort erwähnt, wie es genau zum arabischen Ostjerusalem gekommen und was dort in den Jahren bis zum Sechstagekrieg passiert ist?

Fakt ist: Der ursprüngliche UN-Teilungsplan beinhaltete die Beendigung des britischen Mandats über Palästina und sah eine Zwei-Staaten-Lösung vor: Einen Staat für Juden und einen für Araber, wobei Jerusalem unter internationale Kontrolle gestellt werden sollte. Die Araber waren damit NICHT einverstanden und sechs arabische Staaten griffen den soeben ausgerufenen jungen Staat Israel an. Nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 besetzte Jordanien Jerusalem bis 1967. (Hier muss noch angefügt werden, dass die arabische Bevölkerung Jordaniens zu etwa 60% aus Arabern palästinensischer Abstammung besteht, dass also Jordanien eigentlich ein palästinensischer Staat ist.)

In den 19 Jahren jordanischer Besetzung Jerusalems wurde Juden der Zugang zu allen jüdischen religiösen Stätten verboten, sie wurden aus der Stadt vertrieben oder in Gefängnisse gesperrt. Synagogen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört und alle Nichtmuslime – auch Christen – wurden absichtlich und hartnäckig verfolgt und diskriminiert. Nach der Vertreibung der jüdischen Bewohner der Altstadt erlaubte Jordanien arabischen muslimischen Flüchtlingen, sich im verlassenen jüdischen Viertel Jerusalems niederzulassen. Mehr dazu hier.

Soviel zu den 19 Jahren, die im schnittigen Galileo-Video einfach weggelassen werden. Mehr muss man dazu nicht sagen. Mir stehen von dieser stillschweigenden Weglassung die Haare zu Berge.

Seitdem Israel im Sechstagekrieg 1967 die Jerusalemer Altstadt von der jordanischen Besetzung befreite und Jerusalem zu Gross-Israel gehört, werden die muslimischen Heiligen Stätten vom Waqf, einer islamischen Stiftung, verwaltet und die Benutzung dieser Stätten ist für jüdische Gebete (weiterhin) verboten. Aber sonst können die Muslime, die verschiedenen christlichen Gruppierungen und alle religiösen Minderheiten (Tscherkessen, Drusen, usw.) ihre Religionen in der Jerusalemer Altstadt ohne Einschränkungen ausüben.

Dadurch, dass diese – und viele weitere wichtige Informationen – in dem Video weggelassen und verzerrt oder falsch dargestellt werden, entsteht einmal mehr der Eindruck, dass Israel der böse Aggressor und die Palästinenser die eigentlich friedliebenden armen Opfer sind.

Ich weiss, viele Menschen in Europa haben die Antisemitismus-Keule satt. Dabei schreit es zum Himmel, wie sehr die Lügen, Unterlassungen und Falschinformationen in den europäischen Medien der antijüdischen Propaganda ab 1933 ähnlich sind – in neuer, moderner, abgewandelter und der Zeit angepassten Form. Schon Goebbels soll ja gesagt haben: „Die Wahrheit ist der Todfeind der Lüge, und daher ist die Wahrheit der größte Feind des Staates. Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben.“

Liebe Leser, wenn Sie wirklich Interesse an den Hintergründen des Nahostkonflikts haben und sich eine Meinung bilden möchten, besuchen Sie Israel, besuchen Sie auch die palästinensischen Gebiete, meinetwegen den Gazastreifen. Sprechen Sie mit ortsansässisgen Menschen, lesen Sie israelische und arabische Zeitungen. Informieren Sie sich über die historischen Begebenheiten. Wenn all das nicht im Bereiche ihrer Möglichkeiten liegt, suchen Sie sich bitte ein anderes Interessengebiet. Spielen Sie Golf, lernen Sie Stricken. Aber konsumieren Sie um Himmels willen keine europäischen Medien zum Thema Nahostkonflikt!

Freitag, 14. Mai 2021

Das Bombenteam


Nach dem letzten Meeting im Büro breche ich umgehend auf zum abgemachten Treffpunkt. Ich bin müde nach dem langen Arbeitstag, freue mich aber doch auf ein erstes Wiedersehen mit Freundinnen nach der Corona-Pause. Wir treffen uns im "Kaffee und Meer", über welches ich früher schon berichtet habe. Es gibt viel zu erzählen. Die Kinder sind schon erwachsen, bereiten uns aber immer noch Sorgen. Eine Freundin lässt sich scheiden, sie hat gerade eine eigene Wohnung gekauft. Wir trinken Wein und lachen, alles mit Blick auf die sich im Meer ertränkende Sonne. Allzu erleichtert über die neue Normalität sind wir aber nicht, denn die letzten Tage waren unruhig. Im Süden hatte die Hamas wieder vermehrt Raketen aus dem Gazastreifen abgeschossen, in Jerusalem soll wütender Mob auf den Strassen sein Unwesen treiben.



Kurz nach Sonnenuntergang ziehen wir von den improvisierten Campingstühlen an einen endlich frei gewordenen Tisch um. Als kurz darauf das markdurchdringende Heulen losgeht, schauen wir uns nur für den Bruchteil einer Sekunde verständnislos an, dann ist allen sofort klar, was los ist. Vor Sekunden noch gemütlich auf Strandstühlen und Decken sitzend, ist nun jedermann unmittelbar auf den Beinen, vor allem die Eltern mit Kindern. Wir älteren reagieren etwas langsamer und bleiben gelähmt sitzen, atemlos wartend was nun folgen würde. Wenige Sekunden später geht das Spektakel am Himmel los. Feuerwerk in allen Richtungen. Die Sirenen ertönen sowohl aus dem Norden als auch aus dem Süden. Hier auf der Klippe am Meer haben wir ungestörte Sicht auf die gesamte Katastrophe, die sich im Luftraum über den naheliegenden Ortschaften ausbreitet. 
Die Chance, dass uns hier eines der Geschosse treffen würde ist gering, aber sie besteht. Ob wir wohl alle fünf unter dem schweren Holztisch Platz finden, wenn nötig? Wo sollten wir hin, um Schutz zu suchen? Wären wir unterwegs sicherer? Oder Zuhause? Nun sind auch wir auf den Beinen. Aber keine der Fluchtalternativen, die wir uns erdenken, scheint Sicherheit zu garantieren. Wir werden das Bombenspektakel notgedrungen von hier verfolgen. Alle hängen am Telefon oder in den Familien-WhatsApp. Über Tel-Aviv – so ungefähr in der Richtung des Ortes, wo meine Tochter gerade arbeitet – ist der Himmel von den Riesen-Sternschnuppen hell erleuchtet. In nördlicher Richtung – Netanya – mehr oder weniger dasselbe. Dort ist Eyal. Starke Detonationen und Sirenengeheul durchdringen Mark und Bein. Leute rufen durcheinander. Nach langen Minuten wird es ruhiger, aber an ein Gespräch ist nicht mehr zu denken. Wir bestellen mehr Wein und setzten uns wieder hin. Alle reden laut durcheinander und telefonieren mit Familienmitgliedern. Die meinen sind alle in Sicherheit, das weiss ich nach einigen Anrufen. Kurz darauf fängt das Geheule und das Feuerwerk von neuem an. Und das noch mehrere Male, über eine längere Zeitspanne. Die Inhaber des Getränkekiosks haben unterdessen aufgeräumt und die Kasse geschlossen, verteilen aber noch den restlichen Wein. Von Gesprächen mit Angehörigen und den wenigen hier noch Anwesenden werden Behauptungen laut, dass es Einschläge in Netanya und sogar in meinem Nachbardorf gegeben haben soll. Aber im Moment herrscht nur ein heilloses Durcheinander und niemand weiss Genaueres.

Mehr als eine Stunde später scheint sich die Lage beruhigt zu haben. Das gemeinsame Durchstehen dieser Schreckmomente hat uns Freundinnen auch nach der längeren Pause in minutenschnelle wieder zusammengeschweisst. Deshalb bleiben wir noch länger im Dunkeln sitzen, auch als die letzten Gäste verschwunden sind, der Getränkekiosk weggefahren und es plötzlich gespenstig ruhig ist. Dann brechen auch wir endlich auf.

Als wir uns verabschieden richtet eine der Freundinnen eine neue WhatsApp-Gruppe ein. Wir möchten uns in nächster Zeit wieder öfter treffen, nun, da ja nach Corona alles wieder beim Alten ist. Die WhatsApp-Gruppe bekommt den Namen „das Bombenteam“.


Diese Zeilen sind die Wiedergabe eines Schreckmomentes, so wie ich ihn am vergangenen Dienstagabend erlebt habe. Zu den weiteren Geschehnissen in Israel in diesen Tagen und den Hintergründen kann ich gerade nichts schreiben. Es ist alles zu viel, um es irgendwie zu verarbeiten.




Sonntag, 18. April 2021

Kein Spaziergang




„Zu Fuss nach Jerusalem“ – ich bin sofort Feuer und Flamme, als ich dieses Buch in den Händen halte und den Klappentext lese. Eine Pilgerwanderung von der Schweiz nach Jerusalem! Ich bin hingerissen – was für ein grossartiges Unternehmen! Wenn man Corona-bedingt nicht fliegen kann... Warum nicht einfach gehen? Zu Fuss an sein Ziel zu gelangen wäre aber nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein sinnvolles Lebensereignis, eine tiefgreifende Selbsterfahrung. Denn – es wohnen ja zwei Seelen, ach! in meiner Brust: eine schweizerische und eine israelische. Wandernd den Weg und die Distanz zwischen den beiden Ländern zu erfahren! Zu Fuss eine Verbindung zwischen meinen beiden Heimaten zu schaffen! Ich bin voll und ganz von der Idee begeistert. Noch während ich die Einleitung lese möchte ich sofort meine Kollegin, die Reiseleiterin, anrufen und sie bitten, mich auf dieser Reise zu begleiten und alles Notwendige in die Wege zu leiten. Schliesslich steht auch sie mit einem Fuss in der Schweiz und dem anderen hier in meinem israelischen Nachbardorf. Und auch sie ist eine leidenschaftliche Wandererin. Aber im Gegensatz zu mir kann sie Karten lesen und sehr gut organisieren. Natürlich würden wir in umgekehrter Richtung gehen: ab Israel zu Fuss in die Schweiz. Die Route über Syrien, die Türkei und Osteuropa bis in die Schweiz ist auf den inneren Buchdeckeln detailgetreu abgebildet. Wir müssten fast nur noch den Rucksack packen und loswandern. Ein Jahr Urlaub nehmen für dieses Unterfangen – oh ja bitte, das käme jetzt gerade zur rechten Zeit! Sollen sich doch die undankbaren Idioten im Büro endlich selbst um ihren Kram kümmern. Für mich ist es jetzt wirklich höchste Zeit, etwas Sinnvolles zu unternehmen, anstatt meine wertvollen Tage zu verplempern.

Als ich zu lesen beginne, stellt sich nach wenigen Seiten die Ernüchterung ein. Tagelanges monotones Gehen an lärmenden Autostrassen entlang. Über Leitplanken klettern, um mehrspurige Verkehrsknoten zu überqueren. Durch schmutzige Industriegebiete und triste Vorstädte marschieren. Das ist nicht eine erquickende Wanderung auf wildromantischen Naturwegen. Je weiter entfernt von Europa desto spärlicher werden die Übernachtungsmöglichkeiten. Sogar das Angebot an käuflichen Esswaren wird problematisch. Und dann das Kriegsgebiet Syrien. Vom Geheimdienst verfolgt und bespitzelt, von kriegserfahrenen Menschen bedroht, die vor nichts mehr Angst haben...

Als der Autor und seine drei Pilgerfreunde in Israel eintreffen und in religiöser Euphorie die heiligen Stätten besuchen, klappe ich das Buch ernüchtert zu. Man muss wohl sehr naiv oder grenzenlos religiös verklärt sein, um sich überhaupt auf so eine Entreprise einzulassen. Beides trifft meines Erachtens auf den Autoren zu. Auf mich aber eher weniger. Schade. Das Unterfangen bleibt ein Traum.

Sonntag, 4. April 2021

Leben danach


Am Schabbat beschliessen Eyal und ich gegen Mittag spontan, nach Jerusalem zu fahren. Jerusalem, die Stadt mit der faszinierenden Ausstrahlung ist immer eine Reise wert und ich war seit Anfang der Pandemie nicht mehr dort. Aber jetzt, bei einer Impfrate von über 60 Prozent und sehr erfreulichen negativen Fallzahlen, herrscht eine frühlingshafte aufregende „Nach-Corona“-Stimmung. Was in anderen (Schweizer) Blogs noch als 1. April-Scherz dargestellt wird, ist bei uns wieder möglich: Die Restaurants und Märkte sind geöffnet, man darf in der Stadt flanieren und sich mehr oder weniger sorglos und unbegrenzt ins Getümmel stürzen.

Knapp zwei Stunden nach unserem spontanen Entschluss finden wir in Jerusalem einen Parkplatz. Dann verlässt mich für einen Moment die Freude auf den Ausflug. Es ist ja immer noch Maskenpflicht! Diskussionen über einen bald möglichen Maskenverzicht sollen zwar schon im Gange sein, aber noch ist es nicht so weit. Ich habe die erstickenden Dinger nie leiden können, vielleicht gerade, weil ich fast nur noch zu Hause weilte und sie ganz selten tragen musste. Und jetzt hier – endlich draussen! – sollte ein Stück Stoff mich davon abhalten, frische Frühlingsluft zu atmen?

Im Schabbat-ruhigen Altstadtnahen Viertel, in welchem wir unseren Ausflug starten, sind über Mittag nur wenige Leute auf der Strasse und hier eine Maske zu tragen wäre doch einfach lächerlich. Ich beschliesse aufmüpfig, dass ich mir die Freude von dieser lästigen Gesichtsbarriere nicht verderben lasse. Es ist endlich an der Zeit, dass wir uns wieder ans maskenfreie Auftreten gewöhnen. Schliesslich bin auch ich vorbildlich geimpft. Ich trage frech Lippenstift auf und stecke die Maske in die Hosentasche, dann ziehen wir los.



Vorbei an der eindrucksvollen russisch-orthodoxen Dreifaltigkeitskathedrale mit ihren goldenen Kuppeldächern marschieren wir in Richtung Altstadt. Bei angenehm kühlem Frühlingswetter ist ein Besuch in dieser Stadt mit ihrem exotischen Flair das Abenteuer, das in diesen Tagen einer Auslandsreise am nächsten kommt.


 
In den engen Marktgassen im arabischen Viertel tümmeln sich erstaunlich viele Leute. Um Touristen kann es sich nicht handeln, aber aus mir unerklärlichen Gründen sind doch viele fremde Sprachen zu hören: Englisch, Russisch, Spanisch. Wir drehen eine Runde durch die Grabeskirche, in welcher heute, einen Tag vor Ostern, eine besonders spirituelle Stimmung zu herrschen scheint.

Aber vom Beten allein kann man nicht leben, also verschlingen wir beim Damaskustor ganz weltlich eine der besten Falafel Jerusalems – obwohl wir noch gar nicht hungrig sind. Die letzten Tropfen aromatischer Tahina aus den Mundwinkeln leckend staunen wir auf dem Gemüsemarkt über frische Kichererbsen, die sich zu dieser Jahreszeit in die Berge von grünen ungeschälten Mandeln reihen, allesamt noch in ihren zartgrünen Hülsen.




Unterwegs in einer der engen Gassen schwillt der Besucherstrom in der uns entgegenkommenden Richtung plötzlich erstaunlich an. Hunderte von Menschen strömen uns entgegen und das Vorwärtskommen wird zum fast unmöglichen Unterfangen. Jetzt wird mir ohne Maske doch etwas mulmig. Viele der uns Entgegenkommenden tragen brav Masken über Mund und Nase, viele aber auch nur nachlässig am Kinn und eine bemerkenswerte Zahl ist so frech wie wir und präsentiert sich mit nacktem Gesicht. Na ja, jetzt ist es wohl eh schon zu spät für den Atemschutz. In dieser leicht bedrückenden Situation rasen mir ungewollt die statistischen Resultate der klinischen Studien für die verschiedenen Covid-19-Impfungen durch den Kopf. Weil mir aber die Zahlen in diesem Moment eher verschwommen und nicht besonders überzeugend erscheinen, sende ich noch ein Stossgebet gen‘ Himmel – dass mich die vielfältigen Götter Jerusalems vor Corona beschützen mögen!

Wir bleiben einige Minuten in einem Ladeneingang stehen und wundern uns, woher die Menschenmassen kommen könnten. Es sind offensichtlich Araber, also kommen sie am Schabbat nicht vom Gebet. Dagegen spricht auch, dass die Gruppe aus mehr als der Hälfte Frauen besteht. Nach einigen Minuten des Wartens und Staunens wird klar, dass der Menschenstrom nicht so bald abbrechen wird. Wir stürzen uns wieder ins Getümmel. Gegen den Strom kämpfen wir uns in Richtung österreichisches Hospiz. Schliesslich erwartet uns dort im wiedereröffneten Café Triest Wiener Melange und Apfelstrudel mit Sahne!

Immerhin - Henkersmahlzeit vor dem eventuellen Corona-Tod