Meine Sommerferien in der Schweiz rücken näher! Noch zwei Wochen! Ich freue mich, zähle die Tage. Ich sehne mich danach, meine Familie wiederzusehen, durch Schweizer Städte zu bummeln, zu Wandern – und vor allem: endlich für einige Tage die Last der Gedanken ablegen zu können, die sich in Israel rund um die Uhr um die elende Sicherheitslage drehen. Natürlich wird der Krieg in Israel nicht innehalten, nur weil ich nicht vor Ort bin. Doch die Leichtigkeit der Schweiz ist ansteckend. Nach einigen Tagen gelingt es mir meist, abzuschalten und einfach die Schweizer "Normalität" zu geniessen.
Leider überschattet ein nagendes Unbehagen meine Vorfreude. Ich weiss, dass ich in Europa etwas begegnen werde, das mir Angst macht. Pro-Palästina-Demos und steigender Antisemitismus sind das eine, von ihnen werde ich mich hoffentlich fernhalten können. Doch das ist nur die Oberfläche. Das eigentliche Problem sitzt tiefer. Es sind die harmlos klingenden Floskeln, die mich fassungslos machen.
"Ach, weisst du, Politik interessiert mich nicht. Ich verstehe diese ganzen Kriege wirklich nicht, der Nahost-Konflikt ist ja auch sooo komplex."
Fast immer stecken dahinter weiterführende Gedanken:
Der Konflikt ist komplex –
- aber was sollen die Palästinenser tun, wenn ihnen immer mehr Land weggenommen wird?
- die Hamas mögen Terroristen sein, aber die jüdischen Siedler sind auch militant.
- aber der Krieg dort unten dauert schon Jahrzehnte. Die Gewaltspirale muss endlich durchbrochen und es müssen Verhandlungen auf Augenhöhe geführt werden.
- aber der 7. Oktober ist jetzt 21 Monate her, das muss doch mal ein Ende haben.
- aber Vierzigtausend ermordete palästinensische Kinder — ist das wirklich noch verhältnismässig?
- aber man muss doch wohl Israel kritisieren dürfen, ohne gleich Antisemit zu sein.
- aber hätten ausgerechnet die Juden nicht aus der Vergangenheit lernen sollen?
Meist hüten sich die höflichen Schweizer, mir gegenüber so etwas auszusprechen. Und wenn sie es manchmal doch tun – was kann man solchen Plattitüden entgegnen? Sie zeugen von totalem Unverständnis und Gehirnwäsche.
Ich weiss, wie die relativierenden Gedanken und ihre Steigerungsform, der Israelhass, zustande kommen: Jeder Schweizer Bürger bekommt seit Jahren ein feines stetiges Tröpfchen Anti-Israel-Propaganda verabreicht. Es reicht, hin und wieder eine Zeitung aufzuschlagen oder beim Autofahren das Radio oder zu Hause den Fernseher laufen zu lassen. Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Tröpfchen-Dosis noch beachtlich aufgedreht worden. Für Involvierte ist die offensichtliche Desinformation empörend, doch auf alle Anderen wirkt die Meinungsmache unaufhaltsam. Schafft einen moralischen Nebel, in dem Täter und Opfer, Angreifer und Verteidiger unkenntlich werden.
Aber ich lebe in diesem Land, das im Mittelpunkt aller Newsticker steht. Ich lebe in diesem Land, das im Nahen Osten seit Jahrzehnten um sein Überleben ringt und sich dabei noch rechtfertigen muss. Ich höre die Sirenen, ich lese täglich die Namen der Toten, ich kenne unzählige Menschen, deren Leben in Trümmern liegt. Ich weiss ein oder zwei Dinge über die Hintergründe. Und mir bangt und graut davor, wie die Realität in Europa ignoriert, verdreht, nicht verstanden oder nicht geglaubt wird.
Die Ausmasse der gegenwärtigen Anti-Israel-Propaganda lassen sich mit der antisemitischen Hetze im dritten Reich durchaus vergleichen. Wir sind (noch) nicht so weit, dass Juden wieder versteckt werden müssen – doch wir sind so weit, dass sich Juden in Europa nicht mehr sicher fühlen. Genauso wie die Menschen damals irgendwann glaubten, Juden seien "Ungeziefer", glauben viele heute, Israel sei an allem Übel im Nahen Osten schuld, oder bedienen das nicht weniger schlimme "Beide-Seiten"-Narrativ.
Es braucht nur ein tägliches, kaum merkliches Tröpfchen Propaganda – damals wie heute.
Übertreibe ich? Ich glaube nicht. Mein Leben in Israel, der Krieg, die ständige Bedrohung, all das beschäftigt mich Tag und Nacht. Ich kann nicht behaupten, dass ich dafür kein Verständnis bekomme, doch ich verzichte gerne auf das Mitgefühl, wenn mein Volk – und damit ich – im gleichen Atemzug mit völkermörderischen Milizen und Terroristen in einen Topf geworfen wird. Neutralität mag schön und gut sein, ist aber oft nur ein Deckmantel für Gleichgültigkeit und Ignoranz.
Doch damals wie heute gibt es in dieser Zeit des moralischen Zusammenbruchs eine kleine Minderheit, die unbeirrt weiss, was richtig ist. Einige wenige, die verstehen, dass Israel dieselben freiheitlichen und demokratischen Ideale verkörpert, die auch ihre eigene Gesellschaft tragen. Menschen, die sich mit Israel solidarisch fühlen, weil sie wissen, dass Israel für den Westen den Krieg gegen die Barbarei ausfechtet. Die wissen, dass uns freiheitliche Werte nicht in den Schoss fallen, sondern dass sie seit Jahrhunderten erkämpft worden sind und dass man weiterhin für sie einstehen muss. Menschen, die die Geschichte gut genug kennen, um zu wissen, dass das Judentum die Wurzel des Christentums ist – und dass ein Baum ohne Wurzeln nicht bestehen kann.
Kann ich es jemandem zum Vorwurf machen, nicht zu wissen, worum es geht? Wie bewahrt man sich eine eigene, unabhängige Sicht trotz Manipulation?
Und was ist mit mir? Lebte ich in der Schweiz, zu welcher Seite würde ich gehören?
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