Sonntag, 7. Januar 2024

Ach Israel


An den Arbeitstagen Sonntag bis Donnerstag gibt es im Büro viel zu tun und ich habe keine Zeit, mich mit dem Krieg zu befassen. Unterwegs höre ich kurz die Acht-Uhr-Nachrichten im Radio, dann stürze ich mich in meine Aufgaben. So vergehen die Tage. In der spärlichen Freizeit unternehme ich wieder zaghaft Ausflüge, und sei es nur in die nahe gelegene Shoppingmall. Ich war auch schon wieder in einem Restaurant essen, empfand den Besuch aber als sehr beklemmend und konnte den Anlass nicht geniessen. Neuerdings wage ich es auch wieder, an die Zukunft zu denken und über Urlaub zu fantasieren, obwohl die Möglichkeiten im Moment sehr eingeschränkt sind. Der Norden und der Süden Israels sind Kriegszone und das Angebot an Flügen ins Ausland ist weiterhin sehr beschränkt und teuer. Hier in Zentralisrael hat sich aber eine gewisse Normalisierung eingestellt, auch wenn diese auf äusserst wackligen Beinen steht.

Am Freitag wagen wir zum ersten Mal seit dem 7. Oktober einen Ausflug nach Tel-Aviv. Tel-Aviv war schon immer eine Parallelwelt, schon vor dem Krieg schien das Leben in dieser Stadt nach eigenen Gesetzen zu verlaufen. Jetzt, während dem Krieg, ist die Blase, in der sich Tel-Aviv befindet, noch viel auffälliger. Die Bewohner Tel-Avivs führen ihre Hunde Gassi, sitzen in den Cafés, machen mit Scootern und Fahrrädern die Strassen unsicher und erledigen, modisch, eigenwillig, oder einfach auffällig gekleidet, irgendwelche Besorgungen.

Wir treffen unsere älteren Kinder Sivan und Itay, die in Tel-Aviv leben und stürzen uns mit ihnen und Hunderten Gleichgesinnten in das Freitagsgetümmel am Carmel-Markt. Nach geduldigem Anstehen ergattern wir an einer der Marktbuden fantastische Fisch-Sandwiches, die wir etwas abseits des Rummels stehend geniessen. Wenn man ausser Acht lässt, dass viele Männer Sturmgewehre tragen, sieht das Leben in der Stadt auf den ersten Blick fast normal aus. Auch die grossen blutverschmierten Teddybären, die man als Mahnmale auf viele öffentliche Bänke gesetzt hat, und die Bilder der Geiseln, die an allen Ecken aushängen, sind zur neuen Normalität geworden. Sie lassen mich zwar jedes Mal zusammenzucken, aber wenn ich schnell wegsehe, ist es auszuhalten. Auf den "Platz der Entführten" vor dem Israel-Museum, wo sich die Angehörigen und Freunde der nach Gaza Verschleppten zusammenfinden, wage ich mich nicht.

Vom Shuk aus ziehen wir weiter durch den Künstlermarkt in der bezaubernden Nachalat Benjamin mit den alten, teils abbruchreifen Gebäuden. Wir bestaunen die fantastische Dachterrasse des faszinierenden Restaurants "The Prince". In einem der Kiosks des Florentinboulevard trinken wir zum Abschluss Kaffee, dann trennen sich unsere Wege.

Itay fährt mit dem Bus zu seinem Freund, der immer noch schwer verletzt im Spital liegt. Seit dem 14. Oktober verbringt Itay fast jeden Tag mehrere Stunden am Bett seines besten Freundes. Das ist im Moment sein hauptsächlicher Zeitvertreib, ausserdem sucht er irgendeine Arbeit, die sich mit seinem neuen Lebensinhalt vereinbaren lässt.

Sivan und ihr Freund fahren zur Siesta zurück in ihre Tel-Aviver Wohnung. Vor Einbruch des Sabbat wird Sivan Kerzen in Erinnerung an ihre ermordeten Freunde Nitzan und Lidor und an den gefallenen Roee anzünden, wie sie das jetzt jeden Freitag macht. Sivan dient seit Mitte Oktober immer noch als Reservesoldatin. Sie ist Ausbilderin von Sanitätern, verbringt im Moment ihre Tage aber hauptsächlich mit Warten. Alle Sanitäter der IDF scheinen ihr Wissen perfekt aufgefrischt zu haben und Sivan dient nur noch auf Abruf.

Lianne, unsere Jüngste, fährt mit uns nach Hause. Nachdem im Oktober der Schulunterricht einige Wochen ausgesetzt wurde, konnte sie mit etwas Verspätung doch noch eine Stelle als Schulbegleiterin eines Erstklässlers übernehmen. Auch sie lebt nun in einer neuen Realität, in der Freunde (ihre Freundin Shir) ermordet worden sind, an Israels Fronten ihr Leben riskieren (mehrere ihrer ehemaligen Klassenkameraden) oder als Geiseln der Hamas in Gaza festgehalten werden. Und in einer Realität, in der es gerade keine Zukunftsaussichten gibt. Ab und zu sehen wir in den Medien die Eltern ihres Freundes Omer, die verzweifelt auf die Rückkehr ihres schon seit drei Monaten in Gaza festgehaltenen Sohnes warten. In Tel-Aviv hängen, nebst Fotos der anderen Geiseln, einige Poster mit seinem Konterfei. Beim Anblick des bekannten Gesichtes fahren wir beide kurz zusammen, verdrängen es und leben unsere neue Routine weiter.



In Tel-Aviv, und auch in unserem Dorf etwas weiter nördlich, im Sharongebiet, merkt man nichts von den Hunderttausenden Israelis aus dem Süden und Norden des Landes, die evakuiert schon seit Monaten in Hotels und Behelfswohnungen in zentraleren Gebieten des Landes leben. Ganze Städte und Dörfer im Norden liegen leer. Im Süden sind sie gar zerstört und nun wächst nach den Winterregen bestimmt schon das Gras über die ausgebrannten Häuser und Gärten und die blutgetränkte Erde.

Über den Krieg in Gaza hören wir aus den Nachrichten und ab und zu von den eingezogenen Freunden der Kinder, wenn sie kurz auf Urlaub kommen. Die Raketenangriffe aus dem Süden sind endlich seltener geworden. Über die Silvesterböller, die am 31. Dezember pünktlich um Mitternacht erfolgten, mussten wir schon fast lachen – wenn es nicht so traurig wäre. An die täglichen Meldungen über gefallene Soldaten kann man sich nicht gewöhnen, aber auch sie scheinen zur traurigen Realität unseres Alltags zu werden.

Kürzlich habe ich in den Nachrichten gehört, dass auch in Hebron, im südlichen Westjordanland, unterirdische Hamastunnels freigelegt worden sind. Das, und anderes, meine ich, wenn ich schreibe, dass unser "neues Normal" auf wackligen Beinen steht. Wer weiss, wohin diese Tunnels im Kernland schon reichen – vielleicht bis unter unsere Füsse.

Im Norden wird die Situation stündlich brenzliger. Vorgestern haben einige Nationen begonnen, ihre nicht-libanesischen Bürger aus Beirut auszufliegen. Wir unsererseits räumen erneut den Schutzraum auf und frischen die Wasservorräte auf, die wir in den Tagen nach dem 7. Oktober bereitgestellt haben.

In den Medien lese ich über die Fortschritte Irans im Bau von Atombomben. Davor habe ich wirklich Angst. Eyal bagatellisiert die Bedrohung. Er winkt einfach ab und meint, dass ich mir darüber wirklich keine Sorgen machen müsse. Im Fall einer Atombombe würde der Tod so schnell erfolgen, dass ich nicht einmal etwas spüren würde. Doch das beruhigt mich nicht besonders, die Bilder von Nagasaki und Hiroshima sprechen eine andere Sprache.

Ich schlafe unruhig und beim Aufwachen wundere ich mich, dass der befürchtete Luftschutzalarm trotz Hunderten Geschossen aus dem Libanon bei uns bis anhin ausgeblieben ist.

Kurz vor sieben wird es schon hell und ich gehe laufen. Es ist ein wunderbar frischer Morgen nach einer regenreichen Nacht. Ich wage mich jetzt wieder aus unserem Dorf hinaus in das benachbarte Wäldchen und bin berauscht vom Duft der noch nassen Erdbeerfelder und der saftigen Fülle der Zitrusplantagen. Klementinen, Orangen und Grapefruits hängen in den regennassen Bäumen, wo ich nur hinsehe. Die letzten Kilometer bis nach Hause laufe ich mit einem kostbaren Strauss frisch gepflücktem wildem Spargel in der Hand und male mir dabei aus, was ich damit kochen werde. Wie ich diese Morgen liebe! Winter in Israel. Ach Israel!

Das ist nun unser neuer Alltag. Eine Routine auf dünnem Eis.


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