Dienstag, 30. September 2025

Jerusalem



Gibt es eine packendere, eine widersprüchlichere, eine verrücktere Stadt als Jerusalem?
Unser Tag beginnt an einem Freitag zwischen den Feiertagen im lebendigen Chaos des Shuk Machane Yehuda. Wer das Gedränge nicht mag, sollte jedoch freitags besser einen Bogen um den Markt machen. Die engen Gassen sind von Menschen überfüllt. Berge aus frischem Obst und Gemüse locken, sowie ein vielfältiges Angebot an Gewürzen, Gebäck, Tee, frisch gemahlenem Kaffee, Halva und lecker riechenden exotischen Speisen. Ausserdem schiessen in den letzten Jahren hippe Bars wie Pilze aus dem Boden. Sie laden ein, bei einem Getränk und feinen Häppchen das Wochenende einzuläuten und das Treiben zu beobachten. Hier trifft die ganze Bandweite Jerusalems aufeinander: säkulare Geniesser, religiöse Juden beim Schabbat-Einkauf, arabische Verkäufer, junge Trendsetter. 
Nachdem wir einige Runden durch das Getümmel gedreht haben, verstauen wir unsere Einkäufe im Auto und spazieren in Richtung Altstadt.



Kurz vor dem Mamilla-Center machen wir Halt im Café Sira. Mehrere verwinkelte Räume sind über und über bedeckt mit Graffiti und Stickern, die keinen Zentimeter Wand blank lassen. Hier treffen sich vor allem linksliberale Studenten. Sie tragen Secondhand-Mode, sind kreativ tätowiert. Der Geruch von Marihuana hängt in der Luft. Am Tresen werde ich gefragt, ob ich meinen Cappuccino mit Soja oder Mandelmilch möchte. Wie auch immer – er ist stark und schmeckt perfekt.

Gestärkt laufen wir weiter bis zum Damaskustor, kommen aber zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt dort an. Ein Strom von muslimischen Gläubigen kehrt vom Freitagsgebet auf dem Tempelberg zurück. Tausende Männer und wenige Frauen und Kinder strömen in einem nicht abreissenden Strom aus dem Tor, das wir gerade betreten wollten. Viele der Männer tragen lange helle Gewänder und traditionelle Bärte, zu abrasierten oder sehr kurz geschnittenen Schnurrbärten. Die Frauen sind züchtig verschleiert, die Kopftücher liegen eng am Haupt und verdecken meisst auch die Stirne. Einige tragen Vollverschleierung inklusive dem Niqab, dem Gesichtsschleier. Der Gedanke, uns in entgegengesetzter Richtung in diese Menschenmenge zu stürzen, ist nicht gerade einladend und so setzen wir uns auf die Treppe vor dem Tor und bestaunen die überwältigende, so fremdartig wirkende Menschenflut. Der Strom nimmt kein Ende! Das war zu erwarten, denn das Freitagsgebet wird jeweils von mehreren Zehntausend Menschen besucht. Wir sitzen eine Weile da, dann ändern wir spontan unsere Pläne und besteigen den Bus in die ehemalige Deutsche Kolonie.



Dort, wo früher Güterzüge zum Hafen in Jaffa fuhren, verläuft heute auf den Gleisen ein belebter Fuss- und Radweg, flankiert von Food-Kiosken aller Art. Die restaurierten Templerhäuser tragen teilweise deutsche Inschriften. Nach dem orientalischen Gewusel am Damaskustor mutet die Stimmung hier entspannt und europäisch an. Junge, liberal-religiöse Familien schlendern vorbei. Sie verweilen in den Kiosken, trinken etwas, Kinder essen Eis. Die Männer tragen kurze Bärte und Kippa, die Frauen Hosen oder Röcke in allen Längen und Kopfbedeckungen aus modisch ins Haar geflochtenen Tüchern.
Nach einem kleinen Imbiss und einer Zickzack-Tour durch das Quartier wagen wir uns noch einmal in Richtung Altstadt. 

Durch das Zionstor gelangen wir ins armenische Viertel und vorbei an griechischen Klöstern und Gebetshäusern zur Grabeskirche. Unterwegs kaufen wir bei einem arabischen Strassenhändler frische Datteln. Der junge Mann vermutet in Eyal einen Araber und benennt den Preis für ein Kilo Datteln auf Arabisch mit „thamaniya“ – acht. Dann bemerkt er seinen Irrtum und korrigiert auf das Hebräische „esser“ – zehn.



Obwohl ich schon unzählige Male in der Grabeskirche war, überwältigt mich die Atmosphäre jedes Mal aufs Neue. Der besondere Lichteinfall, der Duft von Weihrauch, die Gesänge verschiedener christlicher Konfessionen, die alle an diesem Ort zusammenfinden – sie erzeugen eine zutiefst eindrückliche Stimmung von Exotik und Spiritualität. 
Gleichzeitig mit uns besucht ein kirchliches Oberhaupt die Kirche. Begleitet von mehreren schwarz gekleideten Würdenträgern mit langen Bärten, Talaren und kunstvollen Stolen wandelt die Delegation durch die heiligen Räume. Als sie durch das grosse Tor und über den Platz vor der Kirche prozessieren, trommeln ihre verzierten Pastoralstäbe in einem machtvollen Ritual rhythmisch auf den Jerusalemer Steinboden. Passanten bleiben stehen. Man kann das ungewöhnliche Schauspiel weder übersehen noch überhören. 

Um uns eine Meinung darüber zu verschaffen, wer in diesem Wettbewerb der skurrilen religiösen Traditionen am besten abschneidet, gehen wir zum Einbruch des Schabbats weiter zur Klagemauer. Der Platz füllt sich minütlich mit Männern, Frauen und Kindern in festlicher Kleidung.
Ein bekannter Rabbi trifft zum Gebet ein. Hier ist es nicht das rhythmische Aufschlagen wertvoller Bischofsstäbe, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht, sondern eine schwarze Limousine, die über den ansonsten verkehrsfreien Platz gefahren und sofort von einer Menschentraube umringt wird. Ein kleines, gebücktes Männchen entsteigt dem Auto und verschwindet, in einen Gebetsschal gehüllt und begleitet von zahlreichen Männern in schwarzen Anzügen und weissen Hemden, in der Synagoge.
Sämtliche Frauen auf dem Platz tragen lange Kleider oder Röcke, die sephardischen Männer schwarze Anzüge und Hüte oder einfache Kippot. Die aschkenasischen Orthodoxen hingegen tragen schwarze Kaftane, Kniestrümpfe und die charakteristischen Shtreimel-Hüte aus Pelz.



Am Ende des Tages fahren wir mit dem Taxi zurück, denn der öffentliche Verkehr ist nun wegen des Schabbat eingestellt.
Der redselige Taxifahrer winkt pragmatisch ab, als wir uns über die extreme ethnische und religiöse Vielfalt äussern. „Wir Jerusalemer sind das gewohnt“, meint er. „Jeder kennt seinen Platz, und so funktioniert das Zusammenleben.“ 
Ganz überzeugt bin ich nicht. Eher wirkt es, als lebten die Menschen hier auf einem Pulverfass, das jederzeit explodieren könnte.

Und doch – im historischen Vergleich ist die heutige Koexistenz bemerkenswert friedlich, trotz aller Spannungen.
Das war nicht immer so. In einer konfliktreichen Geschichte wechselte die Vorherrschaft über Jerusalem immer wieder zwischen den Religionen ab, wobei die anderen Religionen ebenso abwechselnd manchmal geduldet, manchmal unterdrückt und manchmal vertrieben wurden. Nachdem die UNO 1947 die Teilung des britischen Mandatsgebietes in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat beschlossen hatte, verhinderte das Königreich Transjordanien den palästinensischen Staat, in dem es sich 1948 das Westjordanland und Ost-Jerusalem gewaltsam einverleibte und bis 1967 besetzt hielt. Die Jordanier vertrieben die jüdische Bevölkerung, zerstörten alle Synagogen und verboten den Juden den Zugang zu ihren heiligen Stätten. Neunzehn Jahre lang gab es keinerlei jüdische Präsenz in der Altstadt. Auch Christen litten unter wirtschaftlichen und politischen Einschränkungen. Erst nach dem Sechstagekrieg erhielten 1967, unter der Verwaltung Israels, alle Religionen wieder Zugang zu ihren heiligen Orten.
Seither verwaltet Israel die Altstadt politisch, während die religiöse Verwaltung der wichtigsten muslimischen Stätten bei jordanischen Behörden liegt.

Jerusalem polarisiert. Es ist chaotisch, widersprüchlich, unruhig, voller Spannungen. Mystik und Spiritualität sprechen hier aus jedem Stein und sind zugleich gelebter Alltag. Jerusalem ist zweifellos ein ewiges Pulverfass. Mich persönlich fasziniert diese Stadt der Extreme immer wieder aufs Neue.


Dienstag, 9. September 2025

Meine Reise ins Judentum





Meistens schreibe ich nicht mit der Absicht, andere zu unterhalten, sondern eher um mich selbst besser zu verstehen. Durch das Jonglieren von Worten und das Hin- und Herschieben von Sätzen und Abschnitten wird mir etwas klarer, was ich wirklich denke und empfinde. Wie ein Bildhauer habe ich eine Vorstellung, was dieses Etwas in ungefähr sein sollte, aber erst durch das Ausarbeiten nehmen meine Gedanken und Gefühle Gestalt an. Unklarheit oder Durcheinander bringen meine Seele aus dem Gleichgewicht. Das ist eine erschwerende Eigenschaft für ein Leben in einem Land wie Israel, das der absolute Inbegriff eines heillosen Durcheinanders ist. Deshalb versuche ich, wenigstens meine eigene Stube einigermassen in Ordnung zu halten. Wenn dann auch noch die Gedanken schön säuberlich geordnet auf dem Papier vor mir liegen, atme ich auf. Es beruhigt mich, und oft überrascht mich sogar, was dabei hervorgekommen ist.
In diesem Beitrag habe ich versucht, Gedanken, Erinnerungen und Erfahrungen zu ordnen, die mich über Jahrzehnte begleitet haben. Wie fühlt es sich an, in eine völlig fremde Religion hineinzuwachsen?
Es handelt sich nicht um eine religiöse Abhandlung, sondern um einen sehr persönlichen Erfahrungsbericht. Ich lade euch ein, mit mir einen Blick in meine Welt zu werfen.

Ein Dorf ohne Vielfalt

Zum ersten Mal begegnete ich einer mir fremden Religion als kleines Mädchen in „Mirjam aus Israel“, einem wunderbaren Kinderbuch der Autorin Anna Riwkin-Brick. Es schilderte die Vorbereitungen und Feierlichkeiten für den Schabbat der kleinen Mirjam mit ihrer Familie und Gemeinschaft in Israel. Ich liebte das Büchlein, die Fremdheit und das Unbekannte faszinierten mich. In meiner Erinnerung strahlten die schwarz-weiss Fotografien eine festliche Ruhe, Frieden und Geborgenheit aus.
Dass uns unsere Eltern dieses Buch zugänglich machten, war ein kleiner, aber bedeutender Schritt, mit welchem sie den Grundstein für Offenheit und Toleranz in unserer Erziehung legten. Dabei mussten in meinen Kinderjahren diese wichtigen Werte gar nie auf die Probe gestellt werden. Es gab damals nämlich weder in unserem Dorf, noch in unserem Bekanntenkreis Menschen anderer Religion, Hautfarbe oder Ethnie.

Erste Begegnungen und eine verpasste Chance

Erst im Gymnasium begegnete ich in meiner Klasse erstmals zwei jüdischen Mitschülern. Ich hatte damals keine Ahnung, was es mit ihren seltsamen Traditionen auf sich hatte – ich wusste rein gar nichts über das Judentum. Ich lernte, Vokabeln zu deklinieren, Molière und Shakespeare zu interpretieren und ich bekam ein grundlegendes Verständnis von Mathematik, Physik und Chemie. Rückblickend finde ich es skandalös, dass die Schule keine Möglichkeit bot, andere Glaubenswelten, ja die Glaubenswelten unserer Klassenkameraden kennenzulernen. Wie bereichernd wäre es gewesen, von den jüdischen Schulfreunden oder deren Familien über ihre jahrtausendealte Religion zu lernen. Was für eine verpasste Chance! Ob wohl heute persönliche Begegnungen mit Vertretern der verschiedenen Religionen Teil des Lehrplans sind? Sie könnten helfen, Vorurteile abzubauen und ein tieferes Verständnis füreinander zu schaffen. Oder ist dieser Zug etwa schon abgefahren? 




Zufall Israel – ein Neubeginn

Nach der Matura führte mich der Zufall nach Israel. Ich war abenteuerlustig, doch mein Wissen über das Land, seine Geschichte oder die Religion war immer noch ungefähr auf dem Stand jenes Kinderbuchs.
Doch nun begann – durch unmittelbares Erleben – mein Lernprozess. Jeder Tag, jede Begegnung und jedes Gespräch eröffneten neue Einblicke. Ausserdem las ich unzählige Bücher: über jüdische Schicksale, historische Ereignisse, Autobiografien und Werke jüdischer Autoren. Natürlich hatte ich bald einen israelischen Freund. Bei seiner Familie lernte ich die Feste, Traditionen und das wöchentliche Schabbatmahl kennen, an dem die ganze, stetig wachsende Familie teilnahm.
In dieser traditionell-religiösen Familie wurden der Schabbat und die Kashrut-Gesetze eingehalten und die Feiertage wurden mit allen Besonderheiten der Traditionen der irakischen Juden gefeiert.
Eine Heirat mit einer Nicht-Jüdin hätte einen schweren Bruch bedeutet. Auch für Eyal war und ist die Zugehörigkeit zu seinem Volk ein unverrückbarer Bestandteil seiner Identität.
Für mich hingegen, einer in Europa sozialisierten Frau, die mit der Kirche überhaupt nichts am Hut hatte, war Religion ausschliesslich eine Formalität: ein Eintrag in meiner (israelischen) Identitätskarte, mehr nicht.

Prüfung des Glaubens

Die orthodoxe Konvertierung zum Judentum war eine ernsthafte Angelegenheit, die fast zwei Jahre dauerte. Ich besuchte einen intensiven Abendkurs, in dem ich mir Wissen über die Traditionen, die Gebete, die Schriften und die Werte der Religion aneignete. Unser Lehrer war charismatisch, der Unterricht interessant und die Mitschülerinnen angenehme Kolleginnen. Dass von Eyal und mir erwartet wurde, jeden Schabbatmorgen in der Synagoge zu verbringen, fanden wir weniger spannend – lieber hätten wir ausgeschlafen. Doch das Jahr ging vorbei, ich bestand die ersten Prüfungen, die Wissen über Feiertage und die jüdischen Gesetze und Schriften abfragten.

Schlotternde Knie vor den Rabbinern

Vor dem Rabbinatsgericht rasselte ich jedoch grandios durch. Wie hätte ich junge weltliche Frau, die vor allem sehr verliebt war, vor den drei bärtigen glaubensfesten Weisen bestehen können? Alleine ihr Anblick besorgte mir schlotternde Knie und lähmte mir die Zunge. Die dann folgende Frage „was bewegte Abraham, den Stammvater des Judentums, an einen einzigen Gott zu glauben“ paralysierte endgültig mein Denkvermögen.
Um uns zu zermürben, auferlegten die Rabbiner Eyal einen Kurs an einer Talmudschule, einem „Kollel“. Doch sollte er dafür etwa das Studium unterbrechen? Entmutigt sahen wir unsere jüdische Heirat in die Ferne rücken.

Nur ein Eintrag?


Einige Monate später wurde mir trotz allem eine weitere Chance eingeräumt. Ich war bestimmt nicht überzeugender, aber die Rabbiner waren milde gestimmt, oder sie hatten einfach nur gerade einen guten Tag. Es folgte das rituelle Eintauchen in die Mikwe und ich erhielt tatsächlich meinen „administrativen Eintrag“: Ich war Jüdin!
Doch meine Vorstellung von Gott hatte sich mit den aktualisierten Personalien nicht geändert. Ich konnte Religion und Glauben nichts abgewinnen, sie blieben für mich zunächst belanglos. 
Erst im Laufe der Zeit wurde mir klar, wie grundlegend anders mein im Christentum sozialisiertes Weltbild war. Während man Religion in der zunehmend säkularisierten westlichen Welt vielleicht als administrative Angelegenheit abtun kann, ist sie im Judentum unendlich viel mehr. Sie ist Identität, Geschichte, Volk und Schicksal. Einmal aufgenommen, kann man dieser Zugehörigkeit kaum entkommen, denn sie prägt nicht nur das individuelle Leben, sondern Generationen.




Langsames Hineinwachsen

Im Laufe der Jahrzehnte, und je mehr ich die Israelis kennenlernte und selbst eine wurde, je vertrauter ich mit dem israelischen Selbstverständnis und im tieferen Sinne mit der Identität, der Geschichte und dem Schicksal des jüdischen Volkes wurde, wuchsen in mir anerkennende Hochachtung und bedingungslose Liebe zum Judentum. Heute fühle ich mich geehrt und bereichert, diesem Volk anzugehören. Ich werde mich vielleicht nie vollkommen eingeschlossen fühlen, doch ich verehre und liebe das Volk, seine Religion und seine Werte zutiefst.

Warten auf das Jenseits

Ich bin römisch-katholisch erzogen worden. Es gab Gebete, regelmässigen Kirchgang, die Beichte und festliche Feiern. Ich sollte anständig und sittsam sein und mich der weniger privilegierten Geschöpfe erbarmen. Gott sieht alles und bestraft unsere Verfehlungen.
Doch das alles hatte für mich immer etwas Unwirkliches und ich konnte keine Verbindung zu mir selbst oder meinem Leben herstellen. Die eigentliche Erfüllung lag ja ohnehin erst im Jenseits, in einem fernen Himmelreich. Mit der Vorstellung, dieses Leben sei nur eine Vorbereitung oder ein Prüfungsraum für das kommende Reich Gottes, konnte ich nichts anfangen.
Als Kind empfand ich die göttliche Allgegenwart eher als einengend und beängstigend. Als junge Frau war ich überzeugt, bereits charakterlich gefestigt zu sein – vielleicht jugendliche Selbstüberschätzung. Jedenfalls wollte ich keine moralischen Belehrungen, deren Sinn ich nicht erkennen konnte – schon gar nicht von Kirchenvertretern. 

Auch vor dem Samichlaus hatte ich damals schlotternde Knie


Die revolutionäre Idee

Das Judentum ist eine revolutionäre Religion. Sie führte in der vorzivilisatorischen Frühgeschichte grundlegend neue Ideen über Moral, Gesellschaft und das Verhältnis des Menschen zu Gott ein.
Im Judentum ist der Mensch nicht passiver Empfänger göttlicher Befehle, sondern ein Partner, der Freiheit hat, eigene Entscheidungen zu treffen.
In den Kulturen der Frühgeschichte trugen nur Könige, Priester oder Elite Verantwortung. Erst mit dem Judentum konnte der Mensch als Ebenbild Gottes Verantwortung übernehmen und Partner Gottes in der Schöpfung sein. Das war damals eine radikale Idee, die einer sozialen Revolution gleichkam. Der biblische Bund ist eine Partnerschaft zur Gestaltung einer gerechten Welt. Es ist eine jahrtausendealte Geschichte von Bündnis, Verantwortung und Hoffnung.

Verantwortung statt Freiheit ohne Bindung

Während westliche Zivilisation auf individuelle Freiheit und Rechte fokussiert, legt das Judentum besonderes Gewicht auf gemeinschaftliche Verantwortung. Jeder Jude trägt Verantwortung für die anderen – moralisch, religiös und sozial. Nicht nur das eigene Verhalten zählt, sondern auch, wie man der Gemeinschaft hilft, das Richtige zu tun.
Für nicht-religiöse Menschen, vor allem für Nicht-Juden, mag das alles sehr theoretisch oder spirituell verklärt klingen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Diese Werte sind seit Jahrtausenden von Generation zu Generation weitergegeben und verinnerlicht worden. Sie sind tief in der jüdischen Identität verankert, sie prägen und lenken die Nation. Die religiösen Grundsätze sind in Israel lebendiger Alltag. Religion ist nicht ein Relikt in muffigen Gebetshäusern, sondern sie wird gelebt und ist im täglichen Leben greifbar. Für Israelis ist sozialer Zusammenhalt - das aufeinander Achtgeben und füreinander Einstehen - selbstverständlicher Teil des täglichen Lebens. Viele Israelis leisten regelmässig irgendeine soziale Freiwilligenarbeit. Wenn es sein muss, schränken sie dafür ihr Arbeitspensum ein, ungeachtet der Lohneinbusse. 

Der Sinn im Judentum

Erst im Judentum habe ich den tieferen Sinn der Religion verstanden und kann ihm auch etwas abgewinnen: eingebettet in eine Gemeinschaft nach einer besseren, einer gerechteren Welt zu streben. Dieses Bestreben ist in der jüdischen Welt lebendig, greifbar und allgegenwärtig.
Im Judentum ist die Idee einer besseren Welt konkrete Pflicht und alltägliche Praxis, im Christentum bleibt sie oft Vision und Verheissung, die auf das Jenseits verweist.
Weil das Christentum früh Staatsreligion wurde, gab es ausserdem den Machtmitteln eher Priorität als der Ethik einer gerechteren Welt. Das Judentum hingegen musste in jahrhundertelanger Diaspora inmitten anderer Kulturen praktische Wege finden, um Gerechtigkeit und Überleben zu sichern.

Bin ich verblendet?

Ich weiss, meine Hommage an das Judentum ist ein grotesker Gegensatz zum modernen Trend in der westlichen Welt. Israelis werden feindselig betrachtet, ihr Land wird angefeindet, diffamiert, ausgeschlossen. Bin ich vollkommen ignorant, mein positives Plädoyer gerade jetzt zu posten? Was soll das verklärte Gefasel über ein Volk, das gemäss der vorherrschenden Wahrnehmung aus kaltblütigen kindermordenden Bestien besteht?
Irgendjemand ist verblendet. Bin ich es, mit meiner in vier Jahrzehnten langsam gereiften Erkenntnis?
Es wird sich zeigen, irgendwann. 




Ein Licht für die Völker

Das Judentum strebt danach, das gelebte Beispiel einer Gesellschaft zu sein, die sich an Gerechtigkeit, Gemeinschaft und Gott orientiert. Dabei will es nicht missionieren, sondern inspirieren. 
Um die Idee, ein Licht für die Völker zu sein, ist es jedoch derzeit nicht allzu gut bestellt. Die Geschichte wiederholt sich und einmal mehr haben der gezielte Einsatz von Lügen und massiver Desinformation Ausgrenzung, Dämonisierung und Hass zur Folge. Angesichts der landläufigen Meinung über die Israelis müssen die meisten Europäer meine Erläuterungen wohl für blanken Hohn halten.
Es macht ja auch Sinn, dass das Verbessern der Welt keine simple Aufgabe ist, sondern eine schwierige und ewige. Sie scheint in der Tat unlösbar, zwingt zum Weiterdenken, zur Horizonterweiterung, zu immer wieder neuen Ansätzen. So sind die Israelis im Laufe der Geschichte tatsächlich wahre Meister darin geworden, scheinbar Unlösbares zu Umkreisen.
Natürlich ist Israel nicht perfekt, genau sowenig wie die Menschen, die dort leben. Hinzu kommt, dass dem auserwählten Volk auf seinem schwierigen Weg viele Beine gestellt werden. Das fragile Licht, das vorhanden wäre, wenn man es nur sehen wollte, wird immer wieder bedroht.

Stärker als Zeitgeist

Zeitgeist hat auf jüdische Werte kaum Einfluss – wie ein paar heisse Sommertage auf einen jahrhundertealten Baum. Die überlieferten Glaubensgrundsätze bestehen seit Jahrtausenden und sie werden weiterbestehen. Und mit ihnen die Hoffnung, dass eines Tages der passende Zeitgeist kommen und sie anerkennen wird, auch wenn es im Moment gerade überhaupt nicht so aussieht. Trotz aller Tragödien ist das Judentum eine zeitlose Botschaft der Hoffnung. Die Welt ist veränderbar, weil der Mensch und Gott, oder der menschliche göttliche Wille, gemeinsam wirken.

Ein göttlicher Funke

Die Vorstellung einer göttlichen Kraft im Menschen gefällt mir sehr, sie wirkt motivierend. Jedermann, auch aufgeklärte, moderne Menschen tragen einen göttlichen Funken, eine „Nefesh Elohit“ in sich. Ja sogar ich, wenn auch vielleicht nicht sehr ausgeprägt, denn ich bin keine grosse „Zadika“. Doch die Idee scheint mir – im wahrsten Sinne des Wortes – „ein-leuchtend“ und es steht jedermann frei, diesen göttlichen Funken nach eigenem Können und Gutdünken in seinem Leben zu regulieren.





P.S. Die Fotos in diesem Beitrag (ausser natürlich dem Samichlaus) sind aus Nordisrael, von meiner Wanderung auf dem Shvil Israel (Israel National Trail)



Mittwoch, 3. September 2025

Schweizer Idylle, israelische Realität

Wegen des instabilen Gesundheitszustandes meiner Eltern – und dank eines verlockenden Flugangebotes – bin ich schon wieder für eine Woche in der Schweiz.
Nicht nur das Wetter ist hier völlig anders. Es wirkt surreal, wie nicht-existent nur vier Flugstunden entfernt die Probleme sind, die in Israel unseren Alltag bestimmen.

Kein Krieg, keine Raketenalarme. Keine Ehemänner, die seit Monaten im Reservedienst sind, keine Kinder, die als Soldaten in Gaza kämpfen. Keine jungen Männer, für die schrecklichste Kriegssituationen Alltag sind. Keine Gefallenen, keine Verletzten, keine Kriegs- und Terror-Traumata. Keine seit dem 7. Oktober 2023 schmerzlich vermissten Familienmitglieder, Freunde oder Bekannten, die nie mehr wiederkommen werden. Kein Riss in der Gesellschaft, weil man sich über die Rückführung der Geiseln und die Weiterführung des Krieges uneinig ist. Keine unlösbaren regionalen Konflikte, keine ständige Bedrohung durch die Nachbarländer. Keine Achterbahn-fahrende Wirtschaft wegen der Kriegskosten. Keine Alltagsgespräche, die sich alle, aber wirklich alle, nach wenigen Minuten immer um ein einziges Thema drehen: „haMazav“, die „gegenwärtige Situation“.



Fast erscheint mir das Leben in der Schweiz ein wenig leer. Worüber macht man sich hier eigentlich Sorgen? Wo man das Velo abstellen darf und wo nicht? Oder über ein paar Migranten zuviel? In einer Skala von existentiellen Problemen von 1 bis 100 – die ich gerade frei erfunden habe – liegt die Schweiz für mich bei 10. Israel hingegen bei gefühlten 250. 250, das heisst in Worten: nicht mehr auszuhalten.

Gerade heute Morgen gibt es wieder grossflächigen Alarm von Netanya bis Jerusalem wegen Raketen aus dem Jemen. Lianne ist mit dem Auto nach Tel-Aviv unterwegs. Sie ruft mich an und erzählt, jemand habe sie von hinten angefahren, weil alle plötzlich in Panik anhalten oder in alle Richtungen rennen. Sivan lässt in ihrer Tel-Aviver Wohnung die Tomatensauce anbrennen, während sie im Treppenhaus Schutz sucht. Doch was ist schon eine angebrannte Tomatensauce? Nicht der Rede wert.

Hier hingegen läuten friedlich die Kirchenglocken, während ich diese Zeilen schreibe. In den Nachrichten spricht man, wie immer, über Völkermord und Hunger in Gaza.

Die Frage liegt auf der Hand – wo möchte ich sein? Soll ich wirklich nach Israel zurückkehren? 
Natürlich ist das eine eher rhetorische Frage – Israel ist mein Lebensmittelpunkt. Meine Familie lebt dort.

Doch wenn man nur ein wenig tiefer unter die glänzende Oberfläche der Schweizer Idylle schaut, ist die Antwort klar. Die Israelphobie, die Ideologie des Hasses gegenüber dem Staat Israel und all seinen Bürgern, sowie die Verachtung aller Juden weltweit – sie werden in Gesprächen selten ausgesprochen, aber sie sind real. Vielleicht könnte man diese Stimmung eine Weile ignorieren. Die Ruhe und die hohe Lebensqualität in der Schweiz sind tatsächlich verführerisch. Doch hinter der ruhigen Fassade brodelt es gewaltig. Fast alle sind jetzt überzeugt, dass Israel der Bösewicht, der Angreifer, der Täter und der Schuldige ist.

Will ich in einem Land leben, in dem die alten Lügen vom „Juden als Brunnenvergifter“ wieder salonfähig sind? In einem Land, in dem man – in dem mein Volk – gehasst wird?
Dann vielleicht doch lieber Krieg?


Am Freitag geht mein Flug. Bis dahin kann ich es mir noch überlegen – und die Normalität geniessen.