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Donnerstag, 19. Juni 2025

Im Keim erstickter Optimismus

Der Wecker weckt mich nach fast sieben Stunden ununterbrochenem, süssem Schlaf. So viel und gut schlafen oft nicht einmal Menschen in friedlicheren Regionen. Der Tipp, nachts das Handy auf Flugmodus zu stellen, ist Gold wert. So schweigt mein Telefon auch während den Vorwarnungen nach Mitternacht, auf welche in unserem Dorf prompt kein Sirenenalarm folgt. Die Alarme in den Nachbardörfern höre ich dank des geschlossenen Fensters auch nicht.

Gestern war es tagsüber relativ ruhig und schon stellt sich bei mir heute Morgen ein vorsichtiger Optimismus ein. Die Anweisungen des israelischen Zivilschutz-Kommandos sind leicht gelockert worden, Zusammenkünfte von bis 30 Personen sind wieder erlaubt, die Schulen bleiben jedoch weiterhin geschlossen.

Nach einigen Tagen Pause vom Sport fahre ich kurz nach 6 Uhr dreissig zum CrossFit-Training im Nachbardorf. Die Sonne ist schon vor einer Stunde aufgegangen, aber der Horizont präsentiert sich noch in leuchtendem Rosa und Hellblau. Das Radio spielt ein mitreissendes israelisches Lied, ich drehe die Lautstärke auf und singe mit. Es ist das erste Mal seit Tagen, dass ich unser Dorf verlasse. Ich bin in bester Stimmung und fast bereit, die Aussage betreffend meiner Liebe zu Israel aus meinem letzten Blogbeitrag zurückzunehmen. Wenn das alles war, denke ich schon fast übermütig und vielleicht ein bisschen naiv, war es auszuhalten.

Um Punkt 7 Uhr beginnt der CrossFit-Trainer das heutige Training zu erklären. Um 7:02 schrillen in wunderbarer Koordination alle zur Seite gelegten Handys: Vorwarnung! Wir müssen uns in die Nähe eines Schutzraumes begeben. Der nächste Bunker liegt zwei Strassen entfernt. Wir sind zwar sportlich, aber jetzt gerade hat keiner der Trainierenden Lust auf einen 700-Meter-Sprint. So fahren wir mit den Autos zum öffentlichen Schutzraum des Quartiers. Die Hartnäckigen unter uns führen auf dem Rasen vor dem Bunkereingang unbeirrt das Aufwärmprogramm fort: Hampelmänner, Kniebeugen, Rumpfbeugen. Die Alarmsirenen erlösen uns, jetzt ist es Zeit, in den unterirdischen Bunkerraum hinunterzusteigen.

Etwa dreissig Menschen drängen sich zu dieser frühen Stunde in den 30 Quadratmeter grossen fensterlosen Raum. Jemand hat vorgesorgt, Matten liegen auf dem Boden, es gibt wenige Sitzmöglichkeiten, Wasserflaschen, einen Ventilator. Das Quartier am Dorfrand ist bei Joggern beliebt und so stossen weitere schwitzende Menschen in Sportkleidung zu uns. Den Bewohnern des Quartiers scheint die Abwechslung willkommen zu sein, sie mustern uns aufmerksam. Nur eine religiöse Frau hebt ihre Augen keinen Augenblick von ihrem Gebetbuch. Ein älteres Paar sitzt in einer Ecke auf ihren mitgebrachten Campingstühlen. Sie schwelgen mit geschlossenen Augen in Erinnerungen an bessere Zeiten. Man sieht den Schutzsuchenden an, dass sie aus dem Schlaf gerissen worden sind. Ein sehr umsorgter Junge liegt in einem Liegestuhl und wird von den Eltern sorgfältig zugedeckt, um den ungerechten Schlafunterbruch so angenehm wie möglich zu gestalten. Zwei arabische Gartenarbeiter fühlen sich vielleicht etwas deplatziert, aber keiner beachtet sie. Einige Hunde drücken sich beunruhigt an ihre Besitzer. Ein gutgelauntes Baby freut sich über den unerwarteten Ausflug mit seinem Vater, es lacht uns alle an. Ich setzte mich auf den Boden. Von draussen sind starke Booms vernehmbar.

Eine Viertelstunde später steigen wir nach oben und fahren zurück zum Trainingsraum. Wir schütteln die verwirrenden apokalyptischen Gefühle von uns ab und einigen uns auf ein verkürztes Training für die verbleibende halbe Stunde. Die Nachrichtenjunkies unter uns gucken jedoch zuerst in ihre Handys. 

Einige der Raketen trafen zivile Ziele, andere verfehlten oder konnten abgeschossen werden. Die eingeschlagenen Raketen haben große Zerstörungen zufolge. Es gab Einschläge in Wohn- und Geschäftsvierteln in Holon und Ramat Gan und vor allem wurde das Soroka-Krankenhaus in Berscheba direkt getroffen. Mindestens 60 Menschen wurden verletzt, das Krankenhaus muss evakuiert werden. 




Erst später, im Laufe des Tages, merke ich, wie sehr mir der Schrecken dieses Morgens in den Gliedern sitzt. Ich versuche zu arbeiten, bin aber vollkommen unkoordiniert und vergesslich. Nur Schmerztabletten verschaffen mir etwas Linderung gegen die verspannten Glieder.

In dem ganzen Chaos gibt es auch einige erfreuliche Nachrichten: Eine Freundin konnte mit ihren zwei Kindern Plätze auf einem Passagierschiff nach Israel ergattern. Wegen der Flugsperre ist die Familie vor einer Woche in Rumänien stecken geblieben und dann nach Zypern geflogen. Sie befinden sich in diesen Stunden auf der Heimreise.

Ach Israel! Wo sonst noch lassen sich Tausende auf Wartelisten setzen, um mit Rettungsflügen und -Schiffen in ein Land gebracht zu werden, in welchem mehrmals täglich lebensbedrohliche Raketen einschlagen? 



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