Montag, 16. Juni 2025

Kleinkram

Schon wieder sitzen wir nachts um halb drei Uhr im Schutzraum, obwohl es gar nicht nötig wäre. Wenn man schläft, sind die Warnnachrichten auf dem Handy wirklich verwirrend. Vorwarnungen, Warnungen der Regionen der persönlichen Wahl, Echtzeit-Warnungen vor Ort. Das Handy zirpt alle paar Minuten wie wild, ich schrecke auf und steuere noch schlafend in Richtung Schutzraum. Vor lauter Gezirpe merke ich gar nicht, dass ich keine Sirenen gehört habe. Wer besteht schon morgens um halb drei im Tiefschlaf einen Intelligenztest? Aber nicht nur ich bin verwirrt. Mitglieder der Gruppe unseres Wohnortes diskutieren am Morgen danach auf Facebook lebhaft, ob die Sirenen bei uns wirklich geheult haben oder nicht, denn wir hören auch die Sirenen der Nachbardörfer.

Alle paar Stunden heulen die Sirenen aber auch bei uns tatsächlich, vor allem nachts. Nur etwa neunzig Prozent der Raketen aus dem Iran werden abgefangen. Die eintreffenden Geschosse richten oft grossen Schaden an. Fast jeden Morgen wachen wir jetzt zu Nachrichten über Tote und Verletzte auf.

Viele Geschäfte sind geschlossen.
Im Supermarkt gibt es keine Eier mehr.

Die Hochzeit des Sohnes unserer guten Freunde wird auf unbekannte Zeit verschoben. Die Anzüge und festlichen Kleider hängen wartend im Schrank.

Zehntausende Israelis stecken wegen der Flugunterbrechung im Ausland fest und umgekehrt können ausländische Reisende nicht wegfliegen. Viele sammeln sich in Zypern oder Griechenland, in der Hoffnung, dass es dort Rettungsflüge oder andere Möglichkeiten geben wird, nach Israel zurückzukehren. Doch die Hotels sind ausgebucht, die Übernachtungsmöglichkeiten müssen Nacht für Nacht neu erkämpft werden. Unterdessen warten Kinder oder andere Familienmitglieder in Israel. Auf Facebook bilden sich Gruppen Verzweifelter, die sich in Reisegruppen organisieren: In Zypern werden Plätze nach Israel auf zwielichtigen Yachten offeriert, andere suchen Skipper für gemeinsam gemietete Segelboote, wieder andere wollen Israel auf dem Landweg über Jordanien oder den Sinai verlassen.

Man wird angehalten, nicht zur Arbeit zu fahren und in der Nähe von Schutzräumen zu bleiben. Wir sind fünf erwachsene Personen im Haus, die versuchen, irgendeine Routine aufrechtzuerhalten. Jeder sucht sich für die Arbeit im Heimbüro ein ruhiges Eckchen. Nur Lianne ist frustriert und verängstigt, als temporär angestellte Schulassistentin ist sie wieder einmal fristlos arbeitslos. Dazu kommen die Ängste vor den Raketen, dem Vernichtungswut des Mullah-Regimes und die ungewissen Zukunftsaussichten.

Alle wollen essen. Ich bin ständig am Putzen, organisieren, aufräumen. Dabei fühle ich mich völlig gelähmt. Die Situation ist apokalyptisch.

Am Nachmittag wagt das junge Paar eine Reise in ihre Wohnung in Tel-Aviv, um Kleider und einen weiteren Computer-Bildschirm zu holen. Sie staunen über die leergefegten Strassen und die freien Parkplätze im Überfluss. Aber kaum kommen sie an, schrillen die Sirenen. Sie lassen das Auto stehen und laufen in den nächstliegenden öffentlichen Schutzraum, zusammen mit Dutzenden Nachbarn, Kleinkindern und deren zahlreichen Haustieren im Schlepptau. Die unangenehme Erfahrung bewegt sie, früher zu uns zurückzufahren als geplant. Sie treten gerade ein, als es auch bei uns losgeht. Wir suchen erneut gemeinsam den Schutzraum auf. Trotz geschlossener Eisentüre hören wir die lauten Booms der verschiedenen Abwehrsysteme, Fenster und Wände rütteln.

Aber das ist alles Kleinkram. Wir sind froh, unversehrt zu sein. Die Situation ist ernst. Mit diesen Raketen ist nicht zu spassen. Jede Nacht gibt es Einschläge mit zahlreichen Verletzten. Wohnhäuser werden getroffen und brechen zusammen. Viele Menschen können nur noch tot geborgen werden.



Ein LKW-Fahrer macht Gebrauch von einem transportablen Schtutzraum






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