Mittwoch, 15. Mai 2024

Siamesische Zwillinge

Der Gedenktag für die gefallenen Soldaten und die Opfer von Terrorismus (Yom Hazikaron) und der Unabhängigkeitstag (Yom Haatzmaut) sind in Israel unweigerlich miteinander verbunden. Wie siamesische Zwillinge sind die zwei Tage, die wir diese Woche begangen und gefeiert haben, miteinander verwachsen: Eigentlich zwei separate Einheiten, doch schicksalshaft miteinander verkuppelt und nichtig, wären sie allein stehend. Ohne die gefallenen Soldaten gäbe es leider keinen israelischen Staat. Der israelische Staat wird wohl für immer mit Opfern von Terror verbunden sein. Der Unabhängigkeitstag wird erst gefeiert, nachdem die Bürger Israels vierundzwanzig Stunden lang der tiefsten Trauer ins Antlitz geblickt und die Gefallenen und die Opfer geehrt haben, die die Existenz des Staates überhaupt ermöglichen.

Beide Tage dauern von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang. Um 20 Uhr des Vorabends steht alles still. Zu Beginn tönen eine Minute lang nur die Sirenen in einem markdurchdringenden Dauerton. Menschen halten inne, Autos bleiben stehen, Maschinen werden abgeschaltet. Der Gedenktag, Yom HaZikaron beginnt, die Israelis beweinen ihre Toten. In unserem relativ kleinen Dorf mit knapp 7500 Einwohnern wird der Gedenktag mit einem feierlichen Anlass im offenen Amphitheater eröffnet. Die Fahne Israels wird auf Halbmast gesetzt, die Stimmung ist gedämpft und ernst, zwischen den Vorträgen wird kein Applaus geklatscht. Zu den vierzehn in früheren Attentaten und den Kriegen Israels Gefallenen reihen sich dieses Jahr in unserem Dorf vier Opfer des Hamas-Gemetzels vom 7. Oktober. Vier junge Menschen, zwischen 26 und 28 Jahre alt, die das Nova-Musikfestival besuchten, zwei von ihnen sind ehemalige Klassenkameraden meiner Kinder. Jedes der achtzehn Opfer ist mit einem grossen Bild vertreten, die Namen werden verlesen und für jedes wird ein Kranz niedergelegt. Die Schwester der ermordeten Nitzan trägt auf der Bühne ein Lied vor. Viele der zahlreichen Anwesenden, die aufmerksam den offiziellen Ansprachen, den traurigen Liedern und den Gebeten lauschen, sind uns bekannt, wir haben in diesem Dorf in den vergangenen zwanzig Jahren unsere Kinder gemeinsam grossgezogen. Alt und Jung sitzen auf den Stühlen oder im Gras, lauschen andächtig und wischen sich die Tränen weg. Diese Erinnerungskultur gehört hier schon vom Kindesalter selbstverständlich dazu und ich finde die moralischen Werte, die an diesem Tag zum Ausdruck kommen, in höchstem Grad eindrucksvoll und bewundernswert.

Am darauffolgenden Morgen finden auf allen Friedhöfen des Landes Gedenkfeiern statt und Abertausende begleiten die Angehörigen der Opfer in diesen schweren Stunden. Auch wir finden uns auf dem kleinen Friedhof unseres Dorfes ein. Es wird gebetet, Kränze werden niedergelegt. Der Vater von Nitzan spricht, stellvertretend für die Familien der Opfer und Gefallenen, mit gebrochener Stimme das Yizkor (Erinnerungs-) Gebet.

Nach dem Anlass treffe ich zum ersten Mal seit seiner Verletzung auf Alon. Obwohl Alon im Mittelpunkt des Lebens meiner Familie steht, bei einigen von uns nur in Gedanken, bei anderen im täglichen Leben, habe ich mich auf dieser Plattform nur selten über sein Schicksal geäussert (ausser kurz hier und hier). Ich weiss nicht, ob ich je mehr Worte dafür finden werde. Erst seit einigen Wochen kann Alon das Rehazentrum ab und zu verlassen und die Wochenenden wieder mit seiner Familie in ihrem Haus hier im Dorf verbringen. Den Friedhof besucht Alon im Rollstuhl, denn mit der Prothese gehen zu lernen ist ein langwieriges Unterfangen. Wie immer ist Alon von mindestens zwei seiner besten Freunde begleitet, sie haben ihn zum Friedhof gebracht, sie karren den Rollstuhl um die Gräber herum und stützen Alon beim Singen der Hatikva, der israelischen Nationalhymne, denn er lässt es sich nicht nehmen, auf einem Bein stehend seinem Land die Ehre zu erbringen. Nach der Feier gehen wir zu ihm, er winkt uns mit seinem rechten Armstumpf zu, als wäre noch eine Hand dran, wir begrüssen und umarmen ihn. Ich sage ihm, dass ich froh bin, dass er hier ist. Man weiss nicht, was man sagen soll, niemand findet Worte. Auch meine Töchter umarmen ihn und können dabei ihre Tränen nicht zurückhalten. Es ist bestimmt äusserst verdriesslich für Alon, auf seine Mitmenschen und seine Bekannten so schockierend zu wirken, aber das wird nun Teil seines langwierigen und sehr komplexen Heilungsprozesses sein. Auch für mich, für uns alle, ist es ein schwieriger Weg. 
Gerade heute startet auch die Werbekampagne, die Alon mit einer namhaften israelischen Bekleidungsfirma ins Leben gerufen hat, um das Bewusstsein für Menschen wie ihn in der Bevölkerung zu verstärken. Er und weitere Amputierte präsentieren in Zusammenarbeit mit einigen der bekanntesten israelischen Models die Mode des Labels und sie werden bald im Netz und auf allen Werbetafeln des Landes in der Öffentlichkeit zu sehen sein. Ich weiss, dass dieses Sich-Entblössen Alon alles andere als leicht fällt. Ich persönlich bin mir über meine eigenen Gefühle noch nicht im Klaren und ich versuche seit unserem Treffen am Morgen vor allem die Kraft zu finden, mich mit all diesen tief greifenden Änderungen überhaupt auseinanderzusetzen.

Nach der Zeremonie auf dem Friedhof besuchen wir die Familie von Nitzan. Sivan und Lianne verbringen den Rest des traurigen Tages dort, mit vielen weiteren Besuchern.



Erst nach diesen zutiefst traurigen und schwer ertragbaren Stunden geht der Tag am Abend in die Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstages über. Wir rappeln uns auf, um das Entstehen und die Existenz des Staates Israel zu feiern. Sivan stellt uns vor die Tatsache, dass sie für den Abend ihre Freunde zu uns zum Barbecue eingeladen hat. Deshalb unternehmen wir kurzfristig einen Wohnungstausch: Wir bekommen für eine Nacht eine Wohnung im Herzen Tel-Avivs, sie bekommt unser Haus mit Garten und Grill.

Nach einer Nacht im fremden Bett brechen Eyal und ich früh am Morgen wieder auf, in der Hoffnung, dass unser Haus von den jungen Leuten nicht abgefackelt worden ist. Nach einem schnellen Kaffee am Dizengoff-Square setzten wir uns ins Auto, denn auch wir erwarten am Mittag Gäste zum obligaten Barbecue. Doch, schlechtes Timing: kaum haben wir den Parkplatz verlassen, versperrt uns das Reinigungsmobil der Stadt Tel-Aviv die Weiterfahrt in der engen einspurigen Strasse. Wir manövrieren unser Auto wieder in die Einfahrt eines Hauses, um das Fahrzeug vorbeizulassen. Immer zu einem Spass bereit, bedeutet Eyal dem Reinigungsmann, der das Putzfahrzeug mit dem angeschlossenen Hochdruckwasserspritzer zu Fuss begleitet, doch auch noch gleich unser Auto zu säubern. Das macht der putzfreudige Mann offensichtlich gerne, er verpasst uns spontan und gratis eine intensive Rundum-Hochdruckreinigung, auf Kosten der Tel-Aviver Stadtverwaltung. Wir verabschieden uns lachend und dankend und machen uns mit blankgeputztem Auto in der noch nassen Strasse auf nach Hause. Was für eine Stadt! Was für ein wunderbares Land! In den nächsten Stunden werden wir die Unabhängigkeit Israels feiern, sofern das in Anbetracht der Ereignisse der letzten Monate möglich ist.

Mir wird an diesen zwei Tagen mehr denn je bewusst, wie kultiviert, wertvoll und von Herzen gut die Menschen dieses Landes sind und ich bin stolz, ein Teil dieses Volkes sein zu dürfen.



Das Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (OCHA) hat die Zahl der getöteten Frauen und Kinder während des seit dem 7. Oktober 2023 andauernden Krieges zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen um fast die Hälfte reduziert (Hamas manipuliert Zahl der Kriegstoten). Es mag makaber tönen, aber ich glaube nicht, dass da überhaupt jemand zählt. Wer in den Videos vom 7. Oktober gesehen hat, wie die Hamas-Terroristen den Opfern auf ihrer eigenen Seite einfach die Waffen abnehmen, über sie hinwegsteigen und sie schwerstverletzt oder tot im Feld liegen lassen, versteht, mit Kreaturen welcher Art wir zu tun haben.

Jedes unschuldige Opfer ist eines zu viel, aber die krass schwankenden Opferzahlen machen vor allem einmal mehr klar, dass alles, was die Hamas in die Öffentlichkeit posaunt, erlogene Propaganda ist. Mögen die Menschen in Europa glauben, was sie wollen: Siedler-, Zionisten-, Landraub- und Genozid-Gefasel. Ich weiss aus tiefster Überzeugung, dass keiner der 30,134 Israelis, deren wir uns an diesem Gedenktag erinnern und keines der Opfer unserer Kriegsgegner gefallen wäre, wenn es an den Israelis läge.


Donnerstag, 9. Mai 2024

Alles wird gut

Immer nur Schrecken, Horror, Trauma, Krieg. Wer will das schon lesen? Ich sollte wieder einmal über etwas anderes schreiben, ich weiss. Aber worüber? Alles "andere" scheint belanglos. Meine früheren Blogbeiträge: belanglos. Blogs, die nicht mit dem Krieg oder unserem Trauma zu tun haben: belanglos. Etwas Lustiges vielleicht? Humor ist immer gut, in jeder Situation. Aber man muss wohl beruflich Humorist sein, um jetzt noch über irgendetwas lachen zu können. Dann vielleicht – wie wäre es mit dem Holocaust, der Shoah? In Israel wurde in dieser Woche nämlich gerade der Gedenktag an die Shoah und an jüdisches Heldentum (Yom haShoah) begangen. Dieses Thema bedeutete zwar, vom Regen in die Traufe zu kommen, wäre aber bestimmt nicht belanglos. Also schreibe ich heute über die Shoah, oder genauer, über Hoffnung.

Ich habe mich, seit ich in Israel lebe, immer sehr intensiv mit der Shoah auseinandergesetzt. Unzählige Zeugenberichte habe ich gehört und es gibt wohl keinen Film über das Thema, den ich nicht gesehen habe. Aber vor allem habe ich Hunderte Bücher gelesen, die in irgendeiner Form mit der Shoah zu tun haben. Darunter natürlich die Bücher von Primo Levi, Viktor Frankl, Imre Kertész und weiter jegliche Autobiografien und Biografien, die ich nur finden konnte, u.a. von Rabbiner Israel Meir Lau, Rudolf Vrba, Noah Klieger (von Takis Würger), Edith Eva Eger und Ralf Giordano, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Doch Bücher und Filme sind eines, persönliche Konfrontation jedoch etwas anderes. Verschiedene Gelegenheiten, zu den KZ-Gedenkstätten in Europa zu reisen, habe ich immer ausgeschlagen, ahnend, dass ich den Emotionen vor Ort nicht gewachsen sein würde. Nur schon das überraschende Erscheinen des Ortsschildes "Dachau" während einer Autofahrt in der Umgebung von München hatte mich damals völlig erschüttert (Wie kann man nur an einem Ort mit dem Namen Dachau leben?) Noch viel mehr natürlich schockierten mich die Schilderungen meiner Kinder, wenn sie mir anlässlich der obligaten Reise zu den Gedenkstätten in Europa während der Oberstufe am Telefon die Aschenberge beschrieben, oder die Gaskammern, in denen die Wände vom Giftgas blau verfärbt und von den erstickenden Opfern zerkratzt sind. Ich glaube wirklich nicht, dass ich die mentalen Kräfte aufbringen könnte, diese Stätten selbst zu besuchen.

Doch seit dem 7. Oktober-Pogrom hat die Shoah für mich eine neue Bedeutung bekommen: Ich schöpfe Hoffnung aus der Wiedergeburt und der Auferstehung dieser Generation der Überlebenden. Ihr Vermächtnis des Wiederaufbaus und der Erneuerung ist etwas vom Wenigen, das mich in der desolaten Situation bestärkt, mit der wir seit dem 7. Oktober ununterbrochen konfrontiert sind.

Deshalb zögere ich keinen Augenblick, als mein Arbeitgeber eine Reise ins Holocaustmuseum Yad Vashem anbietet. Ja, ausgerechnet jetzt, da es wahrlich an traumatischen Geschichten nicht fehlt und da meine Schmerzgrenze schon längst überschritten ist – ausgerechnet jetzt ist für mich der passende Zeitpunkt für diesen Besuch.

Wie zu erwarten war, sind die Eindrücke im Museum (das ich nicht zum ersten Mal besuche) überwältigend. Dass es überhaupt zu dieser teuflischen Katastrophe kommen konnte und die ungeheuerlichen Ausmasse, das wird nie nachvollziehbar sein. Was das Hoffnung schöpfen anbetrifft, komme ich jedoch voll auf meine Kosten.

Der Überlebende Avigdor Neuman erzählt seine Geschichte. Nur schon der Gedanke an die Hölle, aus welcher der kleine alte Mann hervorgegangen ist, der hier persönlich vor mir steht, lässt mich ehrfurchtgebietend erschauern. Sein Bericht ist überwältigend. Avigdor kam als Zwölfjähriger, nach einer mehrtägigen Reise in den berüchtigten Viehwaggons, mit seiner gesamten achtköpfigen Familie nach Auschwitz-Birkenau. Sofort nach der Ankunft wurden Frauen und Kinder vergast. Der flinke Junge entkam der ersten Selektion durch den Lagerarzt Mengele, indem er sein Alter nach oben mogelte und dreist behauptete, er sei Mechaniker. Nach Monaten in der Hölle, Aufenthalten in mehreren Lagern und zwei Todesmärschen war Avigdor im Alter von knapp 14 Jahren wieder "draussen". Alleine.

Avigdor beschreibt sehr eindrücklich, dass die Tage und Monate in den Lagern hauptsächlich vom Kampf ums Überleben geprägt waren. Doch den Moment, in welchem er als knapp Vierzehnjähriger plötzlich alleine auf der Welt war und nicht die geringste Ahnung hatte, was er nun mit sich und seinem Leben anfangen sollte, umschreibt er als ebenso herausfordernd. Kurze Zeit nach der Befreiung fand Avigdor seine einzige überlebende siebzehnjährige Schwester. Sie übernimmt die Verantwortung und beschliesst, dass sie nach Palästina reisen werden. Diese Odyssee dauert weitere etwa eineinhalb Jahre.

Noch nicht einmal 18 Jahre alt, konnte sich Avigdor, der vor kurzem noch Ungeziefer zu Füssen der Nazis war, mit grossem Stolz die Uniform der israelischen Armee überziehen und im Unabhängigkeitskrieg und später in den weiteren Kriegen sein eigenes, neu gegründetes Land verteidigen. Heute hat der 93-jährige zwei Kinder, sieben Enkel und einundvierzig Urenkel.

Als Avigdor seinen einstündigen Vortrag mit den Worten abschliesst: Verzagt nicht! Alles wird gut! Wir können alles überwinden, wir können alles besiegen!, springen die 240 Zuhörer im Saal von ihren Sitzen und klatschen minutenlang stehend Beifall.

Verzagt nicht! Alles wird gut! Genau diese Worte aus dem Mund von Avigdor, der die Erneuerung aus der grössten aller Niederlagen heraus verkörpert, brauche ich jetzt so sehr. Sie bestärken meine brennende Hoffnung, dass Wiedergeburt und Unsterblichkeit des Guten, sowie Wahrheit und Freiheit stärker sind als alles andere. Für diese Worte habe ich die beschwerliche Reise ins Yad Vashem Museum (und mehr als zwei Stunden im Stau auf der Rückreise) auf mich genommen.


Am Ende des zutiefst bedrückenden Ausstellungskorridors öffnet sich der Blick auf die Umgebung Jerusalems


Abschliessend noch einige Worte von Rabbiner Jonathan Sacks, die in der heutigen Zeit erschreckend aktuell sind:

Ich werde oft gefragt: Wo war Gott in Auschwitz? Ich weiss es nicht, aber aus jüdischer Sicht ist das die falsche Frage. Die richtige Frage ist, wo war die Menschheit, als der Massenmord in Auschwitz "stattfand"? Gott hat nie gesagt, er würde uns davon abhalten, einander zu schaden. Er hat uns einen Moralkodex gegeben. In Stein gemeißelte Befehle, die uns lehren, wie wir uns selbst stoppen können. Wo war die Menschlichkeit, als alte Männer und Frauen ermordet wurden, als Millionen vergast wurden, als Kinder noch lebendig in die Flammen geworfen wurden? Die eigentliche Frage, die so schmerzlich ist, dass wir sie kaum stellen können, lautet nicht: Wo war Gott, als wir ihn anriefen, sondern, Wo waren wir, als er uns anrief? Wenn das menschliche Leben nicht mehr heilig ist, dann wird Auschwitz möglich.


Freitag, 3. Mai 2024

Wo der Schrecken an die Türe klopft




Meine Welt ist klein geworden. Büro, Haus, Garten. Einkaufen vielleicht noch. Sonst kann man und mag ich nirgendwo hin. Im Norden sind aus Sicherheitsgründen viele Orte nicht zugänglich. Im Süden ist es jetzt schon zu heiss. In Tel-Aviv kann man keinen Meter gehen, ohne an die Geiseln und die Ermordeten erinnert zu werden. Ich habe auch keine Lust auf mehr. Es fällt schwer, sich zu vergnügen, wenn man so viele traurige Geschichten im Kopf hat. Büro, Haus und Garten, das reicht. Die Welt weiter draussen ist nicht mehr zu ertragen.

In der Kommentarspalte auf Instagram, in der ich mich gegen Dieter Hallervordens "Lied" geäussert habe, antwortet mir jemand aus Deutschland: "in Gaza sind 12,300 Kinder ermordet worden. Bitte mach deine Augen auf!"
Mach die Augen auf – schreibt man mir aus Deutschland, als wäre es hier in Israel überhaupt möglich, die Augen auch nur einen Augenblick vor all dem übermächtigen Elend und den Tragödien zu verschliessen.

Mit meinen leider sehr weit geöffneten Augen sehe ich vor allem 133 Brüder und Schwestern, die in Gaza festgehalten werden und unendlich viele unfassbar tragische Schicksale von zerstörten Familien.
In der vergangenen Woche ist der Tod von zwei weiteren jungen Menschen bestätigt worden, die seit dem 7. Oktober vermisst waren. Immer wieder offenbart sich der abgrundtiefe Schrecken des Massakers. Junge Menschen wurden beim Besuch eines Musikfestivals von den Terroristen verkohlt, sodass fast keine Überreste der Leichen übrig blieben. Mehr als ein halbes Jahr waren die Angehörigen in Ungewissheit über das Verbleiben ihrer Kinder und erst jetzt konnte der Tod dieser zwei Menschen, deren unkenntliche Reste fälschlicherweise mit anderen Leichen begraben wurden, bestätigt werden.

Gestern wurde auch der Tod einer weiteren Geisel belegt, Dror Or, der Vater der Kinder Noam und Alma, die vor einigen Monaten nach 51 Tagen Gefangenschaft aus der Terror-Hölle freikamen. Das Haus der Familie im Kibbutz Be'eri wurde am 7. Oktober in Brand gesteckt, worauf die Familie mit den zwei Kindern gezwungen war, den Schutzraum zu verlassen. Die Mutter Yonat wurde wenige Tage später ermordet aufgefunden. Die entführten Kinder wussten während ihrer Gefangenschaft nicht, dass ihre Mutter nicht mehr lebt. Eine weitere Tochter war an dem schicksalsträchtigen Tag nicht zu Hause und entkam dem Massaker. Da es vom Vater Dror kein Lebenszeichen gab, hofften die drei Geschwister und die Angehörigen bis gestern, dass er lebend unter den Entführten sei. Nun hat ein Expertenkomitee bestätigt, dass auch er am 7. Oktober ermordet wurde und seine Leiche nach Gaza entführt.

Besonders erschüttert mich die Nachricht über das von der Hamas vor einer Woche veröffentlichte Propagandavideo des verschleppten Hersh Goldberg-Polin. In dem Clip sieht man den 24-Jährigen mit geschorenem Kopf, er ist leichenblass, da er vermutlich seit seiner Entführung kein Tageslicht gesehen hat. Am linken Arm fehlt die Hand. Es war das erste Lebenszeichen von Hersh seit 201 Tagen.
Am Tag des Erscheinens des Videos telefoniere ich mit meinem neunzigjährigen Vater in der Schweiz. Er erzählt von seinen gesundheitlichen Gebrechen, welche, seinem Alter entsprechend, mannigfaltig und wirklich nicht angenehm sind. Aber ich kann nur an eines denken:

Wenn du nicht ein Kind hast –

das mit Freunden ein Festival besucht und dann ein halbes Jahr verschollen ist, du von Augenzeugen hörst, dass es an dem Massaker schwer verletzt wurde, aber nicht weisst, ob es lebt oder nicht und es dann nach 201 endlosen Tagen endlich auf einem Video aus der Hölle siehst, mit verstümmeltem Arm, und du dir nicht vorstellen magst, wie es ihm mit den Verletzungen, dem Trauma und der Todesangst in Gefangenschaft geht und ob du es je wieder in die Arme nehmen wirst

– dann hast du gar nichts.

Es tut mir leid. Was hat dieses nicht endende Grauen mit mir gemacht? Mein Mitleid ist erschöpft. Ich bin abgestumpft. Ich muss mir diesen Panzer aufsetzen. Ich kann einfach nicht mehr.

So folgen bei uns die Schläge, Tag auf Tag, schon 209 Tage.

Was die "12,300 ermordeten Kinder" in Gaza anbetrifft – niemand weiss, wie viele Tote es in Gaza wirklich gibt. Die Zahlen sind gelogene Angaben der Hamas. Wie dem auch sei, seien es 50, 500, 5'000 oder 50'000 Tote: Wer eine Bande von skrupellosen Mördern und Terroristen als Regierung wählt, sollte sich nicht wundern, wenn der Schrecken eines Tages nicht nur bei den Nachbarn, sondern auch an die eigene Tür klopft.


Donnerstag, 18. April 2024

Kein bisschen dazugelernt

Nach der Erleichterung und einigen kurzen, vielleicht sogar euphorischen Momenten, die dem erfolgreich abgewehrten Angriff des Iran folgten, bricht nun wieder alles über mir zusammen. Die Angst, das unterschwellige Trauma, das kontinuierliche Leid, die Hoffnungslosigkeit, alles ist wieder da. Die Last ist schwer und es geht mir nicht gut. Niemandem in Israel geht es gut und vielen geht es viel schlechter als mir.

Die Welt der anderen in Europa und Amerika dreht sich weiter. Krisen und Kriege kommen und gehen, werden diskutiert, analysiert, politisiert und ad acta gelegt. Jetzt gerade diskutiert die Weltöffentlichkeit die möglichen Konsequenzen eines israelischen Gegenschlags, bald wird es etwas anderes sein. Bei uns aber ist immer noch Oktober 2023. Tausende Israelis haben schlimmste Traumata und Verletzungen zu bewältigen. Vor allem aber wollen wir zuerst einmal einfach unsere Leute zurück. Ich verbringe keine Stunde, ohne an die Geiseln und ihre Angehörigen zu denken. Die Kinder, die jungen Frauen, die Männer, die Alten. ALLE! Die Aussichten, sie zurückzubekommen, sind geringer denn je. Man kann sich das Leid der Angehörigen nicht ausmalen, diesen endlosen, zermürbenden, brutalen Wahnsinn.

Die Hamas-Versteher auf den Strassen Europas aber vermehren sich. Sie beschuldigen Israel, nicht aber die von den Wählern Gazas ins Amt gehobene Terrororganisation, in deren Gründungscharta die Vernichtung aller Juden als Grundgesetz verankert ist.

Im Norden Israels können weiterhin Zigtausende Israelis nicht in ihre Wohnungen zurückkehren. Städte und Dörfer stehen leer. Israel wird nicht nur aus dem Iran, sondern auch täglich aus dem Libanon, aus Jemen, Irak und Syrien beschossen. Das wird sich nicht ändern, wenn nicht irgendetwas passiert. Das „irgendetwas“ wird vermutlich nichts Angenehmes sein, also verbleiben wir weiter in lähmender Erwartung der Entwicklungen. Ausser El Al haben wieder alle Fluggesellschaften ihre Flüge storniert. Wir sitzen hier fest ohne Fluchtmöglichkeit, umringt von feindlichen Staaten.



Mitte Woche staucht mich das „Gedicht“ Dieter Hallervordens "Gaza Gaza", über das ich im Netz stolpere, total zusammen (ich verlinke es nicht). Vollkommen selbstverliebt zelebriert Hallervorden drei Minuten antisemitische Klischees vor dem Hintergrund von Propaganda-Videos der Hamas. Ich denke nicht, dass Hallervorden je mit einem einzigen Israeli oder Palästinenser gesprochen hat. Er sitzt im bequemen Deutschland und reimt sich seine Wahrheit zusammen. Israel als Apartheidstaat, die Juden als Kindermörder. Er spricht von Völkermord und mit der Aussage „Kein Mensch wird als Terrorist geboren", rechtfertigt er den Terrorismus. Klarer kann er wohl kaum ausdrücken, dass er in der Existenz Israels den Grund für die Probleme im Nahen Osten sieht.

Nun wäre ja eine einzelne verblendete Person halb so schlimm. Aber der Text entspricht dem Zeitgeist – in den Kommentarspalten jubeln ihm Tausende zu! Die wenigen Stimmen, die den Song verurteilen, sind jüdische. Doch die Juden werden allein gelassen mit der Situation.

Die Parallelen zum Judenhass in den Dreissiger Jahren sind so augenfällig, dass mir schlecht davon wird.

Ich schätze, dass Dieter Hallervorden so um die 90 Jahre alt sein muss und frage mich, mit welchen Aktivitäten er wohl seine Kindheit verbracht hat. Bei einer kurzen Suche im Netz erfahre ich, dass er 1935 geboren ist und finde folgendes, aus einem Interview vom Februar 2008:

Bild am Sonntag: Wer waren die Vorbilder Ihrer Jugend?

Dieter Hallervorden: Als 6-Jähriger: Hitler! Verführt von einer perfiden Nazi-Propaganda-Maschine.

Dieter Hallervorden – 89 Jahre und kein bisschen dazugelernt?


Sonntag, 14. April 2024

Doch kein Medien-Spin

Nach zu vielen Tagen der zermürbenden Anspannung relativiert sich meine Angst. Ich trete das Wochenende recht locker und zuversichtlich an. Vielleicht sollte man nicht auf jeden Medien-Spin hereinfallen, denke ich mir schon fast, was die Bedrohung aus dem Iran anbetrifft.



Ich freue mich über den Frühling im Garten, der am Samstagmorgen die Fenster zum Leuchten bringt. Doch am Abend spitzt sich die Lage zu. Der Sprecher der IDF und das Heimatfrontkommando ändern ab sofort die Richtlinien aufgrund der hohen Alarmbereitschaft für einen iranischen Angriff. Israel schließt für den Wochenanfang die Schulen, sagt ausserschulische Bildungsaktivitäten ab und verbietet grössere öffentliche Veranstaltungen.

Sofort ist meine Anspannung wieder auf dem Höchstpegel, aber noch viel mehr die Verwirrung. Was bedeuten die Anweisungen? Was weiss unsere Regierung? Was erwartet uns?

Wir frischen die Wasservorräte im Schutzraum auf und laden alle vorhandenen Ladegeräte für den Fall eines Stromausfalls. Was noch? Wie kann man sich auf das Unvorhersehbare vorbereiten?

Kurz bevor ich schlafen gehe, erfahren wir, dass der Iran Dutzende unbemannte Fluggeräte auf Israel abgefeuert hat. Die Eilmeldung kursiert in Sekundenschnelle durch alle WhatsApp-Gruppen und sozialen Medien. Eyals Brüder rufen an. Sie besprechen einen Katastrophenplan für die alleinlebende Schwiegermutter. Dann telefonieren wir mit Itay und Sivan in Tel-Aviv und bitten sie ausdrücklich, sofort zu uns fahren, um bei uns zu übernachten. Natürlich weigern sie sich genauso wie die Schwiegermutter. Wie für die meisten jungen Israelis sind solche Situationen leider auch für unsere Kinder nichts aussergewöhnliches. Sie sind nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen und behaupten, es würde neun Stunden dauern, bis die Katbamim in Israel eintreffen, bis dann könnten sie zehnmal zu uns fahren.

UAVs (unmanned aerial vehicle) nennt man in der hebräischen Abkürzung KatbamKatbamim im Plural. Wie viele andere hebräische Abkürzungen war mir dieser Ausdruck bis gestern Abend unbekannt. Ich bin total verwirrt und weiss nicht, was ich mit der Meldung anfangen soll, dass Dutzende iranische Flugkörper, unter denen ich mir nichts vorstellen kann, in Richtung Israel unterwegs sind. Schlafen gehen? Mich aus dem Fenster stürzen? Ich weiss es ganz einfach nicht. 

Nach den Telefongesprächen bitte ich Eyal mir zu erklären, was ein Katbam ist – etwas das in Israel offensichtlich jedes Kind weiss. Neun Stunden? Ich rechne kurz nach. Wie investiert man seine vielleicht letzten neun Stunden vor dem Super-GAU? Die Situation ist absolut nicht überschaubar und sehr beängstigend. Ich stelle sicher, dass irgendwelche Kleider griffbereit sind und da ich schon im Bett liege, bleibe ich liegen. Vielleicht wäre es doch eine gute Idee gewesen, in die Schweiz zu flüchten. Aber jetzt ist es zu spät, der Luftraum ist gesperrt. Mit diesen Gedanken schlafe ich ein.

Morgens um drei schrecke ich zum ersten Mal hoch und ein Blick auf das Handy ergibt, dass die Sache mit den neun Stunden offensichtlich nicht so genau recherchiert war. Der Himmel über Jerusalem ist voller Leuchtkörper und sieht aus wie eine Mischung von Feuerwerk und überreagierenden Sternschnuppen. Die iranischen Geschosse sind da. Bei uns aber ist es ruhig und so schlafe ich wieder ein. Ich erwache um sieben Uhr morgens und bin unendlich erleichtert, dass wir nicht in den Schutzraum flüchten mussten und wir einmal mehr gesund und unversehrt erwacht sind.

Ich setzte mich sofort an den Computer, um Nachrichten zu lesen. Wieder einmal bringen mehrere deutsche Zeitungen beim Versuch, die Situation im Nahen Osten zu umschreiben, mein Blut umgehend zum Kochen. Auch jetzt, nach dem Angriff des Irans auf Israel, können sie es nicht unterlassen, den Satz nachzuschieben"...dabei wurden nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, in Gaza bisher fast 33.700 Menschen getötet."
Was soll dieser Satz, der nur auf Unterstellungen, Lügen und Verschwörungen beruht? Was sollen diese Relativierungsversuche, auch in Momenten, in denen Israel existentiell bedroht wird? Man kann es einfach nicht lassen, den Lesern weiszumachen, dass die Juden schuldig sind. Was soll das ganze "Nie Wieder"-Gefasel, wenn die Juden weiterhin so unverforen  zum Schuldenbock gemacht werden? Dieser Satz ist das moderne Äquivalent zur Theorie der Brunnenvergiftung durch die Juden im Mittelalter und zu allen anderen Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien über das jüdische Volk im Laufe der Jahrhunderte!




Im Laufe des Sonntagmorgens klärt sich die Situation auf. Das iranische Mullahregime hat in der Nacht über 300 Selbstmorddrohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen auf Israel abgefeuert. Es ist das erste Mal, dass der Iran Israel direkt von seinem Gebiet aus mit Drohnen und Raketen angreift. Mit Hilfe von internationalen Partnern konnten fast 100 Prozent der Flugkörper neutralisiert werden, bevor sie auch nur den israelischen Luftraum erreichten.

Der Iran hat versagt. Die meisten abgefeuerten Raketen wurden erfolgreich abgefangen und keine einzige Drohne oder Rakete ist in Israel eingedrungen. Aber der Iran hat folgendes erreicht:

Ein arabisches Beduinen-Mädchen wurde von Splittern schwer verletzt.

Die Verbindung zwischen Israel und den westlichen Ländern, die es unterstützen, wurde verstärkt. Jordanien hat einige der Raketen abgefangen und laut einem Bericht des Senders Al Arabiya soll auch Saudi-Arabien Raketen abgefangen haben.

Die Hauptleidenden sind wohl die Menschen im Iran. Sie haben die ganze Nacht über Tankstellen und Supermärkte geplündert und befinden sich nun vermutlich in hysterischer Panik. Die iranische Währung fällt auf einen historischen Tiefstand. Das iranische Regime ist offensichtlich im Begriff, den Nahen Osten und sein eigenes Volk zu zerstören.




Die Kosten für die Abwehrsysteme in dieser Nacht werden übrigens auf etwa 5 Milliarden Shekel, etwas über 1,300 Millionen Dollar, geschätzt.




Und jetzt? Wie wird es weitergehen? Heute sind wir alle etwas gelähmt von den Schrecken der Nacht. Ich spreche mit den Kindern, sie schildern, wie sie die Situation erlebt haben. Ich bin froh, dass Israel dieses Mal seine Bürger schützen konnte, aber es tut mir so leid, dass meine Kinder – überhaupt die junge Generation – mit dieser schrecklichen Realität aufwachsen müssen.


Sonntag, 7. April 2024

Ein verrücktes Wochenende

Die ganze Nation hält in Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Krieges mit dem Iran den Atem an. Die Reservisten des Luftverteidigungssystems werden eingezogen. Wir bekommen von verschiedenen Ämtern und Organisationen Anweisungen, wie wir uns im Ernstfall zu verhalten haben. Im Supermarkt häufen die Kunden ihre Wagen voll und das hat nicht nur mit dem bevorstehenden Pessachfest zu tun.

Und wir? Bei uns sind überhaupt alle total aus dem Häuschen: Unsere Tochter Sivan und ihr langjähriger Freund haben sich verlobt! Sie verbringen das Wochenende bei uns und wir laden zum ersten Mal offiziell die Eltern des Zukünftigen ein. Das ganze Wochenende bricht der Strom der ein- und ausgehenden Freunde gar nicht mehr ab. Das Haus füllt sich mit freudigem Lärm und Blumen. Der Küchendienst läuft auf Hochtouren. Die Champagnergläser werden mehrere Male gespült und sofort wieder eingesetzt. Die Themen des Tages sind die ausführlichen Details des Antrages – unsere sonst immer geistesgegenwärtige und zungenfertige Tochter soll so verblüfft gewesen sein, dass sie nicht einmal ein simples Ja über die Lippen brachte. Alle erdenkbaren Hochzeitskonzepte werden besprochen, wer welche Gäste bringen darf und natürlich – das Kleid. Mögliche Daten für das Fest werden in Betracht gezogen: September? Oktober? Vielleicht am besten spontan, gleich morgen oder besser noch heute, schlägt jemand vor. Mehrere Blicke treffen sich. Ohne es auszusprechen, wissen wir alle, was er denkt.

Was wird sein, bis im September oder Oktober? Wen oder was wird der Iran zuerst angreifen? Ist unser Haus, unser Wohnort noch sicher? Wer wird überhaupt noch leben? Wen wird es treffen? Ich weiss, dass alle hier Anwesenden dieselben Gedanken verdrängen. Keiner sagt ein Wort. Wir feiern, als wären es unsere letzten Tage. Wer weiss… 

Einer der Jungen, der im Dienst ist, berichtet aus erster Hand von der evakuierten Stadt Kiryat Shmona im Norden, die man schon seit Monaten nicht mehr besuchen kann. Früher war ich dort öfter, meistens auf Durchreise, aber einige Male auch zum Übernachten. Jetzt sind die Hauptstrassen in die Stadt mit Betonblöcken verbarrikadiert. Die Strassen sind vom Verkehr der Panzer zerstört, sowie auch viele Gebäude von den Geschossen der Hisbollah. Die Einwohner der Stadt leben seit Monaten im ganzen Land verstreut in Behelfswohnungen und Hotels.

Bei einem Blick auf die Nachrichten zwischen den Feierlichkeiten erfahren wir, dass die IDF den Leichnam des israelischen Landwirts Elad Katzir aus Gaza geborgen hat. Er wurde in Geiselhaft ermordet, nachdem die Hamas Anfang Januar noch Videos von ihm lebend verbreitet hatte. Der Vater Avraham Katzir wurde bei den Massakern von der Hamas und weiteren Palästinensergruppen getötet. Elads Mutter Hanna Katzir wurde ebenfalls aus Nir Oz in den Gazastreifen verschleppt und dort als Geisel festgehalten, sie kam im Rahmen des Abkommens Ende November vergangenen Jahres frei. Jetzt muss sie, nach allem, das sie durchgemacht hat, auch noch ihren Sohn zu Grabe bringen.



Heute Morgen sind die Gläser und die leeren Flaschen verräumt. Während wir feierten, sind am Wochenende im Gazastreifen vier zwanzigjährige Israelis gefallen. Nun, ein halber Tag später, erscheint die ausgelassene Fröhlichkeit einiger Stunden surreal. Der bodenlose Schmerz zwingt uns wieder in die Knie. Dazu erwarten wir jeden Tag, jede Stunde den grossen Knall. Was wird passieren? Wird der Iran direkt oder über einen seiner Terrorvermittler angreifen, die Hisbollah im Libanon, die Houthis im Jemen oder Milizen in Syrien? Die Spannung ist unerträglich. Und die Angst vor dem, was die nächsten Tage und Wochen bringen werden, schnürt uns erneut die Kehle zu.

Heute markieren wir ein halbes Jahr seit dem Tag, an dem das Leben im Nahen Osten für alle eine schlimme Wendung genommen hat. Auf instagram stolpere ich über einen Beitrag der IDF, die zum ersten mal einige der schockierenden Aufnahmen des 7. Oktobers veröffentlicht. Ich kann es mir nicht ansehen, es ist nicht zu ertragen. Während die Welt vor allem Mitleid mit den Palästinensern hat und Israel verurteilt, lese ich diesen längeren Artikel, der aufzeigt, wie die Hamas mit allen modernsten Mitteln absolut klug, berechnend und systematisch seit Jahren auf ein Ziel hinarbeitet: die Vernichtung Israels. Dass da noch die Palästinenser beweint werden, die für die Hamas und alle hinter ihr stehenden Organisationen nur ein weiteres Mittel zum Zweck sind, ist unfassbar, traurig und lächerlich und alles zusammen. 
Wer ist einem so finster entschlossenen und kompromisslosen Feind überhaupt gewachsen? Wer könnte ihn besiegen? Vielleicht – wenn sich alle Menschen und Mächte der Erde zusammenschliessen würden… Aber davon sind wir weit entfernt. Beim Lesen des Artikels stockt mir das Blut in den Adern und ich möchte nur noch eines: die Koffer packen und irgendwohin verschwinden, am besten gleich auf den Mond.


Mittwoch, 3. April 2024

Fliegen mit dem Papst

Trotz überfülltem Flugzeug habe ich den Heimflug gut überstanden. Nun bin ich wieder in dem Land, das ich so sehr liebe und weiterhin lieben möchte, obwohl mir diese Liebe im Moment nicht leicht fällt. Das Land ist gebeutelt und geschunden und hat gerade sehr wenig mit dem starken, lebensfreudigen und bewundernswerten Israel gemeinsam, das es bis vor einigen Jahren noch war.

Beim Boarding des El Al Flugs nach Tel-Aviv erspähte ich in der Business-Class Rabbiner Meir Israel Lau, über den ich hier geschrieben habe. Rabbiner Lau ist vielleicht eine etwas seltsame Kultfigur für einen säkularen Menschen wie mich, doch seit ich seine Lebensgeschichte gelesen habe, finde ich ihn bewundernswert. Lustigerweise erkannte ich Rabbiner Meir Israel Lau, aber um sicherzugehen, dass es sich wirklich um ihn handelt, hätte ich beinahe seinen Begleiter angesprochen. Zum Glück unterliess ich die Nachfrage, denn wie ich später in Erfahrung bringen konnte, handelte es sich bei dem jüngeren der Reisenden um den Sohn Rabbiner David Lau – der amtierende Oberrabbiner Israels! (Das hingegen kann nur einer säkularen Person wie mir geschehen und ich schäme mich für das Unwissen.)

Was für eine Begleitung! Noch nie hatte ich mich auf einem Flug so sicher gefühlt! Für Christen wäre das wohl so etwa, als ob der Papst mitfliegen würde. Wie aufregend!  Leider hatte ich nicht den Mut, die Beiden anzusprechen. Und die Idee, meinem Idol durch die Flugbegleiterin ein Zettelchen zukommen zu lassen, wie ein aufgeregter Teenager seinem Angebeteten, schien mir auch unangebracht. Schade, so habe ich wieder einmal eine bereichernde Gelegenheit aufgrund fehlender Chuzpe verpasst.

In der Woche meiner Abwesenheit hat sich das Wetter in Israel vom Winter verabschiedet. Heute zeigt das Aussenthermometer 28 Grad. Ich weiss, dass mir die Hitze in den kommenden Monaten auf die Nerven gehen wird. Aber gerade heute noch geniesse ich die Helligkeit, das Licht und die Sonne. Alle Fenster stehen offen, ein leichter Wind spielt mit den Vorhängen und seit sechs Uhr morgens ist es taghell. Nach der grauen, regnerischen Woche in der Schweiz ist das Genuss pur.

Nun gilt es, sich wieder mit den Katastrophen vor Ort auseinander zu setzen. Das fällt mir in Israel erheblich leichter, als aus der Distanz. Dort sind die Katastrophen eh mit dabei (in meinem Kopf) und ich fühle mich damit alleingelassen. Ausserdem bin ich nach einer Woche in der Schweiz, wo ich leider den Nachrichten auf SRF und anderen Kanälen nicht immer entkommen konnte, auch schon fast überzeugt, dass die Israelis ein extrem kriegsfreudiges und rücksichtsloses, wenn nicht sogar blutrünstiges Volk sind. So viele Falschinformationen und subtiles Weglassen von wichtigen Hintergrundinformationen, das steht der Propagandamaschinerie des dritten Reiches wirklich in nichts mehr nach. Da sind mir die Katastrophen vor Ort, aber wenigstens aus erster Hand, schon fast lieber.

Am Tag vor meinem Rückflug demonstrierten wieder Zigtausende Israelis gegen die Regierung unter Blockierung wichtiger Verkehrsadern und Gebrauch rechtswidriger Gewalt. Einige der Demonstranten wurden festgenommen – nur um am nächsten Tag wieder freigelassen zu werden. Es sind mehr oder weniger dieselben Menschen, die schon Monate vor dem 7. Oktober jede Woche demonstrierten, doch jetzt kappen sie das Geiselthema für sich. Sie skandieren "sofortige Freilassung der Geiseln". Ich verstehe das nicht – glauben sie wirklich, dass irgendjemand in der jetzigen Regierung nicht dasselbe wünscht? Und wie genau stellen sie sich die Lösung des Problems vor?

Das ist perfide Ausbeutung und Übernahme der Geiselthematik, mit der die Angehörigen der Geiseln gar nicht unbedingt zu tun haben wollen, ja, die sogar den Schmerz der Familien der Geiseln ausnutzt. Dazu unter anderem dieser Artikel in der Jerusalem Post, in welchem Yarden Pivko, die Tochter einer der in Gaza festgehaltenen Geiseln, ihrer Meinung Ausdruck gibt.

Wie viele Israelis halte auch ich die Demonstrationen für rücksichtsloses und verantwortungsloses Verhalten. Doch die israelische Bevölkerung ist zutiefst zerrissen. Beide Lager glauben, dass das andere Lager Schuld an den Geschehnissen des 7. Oktobers hat. Doch während man nach dem 7. Oktober noch zutiefst beschämt schwieg, werden nun die Stimmen wieder lauter. Unterschiedliche Meinungen und entgegengesetzte Lager gab es in Israel schon immer. Doch der Graben zwischen den Lagern wird immer unüberbrückbarer. Das israelische Volk zerbröckelt von innen. Das ist nicht eine neue Entwicklung, doch jetzt, während eines existenziellen Krieges, ist sie gefährlicher denn je.

Wie man das wendet und dreht, die Geiselfrage ist ausweglos. Keine Regierung dieser Welt könnte sie zu Zufriedenheit lösen. Einen sehr aufschlussreichen Artikel darüber hat Dr. Ben Segenreich geschrieben. Nur die Hamas hätte es in der Hand, die Sache zu Ende zu bringen.

Ein Teil der 1,650 am 7. Oktober-Massaker abgefakelten und zerstörten israelischen Autos. Jedes einzelne erzählt eine tragische Geschichte. (Foto von Yossi Masa)